Der Schlussverkauf öffentlicher Bildung soll beginnen
Die Behauptung, dass PISA alles besser mache, ist durch die Realität in deutschen Klassenzimmern evident widerlegt. Die Kritik am „Besser durch Messen“ gewann daher auch zunehmend an Fahrt. Eine in der ZEIT unter der Überschrift „Unser Schulsystem ist ineffizient. Die Pisa-Gewinner kommen mit weniger Lehrern und geringerer Bezahlung aus“ vorgestellte Studie der britischen Bildungsberatung Gems Education Solutions heizt die Debatte nun auf neue Art an, werden ob derlei „PISA-Analysen“ doch zunehmend Fragen laut, ob das stete Wiegen, das die sprichwörtliche Sau, so die Kritiker, ohnehin noch nie fetter gemacht habe, nicht womöglich von Beginn an viel mehr auf Kürzungen nationaler Bildungsbudgets denn auf reale Verbesserungen der Lernbedingungen deutscher Schüler ausgerichtet gewesen ist. Jens Wernicke sprach hierzu mit dem renommierten PISA-Kritiker und stellvertretenden Geschäftsführer der Gesellschaft Bildung und Wissen Matthias Burchardt[*].
Herr Burchardt, nun ist die Katze endlich aus dem Sack. Denn Wissenschaftler haben festgestellt, dass – ich zitiere:
„Deutschland (…) im neuen internationalen Index zur Effizienz der Bildungssysteme von 30 OECD-Ländern ganz weit hinten auf Platz 25 und damit hinter allen anderen nordeuropäischen Ländern mit Ausnahme der Schweiz – und das trotz einer relativ hohen PISA-Platzierung“ liege. Unser Bildungssystem soll also – das wundert mich sehr – offensichtlich zum einen gut sein und zum anderen – das irritiert mich noch mehr – auch noch „teurer als notwendig“…
Na, das sind ja wirklich einmal gute Neuigkeiten! Bedenken Sie nur, wie viel Geld jetzt plötzlich erwiesenermaßen frei werden könnte für humanitäre Destabilisierungskriege oder Bankenrettungen… Aber im Ernst: Sie verstehen das schon richtig. Beide Thesen werden von den Urhebern der Studie sehr deutlich formuliert. Und die Lösung haben sie auch gleich parat, denn zum einen seien die Klassen hierzulande zu klein und zum anderen verdienten die Lehrer zu viel. Dass sich dieser Unfug noch als Wissenschaft darzustellen vermag, sagt sicher mehr über den Verfall der Wissenschaft als über die Qualität oder „Effizienz“ unseres Bildungssystems aus.
Leider bleibt derlei Junk-Science im Dienste von Lobby-Gruppen jedoch nicht folgenlos. Ganz im Gegenteil: Immer mehr orientiert sich die Politik im Lande an „äußeren Einflussnahmen“, was unser Bildungssystem zunehmend bedroht. Die aktuelle Form der Meinungsmache geht dabei jedoch über das Bisherige noch deutlich hinaus, sodass ich meine, dass hier soeben Phase 2 des globalen Bildungsputsches eingeleitet wird: Nachdem die Öffentlichkeit die OECD-Doktrin einer funktional-ökonomistischen Transformation der Bildung geschluckt hat, soll nun offenbar mit dem finanziellen Ausweiden des Systems begonnen werden. Die Hetzjagd war erfolgreich und nun wird die Beute ausgenommen.
Der „Ausweiden“ des Systems…?
Ja, lassen Sie mich das mithilfe eines Vergleiches beschreiben: Eine Suppe wird billiger in der Produktion, wenn ich statt der ursprünglich gehaltvollen Zutaten nur Wasser mit billigen künstlichen Aromen verwende. Wenn dann noch der Tütensuppenhersteller die Hoheit über die Qualitätsmaßstäbe erhält und alle Köche weltweit testen darf, wird zwangläufig jeder zum Verlierer, der noch aufwendig oder gar nahrhaft kocht! Die Folgen sind dann nicht nur ein Verlust der Vielfalt regionaler Gerichte und die Verkümmerung des Geschmackssinns, sondern ist in letzter Konsequenz auch Mangelernährung, wenn nicht gar existenzieller Hunger! Den wird man aber nicht mehr als vorhanden anerkennen, denn: Der Tütensuppenhersteller, der nun ja selbst die „Qualität“ des Essens anhand vermeintlich objektiver Kriterien vermisst, argumentiert jetzt schlicht, unabhängige empirische Untersuchungen hätten ergeben, dass das aktuelle Essen die Geschmacksknospen genauso stimuliere wie das frühere, es also dieselbe Qualität wie eh und je besäße, nun jedoch viel billiger – das nennen die dann „effizienter“ – sei.
