Mein Gott, Walter!
Walter Krämer hat wieder zugeschlagen. Was, Sie kennen Walter Krämer nicht? Walter Krämer ist seines Zeichens Ökonom und Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik, Mitglied der FDP, Autor und Publizist. Krämer gehört zum wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream und ist vor allem für seine „forsche“ Rhetorik bekannt – so nannte er seinen Kollegen Peter Bofinger beispielsweise einmal eine „akademische Nullnummer“. Mit derartigen Beleidigungen sollte man jedoch vorsichtig sein, zumal sie nur all zu schnell auf einen selbst zurückschlagen könnten. Und Einfallstore für berechtigte Kritik bietet Krämer en masse – dazu zählt vor allem sein manipulativer Umgang mit der Armutsstatistik, den er in dieser Woche einmal mehr in einem Gastartikel in der Printausgabe der Frankfurter Rundschau mit der Überschrift „Das Gerede von der Armut“ unter Beweis stellt. Von Jens Berger
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Was ist Armut?
Auf diese keinesfalls banale Frage haben sich Generationen von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern ihre Gedanken gemacht. Grob gesagt gibt es zwei Ansätze, Armut auch mathematisch und somit statistisch zu definieren. Man kann Armut absolut definieren. Diesen Ansatz verfolgt beispielsweise die Weltbank, die Menschen, denen kaufkraftbereinigt weniger als 1,25 US$ pro Tag zur Verfügung steht, als „arm“ definiert. Eine solche absolute Armut gibt es in Deutschland nur in seltenen Ausnahmefällen. Dennoch dürfte selbst der überzeugteste Neoliberale der Aussage nicht widersprechen, dass es auch in Deutschland Armut gibt. Um Armut auch in industrialisierten – also reichen – Ländern zu messen, bedient man sich daher der Berechnung der „relativen Armut“. Die darauf beruhenden Armutsgrenzen stehen in Relation zu den durchschnittlichen Einkommen im betreffenden Land. Da der mathematische Durchschnitt jedoch von den Extremwerten am oberen Ende der Einkommensskala verzerrt wird, benutzt man als Definitionsbasis stattdessen den Median des Netto-Äquivalenzeinkommens. Nach gängiger Definition gilt eine Person, der weniger als 60% dieses Basiswertes zur Verfügung stehen, als armutsgefährdet – in Deutschland sind dies rund 952 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person. Bei Mehrpersonenhaushalten wird die Basis anhand von sogenannten „Bedarfsgewichten“ festgestellt. Eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren gilt ab einem Haushaltseinkommen von weniger als 1.666 Euro als arm. Wenn diese Familie Hartz IV bezieht, stehen ihr laut Regelsatz 1.228 Euro zu. Armut ist in Deutschland demnach vom Gesetzgeber durchaus akzeptiert. Da kann es dann auch nicht verwundern, dass in Deutschland fast jeder sechste Haushalt als armutsgefährdet gilt und bei den Haushalten mit Erwerbslosen sogar fast 70% als armutsgefährdet gelten.
Grober Unfug – wo man auch hinguckt
Nach Walter Krämers Ansicht ist diese Berechnung jedoch „grober Unfug“. Grober Unfug ist jedoch viel mehr, wie Krämer dies begründet: nach seiner Argumentation gilt man nämlich mit einem Einkommen, das der deutschen Armutsgrenze entspricht, in „neun Zehnteln aller Länder als reich“. Sicher – mit einem deutschen Hartz-IV-Regelsatz würde man in Indien keinen Hunger leiden und könnte ein für Landesverhältnisse durchaus ordentliches Leben führen. „Reich“ wäre man damit jedoch noch nicht einmal in Indien. Der deutsche Regelsatz gilt jedoch für Deutschland und nur für Deutschland. Die deutschen Vermieter nehmen nun einmal keine indischen Mieten, die deutsche Bahn bietet keine indischen Fahrpreise an und selbst die deutschen Supermärkte sind schon ein kleines bisschen teurer als die Märkte in Mumbai oder Delhi. Daher gilt in Indien ja auch eine andere Armutsgrenze als in Deutschland. Dies scheint Walter Krämer jedoch nicht zu stören. Man könnte den Spieß auch umdrehen und die Armutsgrenze aus einem reicheren Land auf Deutschland umrechnen. In der Schweiz liegt die Armutsgrenze für eine Familie mit zwei Kindern beispielsweise bei 4.050 Franken (3.340 Euro) und damit mehr als doppelt so hoch wie Deutschland. Freilich ist auch dieser Vergleich, der einen „umgekehrten Krämer“ darstellt, grober Unfug.
