Die Freiheit, die sie meinen

Ein Artikel von Jens Wernicke

Das Bundeskabinett hat grünes Licht für den weiteren Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan gegeben und ein deutscher Dreisterne-General wird in den Medien mit “Ich bin froh, dass ich in Afghanistan bleiben kann“ zitiert. Froh, im Krieg zu sein? Froh, unser aller „Freiheit“ am Hindukusch zu verteidigen? Was genau meint er damit – und was geschieht wirklich vor Ort; jenseits dessen, was uns Politik und Medien glauben machen wollen? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit dem Auslandsjournalisten und Träger des Otto-Brenner-Preises für kritischen Journalismus Marc Thörner.

Herr Thörner, wir hören immer wieder, unser aller Freiheit würde auch am Hindukusch verteidigt. Deutschland müsse um der Menschenrechte willen dort „Verantwortung“ übernehmen und demokratisierend wirken. Die Friedensbewegung im Land hält dem vor allem entgegen, dass mittels deutscher Auslandseinsätzen vor allem die vermeintlichen Segnungen des Marktes in andere Länder exportiert würden – und dass es um Menschen und deren Rechte dabei am allerwenigsten ginge. Sie waren vor Ort und haben zum Thema inzwischen mehrere Bücher geschrieben. Wie beurteilen Sie die Situation?

Meine Beobachtungen habe ich in Afghanistan angestellt, in Masar-e-Sharif, vor allem aber in Kundus, und zwar auf beiden Seiten: Bei der Bundeswehr und der afghanischen Zivilbevölkerung. Ob es bei Auslandseinsätzen um großangelegte ideologische Zielsetzungen wie etwa die Ausweitung oder den Schutz eigener Märkte geht, fällt mir insofern schwer zu beurteilen.

Das offizielle Mandat der ISAF besteht darin, die Zivilbevölkerung zu schützen und ihr beim Aufbau des Landes zu helfen. Deutschland führt dabei das ISAF-Regionalkommando Nord. Die Bundeswehr ist aber, wie auch die anderen ISAF-Partner, diesem offiziellen Auftrag eigentlich niemals nachgekommen.

Das liegt zum einen wohl an der schwerfälligen Bürokratie der Provinzwiederaufbauzentren (PRT’s), der Verwirrung um Zuständigkeiten zwischen Hilfsprojekten der Bundeswehr selbst (CIMIC), des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungshilfeministeriums; und aber auch daran, dass die Genehmigungsprozesse für die Aufbauprojekte zu lange Zeit in Anspruch nehmen. Für die Afghanen war das Prozedere zu undurchsichtig. Zudem wurden die Verantwortlichen in den PRT’s nach wenigen Monaten wieder ausgetauscht. Eine Kontinuität ließ sich so nicht erreichen. Und zum anderen bestand das erste Ziel der Bundeswehr nie im Schutz der Zivilbevölkerung, sondern vor allem im Schutz der eigenen Truppe.

Die gewohnten Rollen des Zivilisten und des Soldaten sind dabei mehr und mehr abhanden gekommen. Der Afghanistan-Einsatz hat einen Paradigmenwechsel evoziert. Was wir noch immer verinnerlicht haben, was sich in Europa nach dem 30-jährigen Krieg herauskristallisiert hat und was sich durch die Ikonographie der Uniform und der Zivilkleidung ausdrückt, das gilt heute nicht mehr. Heute haftet oft der Zivilist – zugegeben: der in der Regel nichtwestliche Zivilist – mit seinem Hab und Gut sowie Leib und Leben für das Wohlergehen des auch deutschen Soldaten.

Man kann es auch so ausdrücken wie der Politologieprofessor und Autor Herfried Münkler. Er ist zurzeit bei Politikern und Think Tanks einer der gefragtesten Ratgeber. Münkler konstatiert zunächst, dass die Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr bereit sind, ihre Soldaten für außenpolitische Ziele sterben zu lassen.
Dieses Phänomen beurteilt er als zivilisatorischen Schritt nach vorn, nämlich als Kennzeichen einer entwickelten, eine „postheroischen Gesellschaft“. Um ihre Interessen dennoch wahrzunehmen, muss die postheroische Gesellschaft auf militärische Mittel zurückgreifen, bei denen für sie nur noch wenige oder keine Risiken mehr entstehen.

