Pluralisierung der Ökonomik
Mit den wirtschaftlichen Krisen seit 2007/2008 ist die Wirtschaftswissenschaft (Ökonomik) zunehmend in die öffentliche Kritik geraten. Immer öfter werden dabei inzwischen auch kritische Stimmen aus der Ökonomik selbst laut und wahrgenommen. Kursorisch dafür seien genannt:
- der 2009 im Handelsblatt publizierte Beitrag von Christoph Gran vom Netzwerk Plurale Ökonomik „Wirtschaftswissenschaft droht der Absturz“;
- die Diskussion um den Zustand der ökonomischen Lehre im Spiegel (Olbrisch und Schießl 2011);
- das Memorandum besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für eine Erneuerung der Ökonomie (MeM-Denkfabrik für Wirtschaftsethik 2012);
- der offene Brief, mit dem sich das Netzwerk Plurale Ökonomik im Jahre 2012 an den Verein für Socialpolitik (VfS) – der Standesvereinigung der deutschen Volkswirte – wandte;
- die Rede von Gustav Horn auf der Eröffnungsveranstaltung des Vereins für Socialpolitik 2014 (Horn 2014).
Interessant ist, dass die Initiative für einen Kurswechsel in der Wirtschaftslehre zunehmend von Studierenden ausgeht. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an einem offenen und zudem internationalen Brief vom Mai 2014 von Studierenden (International Student Initiative for Plural in Economics, kurz: ISIPE, 2014).
Angesichts der steten Regelmäßigkeit, mit welcher derlei Kritiken vorgetragen werden, werden viele Menschen, die nicht Ökonomik studiert haben, womöglich den Eindruck gewinnen, dass sich hier gar nichts bewegt. Oder warum sonst taucht die Kritik an der VWL immer wieder auf?
Eine Analyse von Sebastian Thieme und Jens Wernicke.
Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass die inner-ökonomische Diskussion zu Verkürzungen neigt, die dann von jeder Seite her als unberechtigt zurückgewiesen werden. Das hat zur Folge, dass die vorherrschende ökonomische Lehre keinen Grund für Veränderungen sieht und dies auch nach außen kommuniziert, was wiederum die Kritik an der VWL weiter nährt und forciert. Es ist ein ewiges Spiel.
Worin diese Verkürzungen liegen, darauf werden wir im Folgenden eingehen. Doch zunächst erst einmal zum Hintergrund der Kritik des offenen Briefes der Internationalen Initiative zur Pluralisierung der Ökonomik.
Internationale Initiative zur Pluralisierung der Ökonomik
Im Mai 2014 wendete sich eine internationale studentische Initiative an die Öffentlichkeit und forderte die Pluralisierung der Ökonomik (ISIPE 2014). In Deutschland wird diese Initiative unter anderem vom Netzwerk Plurale Ökonomik getragen, das seit 2003 existiert und von dem im Kontext der Krisen seit 2007/2008 auch immer wieder in der Presse zu lesen war. Unterstützt wurde und wird die Initiative jedoch auch von namhaften Ökonominnen und Ökonomen wie Thomas Piketty, Sheila Dow, James Galbraith, Geoffrey M. Hodgson, Tony Lawson und Steve Keen. Heute kooperieren 65 studentische Organisationen und haben inzwischen über 2.500 Personen aus über 100 Ländern den offenen Brief unterzeichnet, darunter auch Ökonominnen und Ökonomen aus dem deutschsprachigen Bereich wie Frank Beckenbach, Silja Graupe, Gustav Horn, Sigrid Stagl, Walter Ötsch oder Peter Ulrich.
Im Kern zielt der offene Brief der Initiative auf einen Kurswechsel in der Wirtschaftswissenschaft ab, der drei Formen von Pluralität beinhalten soll:
- Methodischer Pluralismus: Kritisiert wird hier die Konzentration auf Mathematik und Statistik bzw. quantitative Verfahren, die weitestgehend unreflektiert angewendet werden. Stattdessen sollen auch Verfahren aus anderen Sozialwissenschaften gelehrt werden (damit sind unter anderem Diskurs- und Netzwerkanalysen, Befragungen und Gruppendiskussionen gemeint).