Um den Unfug weiterzutreiben, benutzt Krämer ein weiteres Rechenbeispiel aus der Manipulationskiste. „Hätten wir im Mittel 180.000 Euro Einkommen pro Jahr, wären alle Menschen mit weniger als 110.000 Euro jährlich arm“, so Krämer. Toll! Wir haben jedoch nicht im Mittel 180.000 Euro Einkommen pro Jahr, Herr Krämer. Derartige Sandkastenspiele haben mit der Realität nichts zu tun und sind intellektuell unredlich. Ebenso unredlich ist Krämers Versuch, zu belegen, dass man mit einer Umverteilung von oben nach unten nichts an der Armut ändern könnte. Dazu benutzt er folgendes Beispiel: Man nähme Bill Gates eine Million Euro und schenke sie ihm, Herrn Krämer. Krämers durchaus richtiger Schluss ist, dass dies nichts an der Armut ändern würde. Richtig. Dies liegt jedoch nur daran, dass Herr Krämer mit seinem Professorenbezügen sicherlich nicht unter der Armutsgrenze liegt. Würde man mit der Millionen Euro von Herrn Gates jedoch dauerhaft mehrere Haushalte unterstützen, die unterhalb der Armutsgrenze liegen, so würde man tatsächlich die Armut nicht nur rechnerisch verringern. Was soll also die dümmliche Argumentation des Herrn Sozial-Statistikers aus Dortmund?
Wenn die falschen Ergebnisse herauskommen, sollte man lieber erst gar nicht rechnen
Krämers Fazit ist simpel – die Berechnung von Armut als Relation zum mittleren Einkommen ist unpräzise, daher sollte man derartige Statistiken erst gar nicht erheben. Natürlich ist die Berechnung der relativen Armut unpräzise. Eine präzisere Rechenmethode zur Bemessung der Armut in einem reichen Land gibt es jedoch nicht. Nur weil die Berechnung der Armut in der Tat einige Schönheitsfehler aufweist (so wird beispielsweise nicht zwischen den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in den Metropolen und auf dem Land unterschieden), kann die Antwort doch nicht lauten: Wir können keine 100% Ergebnisse liefern, daher stellen wir die Berechnungen ein.
Würde es Walter Krämer tatsächlich um einen konstruktiven Beitrag zur Armutsdefinition gehen, dann würde er auch konstruktiv argumentieren. Krämers Botschaft ist jedoch: Da man Armut nicht problemlos berechnen kann, sollte man erst gar keine Berechnungen anstellen. Punkt. So einfach kann man es sich natürlich machen. Mit „Wissenschaft“ hat dies jedoch nichts zu tun. Aber ein „Gutes“ hat der aktuelle Gastartikel von Walter Krämer dennoch. Mittlerweile hat selbst der Herr Statistik-Professor gelernt, dass die Armutsquote sich nicht am Durchschnittseinkommen, sondern am Medianeinkommen berechnet – das wusste er vor zwei Jahren noch nicht. Wenn der Lernprozess des Herrn Professor in diesem Tempo weitergeht … wer weiß, vielleicht können wir in ein oder zwei Jahrzehnten ja vielleicht doch noch auf fachlich einwandfreie Artikel aus der Feder Krämers hoffen?