Zum Gedenken an den 8.Mai
Heute jährt sich zum zweiundsechzigsten Mal der Tag der Befreiung – der Tag an dem im Jahre 1945 auch tausende Überlebende des Holocausts aus den KZs befreit wurden.
Brigitta Huhnke hat mit fünf aus dem KZ Mauthausen befreiten polnischen und tschechischen Frauen psychologische Interviews geführt und fasst deren Lebensgeschichte zusammen. In einer Vorbemerkung stellt sie fest, dass die Zeit bei den Menschen, die durch die Höllen des Holocaust getrieben wurden, nichts geheilt habe. Sie beklagt, dass bei allen Gedenkritualen bis in die heutige Zeit, über das Gedenken an die Opfer hinaus, die Demut vor den Überlebenden fehle. Jüngste Ereignisse zeigten, dass in unserem Land noch immer kaum Bereitschaft zur Spurensuche und zur Übernahme von Verantwortung für das Geschehene vorhanden sei.
Auch im 62. Jahr nach der Befreiung hat die Zeit bei den Menschen, die durch die Höllen des Holocaust getrieben worden sind, nichts geheilt. Viele der Überlebenden, haben in den ersten Jahrzehnten geschwiegen, sie wollten ein neues Leben aufbauen, das Erlebte hinter sich lassen. Viele von ihnen haben nie über die erlittenen Qualen gesprochen. Auch die fünf Frauen, zwei gebürtige Polinnen aus Lodz und drei Tschechinnen aus Prag, – die ich im Herbst 2005 anfing zu interviewen und worüber unten eine kurze Zusammenfassung erfolgt- wollten nach der Befreiung nur vergessen. Damals, als sie zurückkamen, waren sie Anfang zwanzig, hatten ihre Familien verloren und trotzdem nicht ihre Hoffnung. Wieder einigermaßen gesundheitlich zu Kräften gekommen lenkten sie nun alle Kraft in ihre Bildung, ins Studium, in den Beruf. Sie haben geheiratet und Kinder bekommen, sie waren immer berufstätig.
Gab es ein geschlechtsspezifisches Martyrium während des Holocaust und wie wird dieses erinnert? Allein diese Frage zu stellen, galt lange Zeit als Tabubruch. Zum Einschnitt wurde das „Holocaust Project“ der Aktionskünstlerin Judy Chicago, das Ende der siebziger Jahre viele Überlebende mit Empörung zur Kenntnis genommen haben. Der Holocaust sei unique, also einzigartig und im Nachhinein dürften weibliche und männliche Opfer nicht auseinander dividiert werden. Eine weitere Thematisierung erfolgte im Rahmen der Konzeption des Holocaust Memorials in Washington, an der auch die Historikerin Joan Ringelheim beteiligt war. Für Ringelheim war die weibliche Situation während des Infernos nach 1945 schlicht verdrängt worden. Sie legte die erste umfassendere Forschung zum Thema vor. Seit Mitte der achtziger Jahre entstehen besonders in den USA wissenschaftliche Untersuchungen zum Schicksal weiblicher Überlebender. Hinzu kommt seit den neunziger Jahren eine wachsende Zahl veröffentlichter autobiographischer Berichte, zum großen Teil von Frauen. In der deutschsprachigen Wissenschaft und noch mehr im öffentlichen Gedenken bleiben die anderen Erfahrungen, die weibliche Überlebende als Frauen gemacht haben, jedoch nach wie vor weitgehend unberücksichtigt oder aber sie werden häufig fast reißerisch lediglich unter der Perspektive „sexistische Gewalt“ betrachtet.
Seit Anfang der neunziger Jahre gehen vermehrt auch in unserem Land hochbetagte Frauen in Schulen, um über das zu sprechen, was sie erlebt haben. Sie wollen bewusst die historische Wahrheit bezeugen. Aus der psychoanalytischen Befragung von Überlebenden, die maßgeblich von dem US-amerikanischen Psychoanalytiker und Psychiater Dori Laub seit Anfang der achtziger Jahren entwickelt worden ist, wissen wir: „Eine Verarbeitung eines solchen massiven Traumas ist nicht möglich. Doch im Ablegen des Zeugnisses können Überlebende wieder Zugänge zu ihrer Geschichte finden, auch wenn Teile davon für immer verkapselt bleiben werden.“
So können die ein Zeugnis ablegenden Überlebenden im besten Falle Linderung erfahren, im Akt des Erzählens vor einer empathischen Zuhörerschaft aber vielleicht auch Teile ihrer traumatischen Erfahrungen in Erinnerungen verwandeln, mit der Chance, sie in ihrem Inneren dann besser integrieren zu können.