- Theoretischer Pluralismus: Das meint, es soll Platz geschaffen werden für verschiedene Ansätze und „eine lebendige, intellektuell reichhaltige Debatte“. Genannt werden dazu unter anderem klassische, post-keynesianische, ökologische und feministische Ansätze, von denen in der ökonomischen Lehre derzeit keine Spur zu finden sei. Konsequent wird deshalb gefordert, wissenschafts- und erkenntnistheoretische, philosophische und vor allem auch ideengeschichtliche Inhalte in die ökonomische Lehre mit zu integrieren.
- Interdisziplinarität: Innerhalb des Studiums sollen die Studierenden sich auch mit anderen (benachbarten) Sozial- und Geisteswissenschaften beschäftigen können, um ökonomische Phänomene im gesamten sozialen Kontext zu verstehen. Auch das ist in der aktuellen Lehre, wenn überhaupt, so nur sehr begrenzt möglich.
Die etablierten Ökonominnen und Ökonomen reagieren auf solche Kritik sehr häufig beschwichtigend und ausweichend. Alles wäre halb so schlimm, viele Kritikpunkte seien längst in der Ökonomik angekommen und überhaupt erwiesen sich die meisten als haltlos. Vereinzelt entsteht sogar der Eindruck, dass absichtlich Missverständnisse in Kauf genommen werden, um ernsthafte Auseinandersetzungen zu vermeiden. Beispielhaft dafür sind die „Replik“ von Axel Dreher auf den erwähnten offenen Brief sowie die Reaktion des Ökonomen Rüdiger Bachmann auf die Frage der Studierenden Olbrisch und Schießl „Warum bringt uns keiner Krise bei?“ (beides im Spiegel abgedruckt).
Wird der Unwille zur sachlichen Auseinandersetzung, der hinter so mancher Antwort liegt, einmal außen vor gelassen, verbleiben viele Punkte, in denen die Diskussion um die Situation der Ökonomik zu Verkürzungen neigt, und die deshalb einer Klarstellung bedürfen, da sonst weiterhin nur – auch und insbesondere „in der Sache“ – aneinander vorbeigeredet und sich missverstanden wird.
Methodischer Pluralismus: Differenzierte Kritik an der Mathematik in der Ökonomik
Die etablierten Vertreterinnen und Vertreter der vorherrschenden Ökonomik scheinen die Kritik der VWL hauptsächlich als kategorische Ablehnung der dort praktizierten Verfahren – Mathematik und Statistik – wahrzunehmen. Entsprechend gehen sie dann häufig in einen Verteidigungsmodus über. Doch wer die mathematische Ökonomik gegen Kritik verteidigen möchte, sollte zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die mathematischen Verfahren natürlich auch in der Heterodoxie – den (kritischen) Bereichen abseits der vorherrschenden Wirtschaftslehre – breit akzeptiert sind. Viele heterodoxe Strömungen wie zum Beispiel die Arbeitswertlehre, der Neoricardianismus sowie Teile der Post-Keynesianer arbeiten mit mathematischen Verfahren, so dass es reichlich absurd ist, ihrer Kritik die kategorische Ablehnung der Mathematik in der Ökonomik zu unterstellen. Wenn aber selbst Heterodoxe mathematische Verfahren verwenden, was kritisieren sie dann eigentlich an der etablierten mathematischen Ökonomik?