Und eben das beobachten wir gerade im Bildungssystem: Da reduziert die OECD Bildung zuerst auf funktionale Minimal-Kompetenzen und der Mehrwert, den Lehrer trotz aller Reformen den Kindern immer noch zu bieten versuchen – damit meine ich etwa Wissenschaftlichkeit, Kultur, Demokratie, Ethik oder den notwendigen Raum zur Entfaltung der Persönlichkeit –, erscheint dann logischerweise als Einsparpotential. Nach dem Eulenspiegel-Experiment von Hans-Peter Klein, das gezeigt hat, dass bereits Neuntklässler in großer Zahl eine Abituraufgabe des Leistungskurses Biologie erfolgreich lösen können, hatten viele Kollegen noch gewitzelt: „Die Untersuchung zeigt, dass die PISA-Reformen in Deutschland so erfolgreich waren, dass die Schulzeit ab dem 10. Schuljahr gleich ganz entfallen kann.“ Die von Ihnen zitierte Effizienzstudie macht mit diesem zynischen Gedanken nun Ernst.
Aber Gems Education Solutions und die OECD sind doch zwei verschiedene Akteure im Bildungsbereich…?
Das stimmt, das bedeutet aber noch lange nicht, dass Beide nicht auch dieselben Interessen vertreten. In der Pressemittelung zur aktuellen Studie wird daher auch sicher nicht umsonst als einer der prominentesten Unterstützer der deutsche PISA-Koordinator Andreas Schleicher zitiert.
Und der meint:
„Dieser Bericht bietet einen erfrischenden Einblick in internationale Vergleichsdaten zur Untersuchung der Ausgabenpolitik derjenigen Länder, die mit den wenigsten Ressourcen die besten Ergebnisse erzielen. Er bricht das Schweigen um die Effizienz von Bildungsdienstleistungen.“
Obwohl die Ausgaben pro Schüler in Industrieländern in den letzten zehn Jahren um über 30 % gestiegen sind, bleiben die Lernergebnisse der meisten Länder unverändert niedrig. Diejenigen Länder, die Bildungsdienstleistungen als zu wichtig erachten, um sie an ihrer Effizienz zu messen, verwehren vielen Kindern eine bessere Bildung und ein besseres Leben.
Das ist wohl kaum mehr anders denn als Demagogie zu bezeichnen. Denn hier flankiert die OECD eine gegen die Menschen gerichtete Auswertung ihrer eignen Daten mit der Behauptung, es müsse endlich um „die Effizienz von Bildungsdienstleistungen“ – die Wortwahl hier kommt sicher nicht von ungefähr – gehen. Und dann folgt ein Absatz, dem auch gleich noch zu entnehmen ist, wie verschwommen und suggestiv hier gearbeitet wird. Denn dieser erweckt den Eindruck, dass auch er noch Aussage Schleichers sei – klar ist das aber bei weitem nicht. Jedenfalls folgt in diesem Absatz dann die Behauptung, wer sich für mehr Geld für Bildung einsetze, schade den Kindern, wer hingegen Kürzungen an dieser vornehme, verhelfe ihnen zur Chance auf ein besseres Leben. Schuld an den massiven Problemen unseres Bildungssystems sind also die Verhinderer und Kritiker weiteren Bildungsabbaus, also diejenigen, die einer Reform im neoliberalen Sinne entgegenstehen, selbst. Chapeau, wirklich brillant argumentiert!
Also, wenn dem tatsächlich so ist: Wieso gibt es dagegen dann keinen breiten Widerstand? Wie kommt es, dass nicht bereits tausende gegen die Ökonomisierung von Bildung auf den Straßen sind?