Was auch bei diesen fünf Frauen sehr auffällig ist, gerade auch im Vergleich mit Frauen der Täterseite: die Energie, die Klarheit, mit der sie die Wahrheit aus dem „Inneren des Holocaust bezeugen“(Laub). Alle fünf Frauen waren in Auschwitz, wurden dann in einem Transport von 1000 Frauen für knapp sieben Monate nach Freiberg in das Zwangsarbeiterlager der „Freia“ verbracht. Dann am 14. April 1945 von der SS in offene Kohlenwaggons gepfercht, erlebten sie eine zweiwöchige Odyssee, waren Schnee und Regen ausgesetzt, ohne Nahrung. Ziel der SS: auch im eigenen Untergang diese 1000 Frauen noch zu vernichten. Schließlich trieben die Schergen die verzweifelten, völlig entkräfteten Frauen an der geifernden Bevölkerung von Mauthausen vorbei, hoch auf die große Wiese vor dem KZ oder auch durch die Tore. Doch das Zyklon B war gerade ausgegangen, das Rote Kreuz war bereits dabei, die Gaskammern zu schließen und die zum Tode bestimmten Frauen wurden am 5. Mai befreit.
Was in den Gedenkritualen in den Ländern der TäterInnen bis heute fehlt, ist zum einen nicht nur die Demut vor den Opfern sondern auch vor den Überlebenden, Demut vor deren Kraft und Würde überhaupt vor uns zu stehen. Zum anderen fehlt noch immer die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, individuell wie kollektiv. Verantwortung kann eben nicht auf Denkmäler und Feiertagsreden abgeschoben werden.
So hat eine Mehrheit der Nachgeborenen auf der TäterInnenseite es bis heute versäumt, ihren Eltern und Großeltern konkret zur Rechenschaft für ihre konkrete Mittäterschaft abzuverlangen. Doch auch auf dieser Seite heilt die Zeit nichts. Die Nazi Introjekte schwären weiter. Das zeigte erst kürzlich der Fall Günter Oettinger. In einer Kultur des Gedenkens und der Verantwortung wäre nicht nur der Nazi-Richter Filbinger niemals Ministerpräsident geworden sondern auch sein Ziehsohn Oettinger hätte sich nicht mehr halten können.
Ein weiteres Beispiel aus dem April 2007: Das „nur Spielen“ mit Nazisymbolik gilt mittlerweile längst schon in der Mitte als schick, wie der Erfolg der Gruppe „Rammstein“ zeigt. Am 20. April fand im Hamburger Hafen die angeblich aufwendigste Schiffstaufe der Seefahrt statt. Anlässlich der Fertigstellung des Luxuskreuzschiffes „Aidadiva“ war der Lichttechniker der Herrenband „Rammstein“ damit beauftragt worden, eine Lichtshow zu entwerfen. Bereits im Vorfeld war dabei sogar der Redaktion des konservativen „Hamburger Abendblattes“ mulmig geworden, zu detailgetreu war schon aus den Plänen ersichtlich, wie sehr diese Lichtspiele dem „Lichtdom“ von Albrecht Speer nachempfunden worden waren. Das Blatt fragte: „Lichtdom-Ästhetik – und das am 20. April? Monumentale Scheinwerfer-Choreografie an Hitlers Geburtstag…“ Das Abendblatt blieb die fast einzige mahnende Stimme, das öffentlich-rechtliche Regionalfernsehen hingegen mobilisierte und machte gar Scherzchen zur Bedeutung des 20. Aprils. 350 000 Menschen strömten in dieser Nacht an den Hafen, um weihevoll dem martialischen Spektakel zu folgen. „Kitsch und Tod. Der Wiederschein des Nazismus“, bereits 1984 hat Saul Friedländer dieses Phänomen in seinem berühmten Essay beschrieben. Dagegen existiert in diesem Land keine nennenswerte kollektive Spurensuche nach der Mittäterschaft der eigenen Familien, wie das Gunter Haug in seinem neuen Buch „Dieses eine Leben“ ergreifend geschildert hat. Gäbe es diese Bereitschaft zur Spurensuche, wären Hamburger und Hamburgerinnen, statt sich am Nachklatsch von Reichsparteitagsinszenierungen zu amüsieren, längst zum Beispiel auf die Idee gekommen, der vielen Zwangsarbeiterinnen zu gedenken, die noch in den letzten Wochen vor der Befreiung im Hamburger Hafen von der SS gequält wurden.