Sie kritisieren zum einen die unreflektierte Verwendung mathematischer Verfahren, das meint, dass die Grundsatzdiskussionen in der Mathematik – die für ihren Einsatz in der Ökonomik eigentlich zu beachten wären – unberücksichtigt bleiben (siehe beispielsweise Pirker und Rauchenschwandter 2009). Zum anderen aber auch, dass zu wenig über den Geltungsbereich der mathematischen Verfahren und deren Angemessenheit reflektiert wird (Claus Peter Ortlieb in der FAZ). Und auch eine Einseitigkeit bezüglich der Vermittlung und Verwendung mathematischer Verfahren lässt sich kritisieren (Fokus etwa auf Differential- und Integralrechnung statt auf Matrizen-Algebra, die unter anderem für die Neoricardianische Schule notwendig ist).
Zudem muss generell gefragt werden, ob nicht auch ein Punkt existiert, ab dem die Komplexität der mathematischen Verfahren und Modelle Ausmaße annimmt, dass die Ergebnisse kaum mehr zielführend zu interpretieren sind. Oder ökonomisch gefragt: Ab wann nimmt der Grenznutzen der Komplexität von mathematischen Verfahren ab? Eine berechtigte Frage, wenn etablierte Ökonominnen und Ökonomen nicht müde werden, auf die Notwendigkeit komplexer Mathematik hinzuweisen: „Die VWL der Zukunft werde mehr und komplexere Mathematik brauchen, nicht weniger“, schrieb etwa Rüdiger Bachmann im Spiegel. Was aber nützen uns komplexe Modelle, wenn sie keiner mehr zu erklären und kommunizieren vermag? Wird dann nicht Dritten eine Art „Glauben“ abverlangt, der mit Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung unvereinbar ist? Und sind dann nicht gerade bei derlei Verfahren Tür und Tor offen für Missbrauch etc. Frei nach der Devise: Wie machen wir die Formel halt so komplex, dass das herauskommt, was wir wollen – verstehen kann es ja eh niemand mehr?
Die differenzierte Kritik an der Verwendung mathematischer Verfahren in der Ökonomik sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten lassen, dass auch gute Gründe für eine grundsätzlich skeptische Haltung existieren. Das meint etwa der Mathematiker und Ökonom Tony Lawson, der in seiner viel diskutierten Kritik darauf betont, dass die mathematischen Verfahren der etablierten Ökonomik prinzipiell ungeeignet für die Analyse sozialer Phänomene seien (Lawson 2013, 2005, 1997). Solche Positionen erscheinen angesichts der breiten Akzeptanz mathematischer Verfahren geradezu unerhört radikal. Denn wer kann sich heute noch eine Ökonomik ohne Mathematik vorstellen? Doch genau mit dieser Haltung sind schwerwiegende Probleme verbunden. Denn die breite Akzeptanz der Mathematik in der Ökonomik sorgt dafür, dass jene, die nicht mathematisch arbeiten, also andere (!) wissenschaftliche Verfahren verwenden, mit einem Bein außerhalb der Ökonomik wenn nicht gar Wissenschaft gestellt werden. Davon betroffen ist beispielsweise die Beschäftigung mit wirtschaftsethischen Fragen. Die interessierten Leserinnen und Leser dürfen darin einen der Gründe sehen, warum essentiell ethische Fragen des Wirtschaftens – egal ob das die Finanzmärkte, die Einkommensverteilung oder ganz allgemein den Sozialstaat betrifft – im Grunde nicht wirklich angetastet werden. Denn, so die Folge der orthodoxen Logik, das wäre ja „nicht wissenschaftlich“.
Darüber hinaus betrifft dies aber auch Ansätze wie zum Beispiel die Wirtschaftsstilforschung, die Wirtschaftskulturforschung (Quelle: Klump 1996) sowie der Altinstitutionalismus. Ein gutes Beispiel bietet ebenso die ökonomische Ideengeschichte, bei der mathematische Fertigkeiten nicht weiterhelfen, weil es dort stattdessen auf Sprachkenntnisse, Recherche, Textexegese, Archivierung und Archivarbeit sowie allgemeines und historisches Wissen für eigenes Arbeiten ankommt.