Nun, wir haben es hier mit einer seit geraumer Zeit andauernden Propaganda zu tun, die flächendeckend und zugleich punktgenau und adressatenbezogen die Ökonomisierung von Bildung als alternativlos erscheinen lassen soll – und dieses Ziel leider in den meisten Fällen auch erreicht. Da werden Politikern – je nach Lager – wirtschaftlicher Erfolg respektive soziale Gerechtigkeit versprochen – und zwar bei gleichzeitiger Kostenreduktion. Eltern der Mittelschicht hingegen wird mit Statusverlust gedroht und den so genannten „bildungsfernen Schichten“ – übrigens eine üble Diffamierung und Beschönigung gesellschaftlich produzierter Armut! – und „Migranten“ wird Aufstieg durch Investitionen in Bildung versprochen. Und Wissenschaftler schließlich werden mit Drittmitteln geködert oder kaltgestellt und zivilgesellschaftliche Akteure mittels des Einflusses privater Stiftungen intellektuell neutralisiert. Manche Verbände versprechen sich auch strategische Vorteile oder gar die Möglichkeit „konstruktiver Einflussnahme“ aus einer Kooperation mit der OECD, mit der Bertelsmann-Stiftung oder anderen und werden dadurch nolens volens zu Erfüllungsgehilfen.
Und die Medien?
Also den Journalisten fehlt es in aller Regel schlicht an der Zeit und dem Weitblick für die tatsächlich notwendigen Recherchen, wenn sie nicht ohnehin schon für Organe arbeiten, auf deren Agenda die ökonomistische Transformation der Gesellschaft steht. Die ZEIT und der SPIEGEL beispielsweise erwecken hier gelegentlich sehr deutlich den Eindruck, ihr journalistisches Ethos eher Konzerninteressen unterzuordnen.
…man hat uns also allen das Gehirn gewachsen und uns „verdummt“ – meinen Sie das?
Erschreckend ist für mich in erster Linie die politische Naivität der akademischen Eliten, die den radikalen Eingriff in das System seit dem Ende der 90-iger Jahre nicht bemerkt, geschweige denn bekämpft haben. Denn wo war – von einzelnen Stimmen mal abgesehen – der Widerstand von Professoren und Intellektuellen gegen die Bologna-Reformen und die zerstörerische Landesgesetzgebung, welche in Deutschland de facto Hochschulen zunehmend zu bildungsreduzierten Zertifikatausstellungsagenturen gemacht haben?
Angesichts dieses dramatischen Scheiterns kann man Lehrern oder Eltern gar keinen Vorwurf machen. Zumal der Ökonomismus in seiner schlichten Logik ja auch zunächst eine gewisse Plausibilität zu haben scheint: Wenn wir Bildungseinrichtungen als Unternehmen organisieren, können wir durch Management die Output-Qualität steigern und die Mitteleffizienz erhöhen – wurde da behauptet und wird es heute noch. Und die Empirische Bildungsforschung versprach dann zusätzlich noch Wirksamkeitsnachweise, kassierte öffentliche Gelder und wurde schließlich selbst zum Profiteur des funktional-ökonomistischen Komplotts gegen traditionale Bildungs- und Sozialansprüche.
Die notwendige Kritik an der Ökonomisierung von Bildung ist inzwischen glücklicherweise geleistet: Wer Bildung ausschließlich ökonomisch beschreibt, verkennt die Komplexität der Wirklichkeit. Und wer sie dennoch derart gestaltet, begeht einen Kategorienfehler und zerstört dadurch ein wesentliches menschliches Selbsterkenntnis- und Entfaltungspotential. Der Mensch ist weder Produkt noch Unternehmer seiner selbst, ein Bildungsgang ist kein Produktionsprozess, die Gesellschaft kein Markt. Wer dies propagiert, greift totalitär aus einem gesellschaftlichen Feld auf ein anderes über – und, ja: erklärt diesem sozusagen den Krieg.
Und die von Ihnen erwähnte „Propaganda“ und die Strategien der Meinungsmache – was meinen Sie da konkret?
Lassen Sie mich den PISA-Coup der OECD einmal propagandatheoretisch aufrollen:
Der Kern von guter PR besteht seit Walter Lippmann und Edward Bernays in der Implantation von inneren Bildern und Konzepten, die als Grundlage von Wahrnehmung, Denken und Handeln funktionieren. Heut wird das wohl „Framing“ genannt.
Diese inneren Bilder und Konzepte sollen den Manipulierten jedenfalls das Gefühl von freien Entscheidungen lassen, solange sich diese im Rahmen der PR-Schablonen bewegen. Dazu müssen aber zwei Korrektive neutralisiert werden: 1. Die unbestechliche Urteilskraft, also das kritische Denken, das auch seine eigenen Grundlagen gegebenenfalls einer Prüfung zu unterziehen vermag. Und 2. der Kontakt mit jenen Phänomenen, die den Propaganda-Bildern widersprechen könnten.