Auf der anderen, sozusagen auf der gegnerischen Seite verortet Münkler die heroische Gesellschaft. Also eine Hemisphäre, in der die Menschen noch bereit sind, für ihren Glauben und ihre Ideale mit dem Leben einzustehen. Stichwort: Dschihad. Selbstmordattentäter. Das Problem ist nur: Kinder, Halbwüchsige, überhaupt alle Bewohner der heroischen Hemisphäre, die zufällig in die Schusslinie der ihre Interessen verfolgenden Nichthelden geraten, müssen selbstverständlich damit rechnen, dass sie zu Opfern werden.

Diese Bestandsaufnahme soll offensichtlich neu, tabulos und abgebrüht realpolitisch klingen. Eigentlich greift Münkler damit aber tief in die Mottenkiste, nämlich zu Erklärungsmodellen aus dem Umfeld des 1. Weltkriegs. In seinem Buch „Händler und Helden“ von 1915 stellt der konservative Soziologe Werner Sombart den dekadenten materialistischen Westen – damals repräsentiert von Deutschlands Gegnern unter Führung der „Händlernation“ England – den kampfwilligen, idealistischen Deutschen gegenüber, die in seinen Augen noch bereit sind, für das zu sterben, woran sie glauben. Anders als Sombart, verortet Münkler nun aber offensichtlich den Erfolg nicht bei den Heroen, sondern bei den Postheroen.

Die Art, die Menschheit anhand solcher Begriffe einzuteilen, passt allerdings sehr gut zu einer Militär- und Außenpolitik, die sich ebenfalls wieder der Werkzeuge des frühen 20. Jahrhunderts bedient.

An welche denken Sie da?

Man stabilisiert im „Einsatzland“ Anachronismen, weil sie angeblich kulturell und religiös bedingt und daher unabänderlich seien. Man stellt Stammeschefs, Kriegsherren religiöse Autoritäten in den Dienst der eigenen Sache, lässt sie Landstriche kontrollieren und Hilfstruppen ausheben, die man dann bezahlt, damit die eigenen Soldaten weniger Risiken eingehen müssen.

Erstaunlicherweise wird über diesen Anachronismus aber kaum debattiert…

Ja, stattdessen aber umso mehr über militärisches Gerät und Posttraumatische Belastungsstörungen von Militärs, die aus Afghanistan zurückkommen. Dabei handelt es sich zwar sehr wohl um wirklich ernst zu nehmende Probleme und Beschwerden. Die Situation dieser im Vergleich sehr wenigen Soldaten steht jedoch in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den dieser Bundeswehreinsatz bei einer zahlenmäßig ungleich größeren Menge afghanischer Zivilisten anrichtet, nach Münkler‘scher Definition, eben den Bewohner der heroischen Weltgegend, die ja nicht minder traumatisiert oder gar getötet werden.

Welche Schäden meinen Sie da konkret?

Insbesondere seitdem ab ca. 2008/ 2009 in Afghanistan unter Führung der US-Armee die Doktrin der Aufstandsbekämpfung umgesetzt wird, hilft auch die Bundeswehr nicht mehr beim Nation Building. Vielmehr geht es um kurzfristig angelegte Stabilität und geordneten Rückzug. Um dieses neue Ziel ohne eigene Verluste zu erreichen, sourcen die NATO- und ISAF-Truppen Sicherheitsaufgaben zunehmend aus und fördern die Aufstellung irregulärer Verbände – geführt oft von Haudegen aus dem 30-jährigen afghanischen Krieg, im Klartext also: Verbrechern, Killern und Plünderern.

Verschärfend kommt auch noch das ethnische Element hinzu. Die Taliban sind in der Regel Paschtunen; zum Kampf gegen sie melden sich daher überwiegend Tadschiken und Usbeken. Aus Nation Building ist daher inzwischen vor allem ein grausames Teile und Herrsche geworden, das mit dem gezielten Einsatz ethnischer und religiöser Differenzen einhergeht, mit anderen Worten also ein Nation Unbuilding.

Wie muss ich mir derlei Handeln durch deutsche Soldaten konkret vorstellen?