Tatsächlich ist also auch eine Wirtschaftswissenschaft denkbar, die ohne oder zumindest mit wenig Mathematik im Gepäck auskäme. Und auch diese könnte verständlich und überaus fruchtbar sein. Kursorisch dafür seien genannt: die Beiträge von Volker Nienhaus (2004, 1997, 1996) zum islamischen Wirtschaften, die Integrative Wirtschaftsethik von Peter Ulrich (2008), die Untersuchungen zur Rolle der Ökonomen in der Finanzkrise und deren „performatives Wirken“ von Katrin Hirte (2013), die bereits in der fünften Auflage gedruckte Darstellung der jüngeren Finanzkrise von Helge Peukert (2013), Walter Otto Ötschs (2009) Abhandlung zur Missbräuchlichkeit des Begriffs „Markt“ (siehe hierzu auch die Rezension von Wolfgang Lieb aus dem Jahr 2009) sowie Friedrun Quaas‘ (2000) Arbeit über die „Wirklichkeit und Verfremdung“ der Sozialen Marktwirtschaft.
Eine nicht mathematische Betätigung innerhalb der Ökonomik ist aber auch deshalb notwendig, weil die Ökonomik mit wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Fragen konfrontiert ist: Welche Annahmen werden für Theorien und Modelle vorausgesetzt? Was ist „Wirtschaft“? etc. Durch diese Fragen werden erstens maßgeblich Fertigkeiten jenseits der Mathematik abverlangt. Und sind diese Fragen zweitens nicht abschließend zu klären, sondern müssen immer wieder – im Kontext etwa neuer Erkenntnisse und Entwicklungen – aufgeworfen und beantwortet werden. Und drittens sind diese Fragen nicht einfach in andere Disziplinen auslagerbar, ohne dieser Auslagerung die eigene wissenschaftliche Autonomie und Glaubwürdigkeit zu opfern. Oder möchten sich Ökonominnen und Ökonomen etwa beispielsweise von der Philosophie vorschreiben lassen, was sie auf welche Art zu untersuchen haben? Sicher nicht.
Theoretischer Pluralismus: Neues Denken braucht das Land
Der Forderung nach Pluralität wird seitens des Mainstreams entgegengehalten, dass die etablierte Ökonomik doch längst plural sei. Verwiesen wird dazu auf die Vielfalt innerhalb der etablierten Ökonomik. Exemplarisch dafür ist der Beitrag von Axel Dreher, in welchem dieser auf „Vorlesungen über die Ursachen und Konsequenzen von Finanzmarktkrisen, Neuroökonomie, die ökonomischen, politischen und psychologischen Auswirkungen von Terrorismus, und die Geschichte der Umweltökonomie“ verweist. Das klingt zwar vielfältig, ist damit aber auch dem Wunsch nach wirklicher Pluralität genüge getan?
Das lässt sich bezweifeln, da die Vielfalt im Mainstream auf eine „axiomatische Variation“ (Dobusch und Kapeller 2009) bzw. eine „konservative Anpassung“ (Sahlins und Service 1991) zurückgeführt werden kann. Das bedeutet: Auf Kritik wird zwar mit kleinen, schrittweisen Änderungen reagiert, dies geschieht jedoch nur, um Änderungen im großen Stil zu vermeiden. So wird inzwischen etwa zunehmend vom Modell des „Homo Oeconomicus“ abgerückt und es werden unvollständige Informationen, unvollständige Rationalität, multiple Gleichgewichte etc. immer mehr berücksichtigt. Das ökonomische Gedankengebäude erhält auf diese Weise jedoch nur einen neuen Anstrich oder das ein oder andere neue Fenster, während die Grundmauern und strukturen fortbestehen und kein grundlegender Umbau erfolgt. Der Umstand, dass die etablierte Ökonomik nicht mehr stur in eine Richtung schaut, sondern auch auf Themen wie Terrorismus, Umweltökonomie und andere blickt, ändert eben nichts daran, dass immer noch durch ein und dieselbe bekannte Brille geblickt wird. Folge davon ist dann zwar eine breitere, jedoch nach wie vor reduzierte Sicht gesellschaftlicher Realität.