Beides lässt sich aktuell gut in der Transformation der öffentlichen Meinung in Bezug auf die Militarisierung der Außenpolitik in den Nato-Demokratien beobachten. Da wird zum einen „geframed“: Töten und Drohen gelten als Akte des Humanismus und sollen gut sowie mit dem christlichen Menschenbild zu vereinen ein. Oder Frau von der Leyen setzt sich ganz im Sinne der „Work-Life-Balance“ für die Vereinbarkeit von Familie und Tot-Geschossen-Werden ein. Wenn die Bundeswehr aber vorwiegend als „humanistische Vereinigung“ und „Deutschlands größter Arbeitgeber“ geframed ist, dann ist Krieg schließlich auch nur „business as usual“. Und auf der anderen Seite wird eben mittels Verschweigen und Auslassen kritisches Denken unterminiert: Da wird die vermeintliche Gegenseite als das Böse schlechthin inszeniert, ist kein Partner mehr, sondern Feind etc. Unserer Wahrnehmung entzogen werden dabei die eigene Verantwortung und die Opfer „unserer“ Kriege und Einflussnahmen. Darauf haben Sie auf den Nachdenkseiten ja auch glücklicherweise bereits mehrfach hingewiesen.
In Bezug auf das Bildungsthema hat hier die PISA-Studie einen erheblich Beitrag zur Umprogrammierung von Denk- und Wahrnehmungsmustern geleistet: Das Anliegen bestand dabei von Anfang an nicht etwa in der Erfassung der Vielfalt und Leistungsfähigkeit der OECD-Bildungssysteme, sondern vielmehr in deren Transformation.
Hätte man sich für die bestehende Wirklichkeit interessiert, hätte man die Studie nämlich gänzlich anders anlegen müssen: qualitativ beschreibend und kultursensibel differenziert. Stattdessen hat man einen einzigen, kulturindifferenten Maßstab angelegt, der implizit zur Norm künftiger Reformen gemacht wurde. Und zugleich etablierte man durch das Testverfahren einen – durch scheinbare Wissenschaftlichkeit geadelten – „objektiven Maßstab“, der gegen aufklärerisch-theoretische sowie lebensnah-praktische Kritik immunisieren sollte – und dies leider viel zu oft tut: Wenn Eltern, Lehrkräfte, Professorinnen, die IHKs oder Personalchefs in mittelständischen Unternehmen nun in ihrem unmittelbaren Umfeld tatsächliche konkrete und evidente Verschlechterungen in Folge der Transformationen feststellen, reichen faktische Problemlagen allein schlicht nicht mehr aus, um dem Zahlenpotpourri Andreas Schleichers, das ja ständige „Reformerfolge“ verkündet, überhaupt ein Fragezeichen zu setzen. So mächtig wirken die PISA-Frames gegen den gesunden Menschenverstand und das Zutrauen in die eigene Wahrnehmung.
Was also tun?
Also zunächst muss die Analyse klar sein: PISA ist wissenschaftlich fragwürdig und politisch an Partikularinteressen orientiert. Wer darauf Empfehlungen zur Vergrößerung von Schulklassen oder zur Entlohnung von Lehrern aufbaut, handelt wider bessere Einsicht und gegen das Allgemeinwohl. Es ist mehr als absurd, aus einer derart verzerrten und interessierten Darstellung der Bildungswirklichkeit irgendwelche politischen Handlungen abzuleiten.
Das sollten – und ich vermute: werden – die Akteure, die jetzt Effizienzsteigerungen einfordern, auch wissen, und deshalb müssen wir wohl davon ausgehen, dass es sich hier um den Beginn des finalen Angriffs auf die Errungenschaft öffentlicher Bildung als Grundlage von Kultur, Demokratie und Gerechtigkeit handelt.
Daher ist es höchste Zeit, dass wir unseren Anspruch auf elementare Lebensqualitäten und Lebensgrundlagen – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – in gemeinschaftlicher Verantwortung artikulieren und gegen die global agierenden Macht- und Geldeliten durchsetzen.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
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[«*] Matthias Burchardt ist Akademischer Rat am Institut für Bildungsphilosophie an der Universität zu Köln und entschiedener Kritiker der Bildungsreformen im Namen von PISA und Bologna.