Max Weber und der katholische Kontrast

Jens Berger
Ein Artikel von:

Wenn in der europäischen Krisendebatte von scheinbar unvereinbaren Gegensätzen zwischen Nord und Süd die Rede ist, fällt fast zwangsläufig ein Name: Wer wissen wolle, warum die Euro-Krise gerade Griechenland, Spanien, Portugal treffe, der müsse Max Weber lesen, empfiehlt 2010 die Welt. Der deutsche Religionssoziologe wird als Kronzeuge angerufen, wenn es zu erklären gilt, warum »Katholiken halt nicht rechnen können«. Dabei hat er sich eher sparsam über Katholiken geäußert. Von Sebastian Schoepp[*].

Dieser Text ist ein exklusiver Auszug aus: Sebastian Schoepp: „Mehr Süden wagen. Oder wie wir Europäer wieder zueinander finden“, 256 Seiten, Westend Verlag, 15.9.2014

Max Webers Interesse galt grundsätzlich der »Frage, durch welche Faktoren ganze Gruppen von Menschen so sind, wie sie sind«. Vor allem widmete er sich der Suche nach den Triebkräften des Kapitalismus – und fand sie im Protestantismus des Nordens. Weber, für viele der wichtigste »Diagnostiker der Moderne« schilderte, wie britische, niederländische und später US-amerikanische Puritaner das System der absoluten Unterordnung aller Lebensaspekte unter die Gewinnanhäufung erfanden und wie dieses System bald den Alltag jedes Einzelnen in der Industriegesellschaft prägen sollte. Laut Weber haben jene Mechanismen der Selbstausbeutung, die uns heute mehr denn je in Trab halten, im 16. und 17. Jahrhundert ihren Ursprung. Damals suchten radikale Protestanten »nach einigermaßen verlässlichen Zeichen Gottes für ihre Erlösung von der ewigen Verdammnis« und konstruierten daraus ein System von Glaubensinhalten und Verhaltensweisen: »Dieser Gedankenkosmos erbaute ganz allmählich jene Gehäuse der Hörigkeit und Unfreiheit des Menschen auf dem ganzen Globus, die man unter der Überschrift ›moderner Kapitalismus‹ zusammenfassen kann«, schrieb Weber in seinem Hauptwerk. Für die Protestanten war Gott ein fernes, allmächtiges Wesen, das sich jedoch komplett in sich selbst zurückzog und in grandioser Einsamkeit entschied, wen unter den Menschen er in den Zustand der Gnade erhob und wen nicht. Pausenlose Arbeit und die Anhäufung von Reichtümern waren aus protestantischer Sicht die einzige Methode herauszufinden, ob man sich im Zustand der Gnade befand. Das erklärt auch, warum der Protestant nicht gern Almosen gibt und keine Sozialsysteme mag wie die Amerikaner, denn beides belohnt aus der Sicht des Puritaners auf sündhafte Weise die, die sich nicht im Zustand der Gnade befinden.

Aus der Pflicht des Protestanten zur »ökonomischen Bewährung« vor Gott entstand laut Weber eine »Berufspflicht«, wonach jeder Einzelne eine Tätigkeit ausüben muss, die nicht nur dem Broterwerb dient, sondern »den ganzen Menschen erfasst«. Dieser Pflicht kann sich seit Beginn der Industrialisierung keiner mehr entziehen. So sei eine ganze ökonomische Ordnung entstanden, schrieb Weber, ein »faktisch unabänderliches stahlhartes Gehäuse«, und dazu »eine in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung«. Der Protestantismus tat laut Weber letztlich nichts anderes, als eine Form der »Klösterlichkeit auf den Markt des Lebens« zu tragen. Dass sich fast der ganze bürgerliche Mittelstand der nördlichen und westlichen Hemisphäre bereitwillig in dieses Kloster der eigenen Schaffenskraft steckte, sei Ergebnis eines lange dauernden Erziehungsprozesses gewesen, an dessen Ende der religiöse Ursprung gar nicht mehr zu erkennen sei, stellte Weber fest. Doch es sei eben dieser Ursprung gewesen, der das Prinzip so wirkmächtig gemacht habe. Erziehungsmittel für die Massen wurde die Werkssirene. Es dauerte zwei Generationen, bis die Arbeiter internalisiert hatten, dass sie ihr den Tag unterzuordnen hatten. Erst diese rationale Arbeitsorganisation erzeugt den »normgebundenen Lebensstil«, der die protestantische Arbeitsethik charakterisiert. So wurde der Kapitalismus zur »schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens«. Gewinnmaximierung sei darin Selbstzweck. Der Kapitalist, so unterstellt Weber, habe nichts von seinem Reichtum – außer der »irrationalen Empfindung guter Berufserfüllung«. Der vordergründige Rationalist handelt in seinem Inneren also zutiefst irrational.