Interdisziplinarität: Wir wollen auch Sozial- und Geisteswissenschaftler sein
Die Studierenden fordern in ihrem offenen Brief auch mehr Interdisziplinarität. Axel Dreher wies diese Forderung mit der Begründung zurück, dass Interdisziplinarität – also das Arbeiten über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus – heute immer mehr zum Selbstzweck verkomme. Mit dieser Beobachtung liegt er zwar richtig, jedoch unterläuft ihm ebenso ein Fehlschluss, so er damit indirekt ein Weniger an Interdisziplinarität anregt. Denn kritikwürdig an der aktuellen Situation ist eben nicht die interdisziplinäre Arbeit an sich, sondern es ist vor allem deren „falsche“ bzw. missbräuchliche Umsetzung. Zu kritisieren wäre also das wissenschaftliche Umfeld bzw. System, das diese Interdisziplinarität als (inhaltsleeres) Werbelabel akzeptiert.
Tatsächlich kann aber echte Interdisziplinarität zu einer Pluralität an Ansätzen und Verfahren führen, weshalb eben diese auch immer wieder von kritischer Seite eingefordert wird. Außerdem könnten so soziale Aspekte, die derzeit von der etablierten Ökonomik vernachlässigt werden, auch als eben solche (statt: rein ökonomische!) Aspekte bei der Analyse berücksichtigt werden. Das gilt umso mehr, als viele gesellschaftliche Phänomene existieren, die zweifelsohne mit Wirtschaft zu tun haben, in der Ökonomik zurzeit jedoch nicht bearbeitet werden und werden können – wie etwa die zunehmende „Ökonomisierung“ der Gesellschaft, institutionelle Anomie, Narzissmus, alternative Wirtschaftsformen und vieles andere mehr.
Außerdem bearbeiten mittlerweile auch andere Disziplinen ökonomische Themen. Wenn Ökonominnen und Ökonomen deren Erkenntnisse ignorieren, kann es sein, dass ihnen ihre angestammten Themen zunehmend abhanden kommen. Zu denken wäre hier etwa an die Marktsoziologie (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung 2014). Wenn in absehbarer Zeit festgestellt werden sollte, dass dort „realistischere“ Vorstellungen vom Markt entwickelt werden als in der Ökonomik, die weiterhin mit ihren künstlichen Markttheoriemodellen arbeitet, könnte es nämlich gut sein, dass die Ökonomik schließlich – und dann berechtigt – das Nachsehen haben wird. Das gilt insbesondere in einer unterfinanzierten und wettbewerblich organisierten Hochschullandschaft, in der Ökonominnen und Ökonomen dann Schwierigkeiten haben dürften, Forschungsmittel zu akquirieren.