Als eklatanten Widerspruch zwischen dem, was der Bundeswehr politisch durch Regierung und Parlament vorgegeben wird, nämlich beim Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat zu helfen, und dem, was sie vor Ort tatsächlich tut.

Im Oktober und November 2010 fand beispielsweise im Raum Kundus die Operation „Halmazag“ statt, übersetzt: „Blitz“. Es war die erste deutsch geführte Offensivoperation nach dem 2. Weltkrieg statt, ebenfalls erstmals nach 1945 mit massivem Einsatz schwerer deutscher Artillerie. Die Taliban sollten verdrängt werden, damit – lehrbuchmäßig – die drei Phasen der Aufstandsbekämpfung hätten durchgeführt werden sollen: Clear, Hold und Build. Das heißt, nach der gewalttätigen Sicherung des Geländes sollten dort Herzen und Köpfe der Bevölkerung durch Infrastrukturmaßnahmen gewonnen werden. Das Gegenteil wurde jedoch erreicht. Und zwar aus zwei Gründen…

Erstens, weil in der Clear-Phase schwere Waffen, insbesondere schwerer Artillerie in einem Gelände eingesetzt wurden, in dem sich zahlreiche Zivilisten aufhielten. Der Grund war: Einige Hundert deutsche, US-amerikanische, belgische und afghanische Soldaten sollten vor Taliban-Beschuss geschützt werden. Die Bundeswehr trug aber nicht ausreichend dafür Sorge, die afghanische Zivilbevölkerung zu warnen. Außerdem wäre es dieser zu großen Teilen auch gar nicht möglich gewesen, die Häuser zu verlassen. Angehörige und Dorfälteste haben eine Liste von mindestens 18 zivilen Toten zusammengestellt, zu denen die Bundesregierung bis heute Ermittlungen und Recherchen verweigert. Aus den Dorfversammlungen sei, so die Begründung, damals von solchen Fällen schließlich nichts zu hören gewesen. Die afghanischen Beteiligten stellen das jedoch ganz anders dar. Worauf das Verteidigungsministerium dann erwidert, von den entsprechenden Schura-Versammlungen seien leider keine Protokolle angefertigt worden.

Zweitens gibt es seit Anfang 2010 eine klare Weisung [PDF – 978 KB] des Verteidigungsministeriums, auf keinen Fall mit solchen Milizen zusammenzuarbeiten, die ohne Auftrag des afghanischen Innenministeriums agieren.

Keine Kooperation also mit selbst ernannten Hilfs-Sheriffs, die ihr Geld bei der Bevölkerung eintreiben – das war und ist auch Konsens bei den zuständigen Ministern der Bundesregierung, bei den politischen Parteien und im Parlament. Der Kommandeur der Task Force Kundus tat jedoch genau das, was ihm untersagt war und bezog fortan gerade solche Milizen als ein entscheidendes Element in seine Planungen mit ein – und der Oberkommandeur des deutsch geführten Regionalkommandos Nord segnete diese Planung schließlich ab.

Hätten Sie auch hierzu bitte ein Beispiel parat?

Beispielsweise haben mir Bundeswehroffiziere vor Ort beschrieben, wie sie bei der Rekrutierung und Bezahlung der CIP halfen, einer nicht uniformierten Hilfspolizei, die wegen ihrer Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung berüchtigt war. Nach 2013 wurden die CIP-Verbände deshalb auch wieder aufgelöst. Es gibt Fotos: Ein deutscher Offizier sitzt an einem Schreibtisch und erfasst Rekruten der CIP. Andere schilderten mir, wie sie für die irreguläre Afghan Local Police (ALP) Stellungen ausbauten. Auf parlamentarische Anfragen [PDF – 492 KB] zu diesem Thema hin antwortete die Bundesregierung jedoch stets: Deutsche Stellen beteiligten sich nicht an Aufstellung und Ausrüstung der CIP und der ALP.

