“Ist Osama dein Onkel?” – Gedanken zum 11. September
Nun liegen die Anschläge vom 11. September 2001 dreizehn Jahre zurück. Abgesehen davon, dass mit diesem Ereignis die Kriege im vergangenen Jahrzehnt gerechtfertigt wurden, hat es auch in den Köpfen vieler Muslime ein Trauma bewirkt, das Außenstehende nur schwer nachvollziehen können. Ein Gastartikel von Emran Feroz.
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Der 11.September 2001 war eine Zäsur in jeglicher Hinsicht – ob nun historisch, politisch oder im persönlichen Leben. Die meisten Menschen wissen selbst heute noch, was sie an diesem einen Tag gemacht haben. Sie wissen es ganz genau. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich vom Fußballspielen heimkam und mich auf mein Abendessen und meine Lieblingsserie freute. Meine Eltern starrten jedoch nur gebannt den Fernseher an. Ich sah, wie Flugzeuge in zwei Wolkenkratzer flogen. Alles explodierte und brach in sich zusammen. Man hörte die Schreie der Menschen. Anfangs glaubte ich sogar, dass diese Szenen nur aus dem Trailer eines neuen Actionfilms – womöglich einer dieser Endzeitfime à la Roland Emmerich – stammen könnten. Kein Wunder, immerhin war ich damals erst neun Jahre alt.
Mich kümmerte es nicht, dass gerade einer der schlimmsten Terroranschläge unserer Zeit stattgefunden hatte. Im Grunde genommen verstand ich es gar nicht. Vielmehr war ich wütend darüber, dass meine erwähnte Lieblingsserie aufgrund einer Sondersendung zu den Anschlägen ausfiel. Und auch das Abendessen wurde erst spät serviert. Während ich aß, konnte ich das erste Mal das Bild jenes Mannes bestaunen, den heutzutage jedes Kind kennt: Osama bin Laden.
Dass mir dieser Mann in den darauffolgenden Wochen, Monaten und Jahren noch so viele Probleme bereiten wird, war mir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Am nächsten Tag waren die Anschläge das Thema schlechthin, und zwar überall. Sogar in der Grundschule, die ich damals besuchte. In der Klasse gab es nur zwei Schüler mit muslimischem Hintergrund. Ein Mädchen aus Bosnien und mich.
“Warum haben die das gemacht?”
Als die Stunde begann, fing auch die Lehrerin an, über die Anschläge zu sprechen, und meinte, dass sie nicht wisse, warum „diese Menschen” das gemacht haben. Dann sah sie mich an. „Emran, ihr kommt aus Afghanistan, oder? Weißt du, warum die das gemacht haben?”, fragte sie mich. Da war ich nun. Ein neunjähriger Junge, der zufällig Muslim war und dessen Eltern zufällig aus Afghanistan stammten, musste sich plötzlich für die Taten von irgendwelchen Terroristen, die Flugzeuge entführt hatten, rechtfertigen. Ich brachte kein Wort heraus, doch von diesem Zeitpunkt an wusste ich, dass man mich wahrscheinlich immer wieder darauf ansprechen wird.
Genauso kam es dann auch. „Bist du mit Osama bin Laden verwandt?” Mit dieser Frage wurde ich damals wohl am häufigsten aufgezogen. Durch diese Art von Mobbing können auch Kinder grausam werden. Diese Grausamkeit des Schulalltags, die ich damals voll zu spüren bekam, bekommen auch heute viele Erwachsene gar nicht mehr mit. Wahrscheinlich geht es zahlreichen muslimischen „Migrantenkindern“ ähnlich.
Natürlich wusste ich schon damals, dass bin Laden kein Afghane war, sondern aus Saudi-Arabien stammt. Da ich mich immer rechtfertigen musste, sah mich gezwungen, Informationen über diesen Mann und über das ganze Geschehen zu sammeln. Dafür interessierte man sich jedoch herzlich wenig. Mir fällt auch heute noch auf, dass der Irrtum, bin Laden sei ein Afghane, weitverbreitet ist. Kein Wunder, denn nach dem 11. September wurde nicht Saudi-Arabien angegriffen, sondern Afghanistan. Da unsere Familie damals die einzig bekannte afghanische Familie in der Gegend war, wurden wir natürlich schnell zum Thema der Menschen in unserem Umfeld. Auf dem Hof meinten die Kinder, mit denen ich Fußball spielte, dass der „Dritte Weltkrieg“ ausbrechen werde und dass „mein Land“ dafür verantwortlich sei.
Ich wusste, dass in Afghanistan seit Jahrzehnten Krieg herrschte. Ich konnte mich an jene Momente erinnern, als die Bilder des vom Bürgerkrieg zerstörten Kabul im Fernsehen ausgestrahlt wurden und mein Vater traurig vor sich hin starrte, während meine Mutter den Tränen nahe war. Es waren depressive Momente, die mir erst später klarmachten, wie sehr das afghanische Volk traumatisiert ist. Dass nun auch die Amerikaner, die den Afghanen im Kampf gegen die Sowjets einst sogar geholfen haben, ihre Bomben über meine Heimat regnen lassen wollten, machte mir schwer zu schaffen.