In dem internationalen offenen Brief der Studierenden fordern diese aber auch – und auch dies ist ein „interdisziplinärer Ansatz“ –, in der Lehre stärker als bisher die Geschichte des ökonomischen Denkens zu berücksichtigen. Axel Dreher (2014) kann dieser Forderung nichts abgewinnen: In Heidelberg, wo er lehrt, würden schließlich entsprechende Veranstaltungen angeboten. Die Kritik am Mangel an ideengeschichtlichen Inhalten in der Lehre, so wird vermittelt, sei daher unberechtigt. Die Studierenden irren sich oder kennen offenbar nicht ihr eigenes Studienangebot. Das aber – ist selbstredend eine nahezu infame und zudem unwahre Replik. Denn erst 2013 sagte etwa Philip Mirowski, ein international weit beachteter Forscher auf dem Gebiet der ökonomischen Ideengeschichte, in einem Interview: „Es gibt nur noch wenige von uns, die sich ernsthaft mit der Geschichte des ökonomischen Denkens beschäftigen und aus den Universitäten nicht vertrieben worden sind“ (zitiert nach Mejias 2013/ FAZ). Dabei liegt es sozusagen auf der Hand, dass mit dem Verschwinden des Personals auch die (entsprechende) Lehre selbst in Gefahr gerät. Ähnlich darf es wohl auch verstanden werden, wenn mit Bertram Schefold einer der renommiertesten Dogmenhistoriker Deutschlands im Jahre 2009 darum warb, doch mehr Lehrstühle für Ideengeschichte einzurichten. Heute liegt er mit dieser Forderung ganz auf Linie der kritisierenden Studierenden. Wenn diese nun weltweit das Fehlen ideengeschichtlicher Inhalte in der Lehre beklagen, dann sollten auch etablierte Ökonominnen und Ökonomen anderer Spezialisierungen dies nicht einfach als persönliche Befindlichkeit, Einzelfall oder Unkenntnis des Lehrplanes abtun. Denn, nicht nur, aber auch: Damit schneiden sie sich, in Verleugnung der aktuellen hochschulischen Entwicklungen des Faches, ins eigene Fleisch.
Resümee: Was also tun?
Die Situation in der VWL sei doch gar nicht so übel, wie die Kritikerinnen und Kritiker dies ständig behaupteten – das ist der Eindruck, den die Repliken auf Kritik an der VWL üblicherweise vermitteln wollen.
Und ganz offensichtlich hat diese Strategie bisher sehr gut funktioniert: Für Dritte – aus Politik und Wirtschaft, zum Teil jedoch auch aus gewerkschaftlichen Kreisen –, die mit der Situation der Wirtschaftswissenschaft nicht vertraut sind, mag dabei vor allem der Verweis auf die Vielfalt innerhalb des ökonomischen „Mainstreams“ überzeugend sein. Warum also etwas ändern? Der „Mainstream“ selbst ist ja bereits auf dem besten Weg zu mehr Breite, Pluralität und Realität – oder etwa nicht? Und eine Ökonomik mit wenig Mathematik, die kann sich heute ohnehin niemand mehr vorstellen. Eine ernsthafte Diskussion um die Grundprobleme, die Kritikerinnen und Kritiker in der heutigen Wirtschaftswissenschaft sehen, ist damit – und offensichtlich von den Verteidigern der Orthodoxie auch intendiert – jedoch bereits im Keime erstickt.
Dennoch wird seitens des Mainstream eine gewisse Dialogbereitschaft signalisiert. Allerdings bleibt es schwer, zu entscheiden, inwiefern diese mit einem redlichen Willen zu Veränderung einhergeht. Die Erfahrung seit den wirtschaftlichen Krisenwellen 2007/2008 mahnt bezüglich eigener Erwartungen hier eher zu Ernüchterung.
Das liegt daran, dass die Diskussion um die Situation in der VWL nicht allein von Vorbehalten gegenüber den Kritikerinnen und Kritikern, sondern auch von der allgemeinen Hochschulsituation überlagert wird. In einem wettbewerblich und nach „Exzellenz“ strebenden Hochschulsystem, in dem alle gegen alle um zu wenige Mittel konkurrieren (sollen), geht es nämlich vorrangig um den Ausbau der eigenen Forschungstradition sowie die Verteidigung und Stärkung der eigenen Position.
Verständlich also, wenn die etablierten Ökonominnen und Ökonomen lieber an einem von ihnen definierten Exzellenz-Begriff festhalten, der Alternativen außen vor und somit den Klub der konkurrierenden ökonomischen Theorien überschaubar hält. Schließlich lässt sich auch der Kritik von außen mit kleinen symbolischen Schönheitskorrekturen beikommen, ohne dass dabei eine neue Konkurrenz in Form wirklich alternativer Ansätze „in den Wettbewerb“ aufgenommen werden müsste. Der Wissenschaft(lichkeit), also dem offenen und beständig neuen Befragen der Realität auf Erkenntnis und Zusammenhang, geschuldet, ist all das jedoch nicht. Ganz im Gegenteil.