„Die andere Zeit in uns“
Von Brigitta Huhnke
Sie könne an keinem Tag vergessen, sagt Lydia R. Die schöne Frau, 1923 in Lodz geboren, mit warmen Augen und dunklen Haaren sehr viel jünger wirkend, feiert in diesen Tagen ihren zweiten Geburtstag: Vor 62 Jahren ist Lydia R, mit fast 1000 anderen Frauen in Mauthausen befreit worden. Zwei Wochen zuvor hatte SS diese 1000 Frauen aus dem Zwangsarbeiterlager in Freiberg in offene Kohlenwagen gepfercht, um sie in dem noch nicht befreiten KZ zu vergasen.
Seit 45 Jahren lebt Frau R. in einer westdeutschen Stadt, hat zwei Töchter groß gezogen, eine Gastwirtschaft gehabt. Früher führte die Mutter in Lodz einen Kindersalon. Am 7. und 8. September 1939 haben Wehrmacht und SS auch in Lodz leichtes Spiel, gegen die Pferdewagen der polnischen Armee, unterstützt von 150 000 Volksdeutschen. Terror vom ersten Tag an: Sie fangen Juden regelrecht ein, schneiden Männern die Bärte ab, befehlen Menschen, auf Knien die Straße zu putzen, rauben Wohnungen aus. Wenig später entsteht in der Altstadt das berüchtigte Ghetto Lodz, dem SS und Volksdeutsche den Namen „Litzmannstadt“ verpassen.
„Wissen Sie, wie das ist, mit 17 Jahren ein Ungeziefer zu sein?“, sagt Lydia R. vor der Haustür der gleichaltrigen Freundin. Deren Vater besaß in der Nähe von Lodz eine Textilfabrik. Auch Lisa R. ist immer noch eine agile, attraktive Frau, noch bis vor einigen Jahren hat sie für einen großen deutschen Betrieb noch weltweit Projekte für Anlagenbau betreut. Völlig mittellos war sie 1969 mit dem Sohn ins Land der Täter gekommen, hatte Polen 1969 verlassen müssen, wieder auflebender Antisemitismus beendete ihre wissenschaftliche Karriere damals abrupt.
Nach kurzer Zeit sind die beiden Frauen ganz da. Sich gegenseitig behutsam stützend, holen sie im Fluss ihrer Erzählungen schmerzhafte Momente der Qualen zurück. „Wir tragen noch die andere Zeit in uns“, erklärt Lisa R. Vieles bleibt für sie unerklärlich: „So ein systematisches Morden, so eine Industrie, so kaltblütig“ sagt Lydia R. Die Freundin wird nie den 3. März 1942 vergessen, als sie gezwungen wird, mit geradem Blick der öffentlichen Hinrichtung von zehn Menschen beizuwohnen, unter Beifall vieler Volksdeutscher. Der Bruder der jungen Lydia ist zu dem Zeitpunkt schon in Lodz verhungert, die Eltern können 1942 von einem Transport fliehen. In der Nähe, in Chelmno wurde vergast. „Es war eine Todesstrafe auf Raten“. Nur wenige Monate später verhungern auch die Eltern. Fünf lange Jahre leben die jungen Frauen im Terror von Lodz.