“Die Amerikaner machen euch fertig”
Anders ging es den Kindern aus der Nachbarschaft. Es war bizarr, doch irgendwie freuten sie sich auf die Angriffe und redeten mir ein, dass der „Dritte Weltkrieg“ in meiner Heimat stattfinden würde. Als der Angriffskrieg der Amerikaner und ihrer Alliierten losging, also jene Militäraktion, die unter dem Namen „Operation Enduring Freedom“ bekannt ist, gingen die Schikanen auf dem Schulhof weiter. „Die Amerikaner machen euch fertig“, riefen mir einige Kinder zu, während sie von US-amerikanischen Kampfjets schwärmten. Ich hatte damals keine Meinung zum Geschehen, stand meist nur schweigend da und nahm alles hin. Manchmal wünschte ich mir vor Wut, dass wir hoffentlich „gewinnen“ würden.
Wir – das waren in diesem Fall hauptsächlich die extremistischen Taliban. Auch sie wurden zum Gespött, denn sogar unter den Schulhofkindern war bekannt, dass die Taliban uralte Waffen aus Sowjetzeiten benutzten und gegen die Amerikaner keine Chance hatten. Das dachte man zumindest damals. Heute sind die Extremisten stärker denn je, während die US-Amerikaner vor ihrem Abzug stehen und ein Jahrzehnt lang gedemütigt wurden.
Omar, mein Bruder, gehörte zu jenen, die die Taliban am meisten verfluchten. Der Grund war nur allzu verständlich. Immerhin brachte jeder seinen Namen mit jenem des berühmt-berüchtigten Taliban-Führers Mullah Mohammad Omar in Verbindung. Dieses Problem haben bis heute jedoch nicht nur die Omars und Osamas dieser Welt, sondern die meisten Muslime. Seit dem 11. September 2001 hat nämlich jeder, der den Namen Mohammad oder irgendeinen anderen, klar erkennbaren islamischen Namen trägt, mehr oder weniger ein „Problem“. Dieses Problem wird immer wieder deutlich – ob nun während eines Bewerbungsgesprächs oder bei einer Polizei- oder Flughafenkontrolle.
Früher Exot, heute Terrorist
Früher war das anders. Es gab mal eine Zeit, in der Muslime als „exotisch“ galten. Den Nahen Osten assoziierte man mit Geschichten aus tausendundeiner Nacht. In einem alten Reiseführer zu Afghanistan – er stammt aus den 60er-Jahren – wird das Land am Hindukusch als Land der Dichter und Geschichtenerzähler beschrieben. Ein Land, das für sein einzigartiges Obst bekannt ist – ob nun saftige Granatäpfel oder zuckersüße Melonen – und in dem Gastfreundschaft die höchste Tugend ist. Heute hat sich dies geändert. Ob Afghanistan, Irak, der Jemen oder Syrien – all diese Länder werden nur noch mit Terror und Blutvergießen in Verbindung gebracht. Man assoziiert den Orient nicht mit etwas Exotischem, sondern mit Al Qaida, Guantanamo und illegalen Drohnen-Angriffen. Seit dem 11. September wird der Muslim von der westlichen Gesellschaft als etwas Fremdes, etwas Bedrohliches wahrgenommen.
Diese Wahrnehmung macht auch vor Kindern nicht halt. Man verlangt von muslimischen Kindern vieles. Sie müssen sich in der Schule mehr beweisen als andere, sie müssen mit Vorurteilen kämpfen, und scheinbar wird von ihnen sogar verlangt, sich für Dinge zu rechtfertigen, mit denen sie überhaupt nichts zu tun haben.
Dies wird übrigens nicht nur von Kindern, sondern von allen Muslimen hierzulande verlangt. Sobald Menschen mit muslimischem Hintergrund irgendwo auf der Welt für Verbrechen verantwortlich sind, muss sich der Muslim hierzulande davon distanzieren, weil er eben auch ein Muslim ist. Dass man womöglich noch nie im Irak oder in Afghanistan gewesen ist und sonst die selben alltäglichen Probleme hat wie jeder andere Bürger, interessiert niemanden. Irgendwann fühlt man sich fast schon dazu genötigt, zu jedem Christen zu laufen, um ihn zu fragen, was er von George W. Bushs „Kreuzzug“ hält.
Allerdings steht auch fest, dass der 11. September 2001 mich teilweise zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Ohne diese fürchterlichen Anschläge, die darauffolgenden Kriege und den Hass gegen Muslime hätte ich mich wohl nie mit gewissen Themen beschäftigt. Ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, all diese komplexen Themen – von Terrorismus bis hin zu Rassismus – immer wieder aufs Neue zu erläutern. Ich habe auch gar keine andere Wahl, denn gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist es nötiger denn je.