Und all das geht leider auch nicht spurlos an kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbei, was eine für die Pluralität der Ökonomik fatale Konsequenz nach sich zieht. Denn auch die Kritikerinnen und Kritiker stehen sich auf einmal als Konkurrenten um verknappte Finanzmittel gegenüber. In der Kritik an der etablierten Ökonomik sind sich dann zwar viele Kritikerinnen und Kritiker einig, im Kampf „ums Überleben“ im Hochschulsystem jedoch ist sich dann jeder und jede selbst am nächsten.
Vielleicht ist das auch eine der Erklärungen dafür, warum sich die kritische Seite bisweilen ähnlich dogmatisch verhält, wie dies den Vertreterinnen und Vertretern der etablierten Ökonomik gerne vorgeworfen wird (De Langhe 2010). Dritte spüren dann zwar, dass mit der VWL etwas nicht stimmt und liegen damit ganz nah bei der ökonomisch bereits angestoßenen und vorgebrachten Kritik. Dieselbe bleibt für sie jedoch unverständlich und/oder unsympathisch, weil sie ähnlich „elitär“, „belehrend“ oder dogmatisierend wie der Mainstream daherkommt.
Deshalb wird es wohl vor allem an der jüngeren Generation (Studierende, Promovierende, Postdocs…) liegen, eine Öffnung hin zu Veränderungen zu erstreiten und ermöglichen. Denn so lange Dogmen und Vorbehalte auf beiden Seiten einen echten Dialog versperren, wird es das notwendige Umdenken kaum geben. Zentral für einen Wandel ist daher derzeit eine Stärkung des kritischen Nachwuchses, steht dieser bislang doch auf verlorenem Posten. Wenn sich hier – vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Hochschulbereich – nichts ändert, werden alternative ökonomische Ansätze mittelfristig wohl nur noch aus Büchern bekannt sein. Und sehr wahrscheinlich sind es dann auch keine Ökonominnen und Ökonomen mehr, die diese Bücher lesen.
Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, ist Volkswirt und derzeit Mitarbeiter am Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien an der Universität Hamburg. Er forscht zu Heterodoxie und Orthodoxie/ Pluralität in der Ökonomik, Ökonomischer Misanthropie, Subsistenz(-ethik), Wirtschaftsethik, Wirtschaftsstilforschung und Ökonomischer Ideengeschichte.
Jens Wernicke, Jahrgang 1977, ist Kulturwissenschaftler mit Schwerpunkt Medien, Gewerkschaftssekretär, Autor sowie freier Journalist. Er ist (Mit-)Herausgeber dreier Bücher (Denkanstöße. Wider die neoliberale Zurichtung von Bildung, Hochschule und Wissenschaft; Handbuch zur studentischen Protestorganisation; Netzwerk der Macht – Bertelsmann. Der medial-politische Komplex aus Gütersloh) sowie Autor eines weiteren (Hochschule im historischen Prozess: Zum Verhältnis von Universitätsentwicklung, Klassengesellschaft und Macht).
Literatur
- Bachmann, Rüdiger (2012): Ein Uni-Ökonom teilt aus: Lernt unsere Sprache, bevor ihr mitredet. In: Spiegel Online, vom 05.01.2012, [23.09.2014].
- De Langhe, Rogier (2010): How monist is heterodoxy? In: Cambridge Journal of Economics 34 (4), S. 793-805.
- Dreher, Axel (2014): Verteidigung der Ökonomie. In: oekonomenstimme.org, vom 10.08.2014, [23.09.2014].
- Dobusch, Leonhard und Kapeller, Jakob (2009): “Why is Economics not an Evolutionary Science?” New Answers to Veblen’s Old Question. In: Journal of Economic Issues, Vol. 43 (4), S. 867-898.