„Immer kamen sie in der Nacht, dann wenn ein Mensch in der inneren Ruhe ist“, sagt Lisa R. Beide kommen im August 1944 nach Auschwitz. Lisa R. kann ihre Verluste nur schrittweise zulassen. „Bis heute hat bei mir das Schweigen Bestand. Jetzt bricht es manchmal wie ein Wasserfall auf, jetzt am Ende des Lebens.“ Beide Frauen finden oft in Büchern Halt, für ihre Erinnerungen, die Albträume, ihre Trauer. Nicht nur in ihren reichhaltigen Sammlungen von Berichten anderer Überlebender. Besonders Lydia R. sucht zudem überall auch in der Weltliteratur nach Erklärung, nach Linderung, damit das Erlebte sie nicht zu sehr überflutet.
„Die Polinnen haben noch mehr gelitten als wir“, sagt Hana Reinerová. Die Pragerin, geb.1921, hatte schon alles verloren, als sie 1942 mit ihrem Mann nach Theresienstadt kommt, den geliebten Bruder, die Eltern, Freunde. Mit ihrem Mann, dem Komponisten Karel Reiner, arbeitet sie im Kinderheim für Jungen. Sie organisieren erfolgreich illegalen Unterricht. Keiner von den Jungen wird überleben. Im Mädchenheim von Theresienstadt sitzt Helga Weissová, geb.1929, stundenlang mit Papier und Stift auf der Pritsche. „Zeichne, was du siehst“, trägt ihr der Vater auf. Für seine Frau schreibt er kurz vor seinem Tod eine bittere Parabel auf den jüdischen Gott, Tochter Helga zeichnet dazu. Nicht nur die Kinderbilder aus Theresienstadt und Auschwitz haben die Malerin weltberühmt gemacht. Bis heute sucht sie künstlerisch nach dem warum.
Lisa Miková, geb. 1922, zeichnet im technischen Büro der Theresienstädter Lagerverwaltung, Schilder wie „Eintritt verboten“, aber auch eine zeitlang illegale Pläne für den Untergrund. Alle drei Pragerinnen stammen aus links-liberalen Elternhäusern, wuchsen behütet auf, lernten Sprachen. Deutsch sprechen sie perfekt, dieses weiche Prager Deutsch, deren Grammatik und Wortschatz sie kunstvoll beherrschen, auch damit beim Erzählen in Bann ziehen. Sterben, Angst, das ist auch in Theresienstadt Alltag.
Die drei Pragerinnen werden ebenfalls nach Auschwitz verschleppt. Wie durch ein Wunder passiert die noch nicht fünfzehnjährige Helga mit der Mutter Mengeles Selektion. Die Peitsche, seine weißen Handschuhe, die blitzblanken Schuhe verfolgen auch Lisa R. noch immer. Kinder weinen. Das Schreien, „schnell, schnell, rechts, links. Das waren Inszenierungen wie in einem Theaterstück“, sagt sie. Einen Napf Suppe am Tag, den sich mehrere Frauen ohne Löffel teilen. Aufseherinnen mit Peitschen drangsalieren in den Baracken, beim Appellstehen. „Manche waren bestialisch, ärger als die Männer, haben die Frauen geschlagen, angebrüllt“, erinnert Lisa Mikova, noch immer wie fast betäubt und doch: „Wenn man jung ist, hält man einiges aus.“ Weinen kann sie erst viel später, das unendliche Verlassensein von den Eltern, die in Auschwitz umkommen, dort noch nicht spüren: „Wir waren nicht hysterisch, haben uns eigentlich ganz normal benommen.“ Anders wären sie zerbrochen. Hygiene ist nicht möglich, einige Frauen und Mädchen haben noch die Menstruation, keine Unterwäsche. Einige Tschechinnen müssen Blut aus ihren Adern lassen, für Arier an der Front. Ausziehen, wieder Selektion, Herrenmenschen weiden sich in ihrer Mordlust an den Körpern der schutzlosen Frauen. „Das war ekelhaft, da stand diese Reihe junger Männer, die haben gelacht, sich über uns amüsiert.“, erinnert Reinerová.