Welchen Menschentyp diese Haltung am Ende hervorbringen könnte, beschrieb Weber Anfang des 20. Jahrhunderts mit Worten, die aus heutiger Sicht auf frappierende Weise prophetisch wirken: »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz.« Und er schickt gleich noch ein Verdammungsurteil hinterher: »Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.« Letztlich verdanken wir Weber die Erkenntnis, dass die in der Industriegesellschaft gepredigte Grundannahme, pausenloses Streben nach materiellem Zugewinn sei eine Art Conditio humana, die zum Menschsein dazugehöre wie der morgendliche Gang zur Toilette, einen Irrtum darstellt. Sie setzte sich erst seit dem 19. Jahrhundert in der nördlichen und westlichen Hemisphäre durch und ist ähnlich wie der Nationalismus ein pures Konstrukt, entstanden aus einer zeitgebundenen religiösen Strömung.

Dem europäischen Süden blieb diese weitgehend erspart. Breite Teile der Bevölkerung lebten dort im 19. Jahrhundert zunächst weiter nach den Mechanismen des Erwerbslebens, wie sie die vorkapitalistische Epoche geprägt hatte, im Grund also entsprechend den Prinzipien des venezianischen oder genuesischen Handelspatriziats. Weber schildert das gemächliche Lebenstempo jenes Zeitalters, in dem die Kaufleute und Handwerker sich zum Schoppen zusammensetzten, sobald die Arbeit erledigt war, gern auch mit Mitbewerbern, denn Konkurrenzdenken spielte keine große Rolle. Der Traditionalist habe sich nur gefragt: Wie viel muss ich arbeiten, damit meine traditionellen Bedürfnisse gedeckt sind? Während diese Idylle im Norden unter dem Ansturm der puritanischen Parvenüs zerbrach, blieb der Süden ihr treu – um den Preis, sich von der Ethik der Industrialisierung abzuklemmen. »Wie jeder Fabrikant weiß, ist die mangelnde coscienziosità der Arbeiter solcher Länder, etwa Italiens im Gegensatz zu Deutschland, eines der Haupthemmnisse ihrer kapitalistischen Entfaltung gewesen und in gewissem Maße noch immer«, schrieb Weber.