- Gran, Christoph (2009): Wirtschaftswissenschaft droht der Absturz. In: Handelsblatt, vom 19.10.2009, [03.10.2014].
- Hirte, Katrin (2013): ÖkonomInnen in der Finanzkrise. Diskurse, Netzwerke, Initiativen. Marburg: Metropolis.
- Horn, Gustav A. (2014): Rede von Prof. Dr. Gustav A. Horn (IMK) bei der Eröffnungsveranstaltung der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, Hamburg den 07.09.2014. [03.10.2014]
- ISIPE [International Student Initiative for Plural Economics] (2014): Internationaler studentischer Aufruf für eine Plurale Ökonomik. [23.09.2014].
- Klump, Rainer [Hrsg.] (1996): Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung. Marburg: Metropolis.
- Lawson, Tony (2013): What is this ‘school’ called neoclassical economics? In: Cambridge Journal of Economics, published online: June 2013, doi: 10.1093/cje/bet027.
- Lawson, Tony (2005): The nature of heterodox economics. In: Cambridge Journal of Economics, Vol. 30, Nr. 4, S. 483-505.
- Lawson, Tony (1997): Economics and Reality. London und New York: Routledge.
- Lieb, Wolfgang (2009): Warum profitiert die Linke nicht von der Krise? Im: NachDenkSeiten, vom 11.08.2009, [23.09.2014].
- Marguier, Alexander (2010): „Ökonomie ist eigentlich keine Wissenschaft“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ], vom 08.05.2010, [23.09.2014].
- Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (2014): Forschungsprojekte am MPIfG, Projektbereich: Soziologie der Märkte. Informationen der Homepage, Version: 27.03.2014, [23.09.2014].
- Mejias, Jordan (2013): Die Linke hat auch keine Antwort. Philip Mirowski im Gespräch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ], vom 16.03.2013, [23.09.2014].
- Nienhaus, Volker (2004): Der Islam – Bremse oder Motor der wirtschaftlichen Entwicklung? In: Michael von Hauff und Ute Vogt [Hrsg.]: Islamische und westliche Welt: Warum Politik, Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit ihre Kooperation neu orientieren müssen. Marburg: Metropolis, S. 227-253.
- Nienhaus, Volker (1997): Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung: Islamische Religion und Tradition als Ursache wirtschaftlicher Unterentwicklung? In: Spiridon Paraskewopoulos [Hrsg.]: Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung. Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 363-376.
- Nienhaus, Volker (1996): Islamische Weltanschauung und Wirtschaftsstil. In: Klump, Rainer [Hrsg.]: Wirtschaftskultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Marburg: Metropolis, 191-207.
- Olbrisch, Miriam; Schießl, Michaela (2011): Versagen der Uni-Ökonomen: Warum bringt uns keiner Krise bei? In: SPON, vom 28.12.2011, [03.10.2014].
- Ötsch, Walter Otto (2009): Mythos Markt. Marktradikale Propaganda und ökonomische Theorie. Zweite Auflage. Marburg: Metropolis.
- Peukert, Helge (2013): Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise. Eine kritisch-heterodoxe Untersuchung. Fünfte Auflage. Marburg: Metropolis.
- Quaas, Friedrun (2000): Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts. Bern, Stuttgart und Wien: Haupt.
- Sahlins, Marshall D. und Service, Elman R. (1991): Evolution and Culture. Vierte Aufglage. Ann Arbor: University of Michigan Press.
- Schefold, Bertram (2009): Die „Klassiker der Nationalökonomie“ – Gedanken des Herausgebers der Reihe zur Zusammenstellung eines Kanons. In: Scheer, Christian [Hrsg.]: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXII. Ideen, Methoden und Entwicklungen der Geschichte des ökonomischen Denkens. Berlin: Duncker & Humblot, S. 99-116.
- Ulrich, Peter (2008): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern, Stuttgart und Wien: Haupt.