Wieder in Waggons. Nach ein paar Tagen treibt SS im Morgengrauen die fast 1000, halb verhungerten, durstigen Frauen, überwiegend Polinnen und Tschechinnen durch Freiberg bei Dresden. In der „Freia“, einem Rüstungsbetrieb, zerren „Meister“, findige Kerle, die sich Fronteinsätzen für den „Endsieg“ entzogen haben, bei Wohlgefallen die jeweilige Frau mit dem Spazierstock um den Hals aus der Reihe in ihre Hallen. Sie müssen Flugzeugteile zusammenbauen. „Deutschland muss leben, selbst wenn wir sterben müssen“ oder „Was nicht gute Rasse ist, ist Spreu“, steht an den Wänden. Die oft betrunkenen „Meister“, ganz besonders auch die Aufseherinnen, schikanieren, schlagen, werfen mit Gegenständen, aber morden nicht. Die „SS Weiber“ können ihnen sogar die Toilette verweigern. Sie schuften in zwölf Stundenschichten, feilen, fräsen, bohren, heben schwer, den ganzen Tag stehend. Am Morgen schwarzes Wasser, mittags dünne Suppe, abends Brot und Rübenmarmelade. Nachts frieren sie, Wanzen beißen sich in die Haut. Mindestens viermal am Tag treibt SS jeweils fast 500 Frauen durch die Straßen. Doch erinnern will in Freiberg die Zwangsarbeiterinnen, die kahlgeschorenen Köpfe, die bizarre Kleidung bis heute kaum jemand. „Wir waren zum Tode bestimmt“ sagt Lisa Mikova. Unter gleichnamigem Titel hat der Sozialwissenschaftler Michael Düsing mit arbeitslosen Freiberger Jugendlichen 2002 einen Sammelband erstellt. Dafür haben sie einige Dutzend ehemalige Zwangsarbeiterinnen befragt.
Die drei Pragerinnen sind in den letzten Jahren einige Male nach Freiberg gekommen. Etwa 70 Jugendliche, aus der gymnasialen Stufe der 10. Klassen, erleben an einem Herbsttag 2005 Hana Reinerová und Helga Weissová-Hosková, zwei elegante ältere Frauen, die vom Alter ihre Großmütter oder Urgroßmütter sein könnten. Sie sind zunächst unsicher, ob sie die Schülerinnen und Schüler duzen oder „Sie“ sagen sollen. Helga Weissova-Hosková erklärt gleich am Anfang warum. Deutsch habe sie erst als 12 Jährige in Theresienstadt gelernt.
„Aber auch Auschwitz war immer noch Grammatikunterricht für mich“, erklärt Weissová-Hosková den Jugendlichen ganz ruhig, ohne Sarkasmus. Dort hätte die SS niemanden mit „Sie“ angeredet, sondern nur mit „ihr“ angeschrieen, weil sie ja „Untermenschen“ gewesen seien. Beide erzählen vor den Jugendlichen nicht, wie sie nicht nur geduzt wurden, sondern wie SS Schergen sie auch noch in Freiberg mit „Schweine“ oder „Saujuden“ täglich beschimpften, dabei oft getreten und geschlagen haben.
In ihrem melodischen Prager Deutsch erzählen sie weiter, ohne Anklage. Die Jugendlichen sind alle sehr ruhig, ernst, einige kämpfen bald mit den Tränen. In dieser Form jugendlicher Ehrerbietung verharren sie anderthalb Stunden lang. Sie scheinen zu realisieren, wen sie hier vor sich haben: Angehörige einer täglich kleiner werdenden Gruppe der letzten Zeuginnen für die schlimmsten Verbrechen, die Deutsche den europäischen Jüdinnen und Juden angetan haben. „Ich bin ein Theresienstädter Kind“, sagt Helga Weissová. Von dort 15 000 Kindern haben höchsten 150 überlebt. Was sie nicht erzählt: ihre eigenen Kinder und Enkelinnen beurteilen diese Reisen nach Freiberg oft skeptisch: „Warum fahrt ihr da hin, wo ihr so grausam behandelt worden seid?“ Neu ist für die Jugendlichen auch die Sicht der Zwangsarbeiterinnen auf die Bombardierung Dresdens. Auch die schutzlosen Frauen sehen damals den Himmel brennen. Auch sie, zumal in Räumen eines Rüstungsbetriebes eingesperrt, kann jederzeit ein Angriff treffen. Doch keine, die sich damals nicht freut, nach Jahren das erste Mal hofft: „Wir wussten der Krieg ist nun bald vorbei“, sagt Hana Reinerová.