Und nach der beschriebenen Operation Halmazag übergaben Bundeswehrsoldaten schließlich die von ihnen gesicherten Ortschaften an die Banden zweier Verbrecher: Nawid und Sayed Hossein. Nawid war zu diesem Zeitpunkt bereits ein von der afghanischen Polizei per Haftbefehl gesuchter Auftragsmörder, der sich dafür bezahlen ließ, Blutrache zu vollziehen oder unliebsame Konkurrenten seiner Geldgeber aus der Welt zu schaffen. Und auch Sayed Hossein ist als ein notorischer Killer bekannt. Nach Angaben des Dorfältesten und von Einwohnern der betroffenen Dörfer, plünderten die beiden dann tagelang die Gegend und misshandelten die Einwohner. Der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg wurde noch während der laufenden Offensive in alle Einzelheiten eingeführt. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schilderte man später bei einem Besuch vor Ort die ganze Operation als Erfolgsmodell. Von beiden verlautete jedoch keinerlei Kritik. Und Nawid und Sayed Hossein kontrollieren bis heute noch Teile der Provinz Kundus. Der Provinzgouverneur räumt zwar ein, dass es sich um Verbrecher handele, sieht aber derzeit keine Alternative, zu diesen erfahrenen Kriegern, um den Taliban wirkungsvoll Widerstand entgegenzusetzen.

Die Langzeitfolgen dieser Entwicklungen sind dabei bereits offenkundig fatal: Große Teile der Bevölkerung haben sich bereits von der Regierung abgewandt und die 2010 militärisch „gesicherten“ Gebiete sind inzwischen wieder an die Taliban verloren gegangen.

Bei meinem letzten Aufenthalt in Kundus im Sommer 2014 bin ich durch einige Dörfer gefahren. Der Tenor bei Gesprächen dort war stets: Wir sind zwischen zwei Mühlsteinen, den Taliban und den Milizen-Banden. Beide sind schlimm, aber die Taliban haben wenigstens ein Weltbild und halten sich an ein, zwei Regeln. Die „regierungsfreundlichen“ Milizen hingegen sind nur Verbrecher, die für Geld alles tun.

Von „Sympathiegewinnen“ für die vermeintlichen Befreier kann also keine Rede sein?

Nein, ganz im Gegenteil. Und außerdem verändert sich zunehmend das Verständnis von Krieg – und zwar ebenfalls zum Schlimmeren, wo Soldaten – also die bezahlten und gut ausgebildeten Profis der Sicherheit – die Risiken von Einsätzen mehr und mehr Zivilisten überlassen. Hier entsteht gerade eine Art Kaste der Privilegierten, an denen nur noch die Kleidung, die Uniform, romantische Reminiszenzen an Gefahr, Aufopferung und Todesbereitschaft weckt. De facto handelt es sich aber mehr und mehr um beamtete Logistikexperten im Auslandseinsatz, die von unausgebildeten lokalen Kämpfern kostengünstig geschützt werden, denen sie wiederum dafür die Mittel liefern, wodurch Befriedung mehr verhindert denn möglich gemacht wird.
Zwar kann natürlich immer noch „Unfälle“ geben und einzelne Soldaten können sterben. Gerechnet wird damit aber nicht mehr. Diejenigen, die heute vor allem im Interesse deutscher Außenpolitik sterben, stammen inzwischen vielmehr aus rasch zusammengewürfelten Banden arbeitsloser junger Männer, deren Anführen man Geld gibt oder durch das Versprechen von Infrastruktur ködert.

Und natürlich sind es immer wieder auch Zivilisten. Oft werden gerade sie zu Opfern eben solcher Banden, die schließlich keinem Parlament Rechenschaft schulden. So etwas brutalisiert und verheert Gesellschaften und nimmt ihnen auf absehbare Zeit die Chance, sich zu Zivilgesellschaften zu entwickeln. Um mit Herfried Münkler und in seiner Syntax zu sprechen: lässt sie eben „heroisch“ bleiben bzw. zwingt sie sogar hierzu. Das jedoch kann und darf nicht Weg der deutschen Außenpolitik bleiben und sein.


Marc Thörner: Bundeswehr kooperiert mit Warlords und Arbaki-Milizen


Marc Thörner, Jahrgang 1964, war von 1995 bis 2007 Auslandsreporter für die ARD und ist aktuell als freier Journalist mit Arbeitsschwerpunkten Maghreb, Golfstaaten, Irak, Pakistan und Afghanistan tätig. Buchveröffentlichungen unter anderem: „Der falsche Bart. Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror“, „Afghanistan-Code. Reportagen über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie“ und „Ein sanfter Putsch. Wie Militärs Politik machen“. 2009 erhielt Marc Thörner den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus.

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