Er selbst lernte die Schattenseiten einer durch und durch protestantischen Berufsauffassung am eigenen Leibe kennen, auch in ihm lief ja »eine auf rastlose Selbstausbeutung angelegte Antriebsmaschinerie« – bis zum Zusammenbruch. Nach Meinung vieler Biographen war es kein Zufall, dass Rom die »gedankliche Werkstätte« seines Hauptwerks über die Protestantische Ethik wurde. Die Weber-Forscherin Silke Schmitt führt vor allem die »Fortschrittsskepsis«, die Weber am Ende des Werks äußerte, auf das Kontrasterlebnis seiner Italien-Reise zurück. Natürlich kam Webers Italien-Sicht wie die vieler seiner Vorläufer nicht ohne Stereotypisierungen aus. Dass sich gerade die positiven Stereotypen in seinem Fall so sehr bestätigten, mag ihn in dieser Haltung bestärkt haben; er fand, was er suchte, Rom gab ihm, was er brauchte. In Italiens Hauptstadt lebten er und seine Frau im Haus einer »angenehmen italienischen Familie«, wie Marianne Weber später schrieb, den »alten Martinis«, die ihnen ein »ungestörtes Asyl« gewährten; sie empfingen Besuch und zogen durch die Künstlerkneipen. Webers Mutter war bei einem Besuch erstaunt, wie »er sich in Sprache und Umgebung eingelebt hat, als wäre er schon jahrelang hier«. Der gestresste Gelehrte scheint sich vom Ambiente Roms durch und durch angenommen gefühlt zu haben; der Heilungserfolg war beträchtlich. Kaum verließ er jedoch Italien, begann wieder das »Auf und Ab« der Krankheit, die Klage über »immer dasselbe, der psychische Druck (…) dazu das Gefühl, dass uns allen nur der Berufsmensch für voll gälte«.

Der Religion seines Gastlandes gegenüber legte er zunächst wohlwollende Herablassung an den Tag. Der Katholizismus, die »Ketzer strafend, doch den Sündern mild«, erschien Weber als »höchst bequem«, »wenig fühlbar« und moralisch genügsamer als der Protestantismus. Zwar sei auch dem katholischen Süden das Streben nach Geld nicht fremd. Es äußere sich aber eher in individueller Gier und Abenteuergesinnung – in einer Art ökonomischem Konquistadorentum also, das den Schranken der protestantischen Ethik spotte. Dem Süden fehle schlicht die Ethik des Geldes. Das orthodoxe Griechenland lag für Weber noch weiter außerhalb der kapitalistischen Ethik als Italien, ja, er sah es als Antithese rationalen Handelns. Das Land liege in einer Sphäre, in der »Gemeinschaftshandeln auf der Grundlage genuiner Mystik entstehe«. Die Kernidee des orientalisch-mystischen Kirchenbegriffs verortete er in der irrationalen Vorstellung, dass sich Menschen, die sich mystisch lieben, auch gleichartig denken und handeln.

Doch scheint Weber sich nach einer Portion Mystizismus im Leben durchaus gesehnt zu haben. So beklagte er sich an anderer Stelle bitter über die »Entzauberung der Welt«: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, (…) dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.« Wem es nicht gelinge, dieses Schicksal »männlich ertragen« zu lernen, der müsse »in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirche« zurückkehren, folgerte er.

Mit Blick auf Webers Lebensgeschichte kann man sagen: Wenn einer die »Entzauberung der Welt« nicht ertragen konnte, dann der neurastheniegeplagte Weber selbst. In Italien, so schreibt Silke Schmitt, sei Weber eine Option vor Augen geführt worden, wie man sich dieser Entzauberung entziehen könne – so man die Bereitschaft dazu mitbrachte und sich öffnete. Auch wenn Weber die katholische Lebensführung als in wirtschaftlichen Belangen unterlegen angesehen haben mag: Gerade diese Lebensführung sei es ja, die ein katholisches Land zur »geeigneten Ruhezone für protestantische Leistungsvirtuosen im Zustand des Nervenzusammenbruchs« mache, wie Jürgen Kaube schreibt. Das Parabelhafte an Max Webers Leidensgeschichte liegt darin, dass ebendiese Lebensführung, die für ihn zur Rettung wurde, auch der vor dem Nervenzusammenbruch stehenden EU und ihren Leistungsvirtuosen ein paar probate Handreichungen zur Heilung bieten könnte. Doch dafür müsste der Patient erst einmal aufhören, sich gegen jeden Therapieversuch zu sträuben.


[«*] Sebastian Schoepp ist seit 2005 außenpolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung und als solcher für Spanien und Lateinamerika zuständig. Außerdem ist er Dozent für Journalistik an der Universität Barcelona.

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