Doch noch geht die Pein weiter. Sie bekommen kaum noch Nahrung, manche essen Gras, die Arbeit wird im März 1945 eingestellt. Beide Polinnen erinnern, wie viele Tschechinnen nicht nur immer wieder Rezepte austauschen sondern einige auch verzweifelt mit den Händen gestikulierend ein gemeinsames Essen imaginieren. Mitte April 1945: wieder in einen Zug, diesmal in offene Kohlenwagen. Neben Lisa Miková beschimpft die Frau eines Rabbiners in ihrem Hungerwahn die Frauen im Viehwagen, an all dem schuld zu sein, „weil wir Gott verlassen haben“. Nach vierzehn Tagen wieder „raus, raus, schnell, schnell“. SS treibt die völlig entkräfteten fast 1000 Frauen, unter ihnen auch die beiden Polinnen aus Lodz und die drei Pragerinnen jetzt durch Mauthausen. Auch hier ist die zuschauende Bevölkerung erbarmungslos, als einige der Frauen sich auf den Brunnen stürzten. „Wir waren so schrecklich durstig. Ich meine, wir haben von ihnen nicht Sympathie Bezeugung verlangt, aber dass sie ausspucken und Steine werfen, das hat ja nicht sein müssen“, noch heute verspürt Miková keine Wut. Sie werden „die Stiegen hochgejagt, wir waren nur noch wankende Gestalten, uns war alles egal, so wie wir aussehen, wir gehen jetzt ins Gas“. Nur wenige Stunden vorher hatte das rote Kreuz die Gaskammer geschlossen. Die Befreiung durch die Amerikaner am 5./6. Mai bekommen die Frauen kaum noch mit.
Zurück in Prag zurück, versuchen sie wieder in das Leben zu kommen. Hana Reinerová arbeitet als Dolmetscherin, bald auch als Übersetzerin, Helga Weissová als Künstlerin, Lisa Miková lange für das Kulturministerium der DDR und für das tschechische. Alle drei heiraten, bekommen Kinder. Alle drei werden auch durch wieder aufflammenden Antisemitismus re-traumatisiert, in den fünfziger Jahren, aber auch nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, wenn auch nicht in so bedrohlichen Formen, die Lisa R. und Lydia R. in Polen erleben. Doch Miková bekommt, auf Betreiben der DDR Regierung, kurz vor der Pensionierung Berufsverbot.
Auch diese drei Frauen halten wie die beiden Frauen aus Lodz dem täglichen Sturm der Erinnerungen mit gegenseitiger Fürsorglichkeit und Solidarität stand. Und sie geben Zeugnis, im In- und Ausland, sind in der Theresienstädter Initiative aktiv. Die 1000 jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die damals aus Freiberg kamen, aber auch die Sinti und Roma Frauen oder die jüdischen Ungarinnen, die hier überwiegend noch in den letzten Wochen vor der Befreiung umgebracht worden sind, haben auch 62 Jahre danach kaum Interesse in der historischen Forschung gefunden. Ihre Lebensgeschichten jedoch könnten Zeugnis geben, Zeugnis über gewaltsam zerstörte Familien, über unvorstellbares Leid, Zeugnis über die speziellen Grausamkeiten, die Frauen von SS, Wehrmacht, aber auch deutscher und österreichischer Bevölkerung zugefügt worden sind.
Lydia R. und Lisa R betrachten auch in der Bundesrepublik vieles mit Skepsis, besonders den Rechtsextremismus und Rassismus. Und sie haben beide gerade in der deutschen Generation ihrer heute erwachsenen, in den fünfziger Jahren geborenen Kinder oft mangelnde elterliche Liebe und Fürsorge, vielfach eine innere Leere in deutschen Familien beobachtet: „Die Deutschen müssten eines verstehen: Es gibt keine Folgen ohne Ursachen. Und die Ursache der kranken Seele ist Auschwitz“, sagt Lisa R. Fast jeden Tag zündet sie auf ihrem kleinen Schrein im Wohnzimmer eine Kerze an, nach wie vor für die 144 umgekommenen Mitglieder ihrer großen Verwandtschaft, aber mehr und mehr auch für Freundinnen und Bekannte, die jetzt nach und nach immer häufiger gehen.