Rezension: Die Transparenz-Hölle
Der amerikanische Autor Dave Eggers hat einen Roman über ein fiktives, weltweit operierendes IT-Unternehmen namens Circle geschrieben, das wie eine Verschmelzung von Facebook, Apple, Google, Amazon und Twitter anmutet. Götz Eisenberg hat das Buch gelesen.
Ich möchte den Leserinnen und Lesern der Nachdenkseiten ein Buch zur Lektüre empfehlen, das ich gerade mit einer Mischung aus Faszination und Schaudern gelesen habe. Die Rede ist vom neuen Roman von Dave Eggers, welcher Der Circle heißt und dieser Tage im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Er vermittelt uns tiefe Einblicke in die Mechanismen der Kontrollgesellschaft und eine digitale Zukunft, die in den USA – und nicht nur dort – bereichsweise schon Gegenwart sind. Im Zentrum des Romans steht ein weltbeherrschendes IT-Unternehmen, das wie aus Google, Amazon, Facebook und Twitter zusammengesetzt scheint. Circle hat einen Anteil von 90 Prozent am Suchmaschinenmarkt, 88 Prozent am Freemail-Markt, 92 Prozent am SMS-Markt. Wer hier Einlass findet – und Mae Holland, die Hauptfigur des Romans – erlebt das als Erfüllung ihrer kühnsten Träume und wie die Erhebung in den digitalen Adelsstand -, betritt eine Transparenz-Hölle mit der Pflicht zu ständiger guter Laune und Gesundheit. Das Smiley und das Service-Lächeln beherrschen die Kommunikation mit den Kunden und den Umgang untereinander. Alle sind permanent „gut drauf“, wer es nicht ist, erregt Verdacht. Die Mitarbeiter der von Eggers erfundenen Firma Circle tragen samt und sonders Armbänder, die permanent Daten über den Körper erheben und an eine Gesundheitszentrale senden, die sie auswertet. Ein in den Körper aufgenommener Sensor sammelt Daten über Herzfrequenz, Blutdruck, Cholesterin, Wärmefluktuation, Kalorienverbrauch, Kalorienaufnahme, Schlafdauer, Schlafqualität, Verdauungseffizienz und so weiter. In der Firma läuft ein Entwicklungsprojekt, das mit Hochdruck daran arbeitet, das Mäandern der Träume zu begradigen und den Schlaf dem Prinzip der Nützlichkeit und Effizienz zu unterstellen. Wir sollen nachts nicht länger wunsch- und lustbetont umherschweifen, sondern weiter an Problemlösungen arbeiten. Alle vierzehn Tage werden alle Mitarbeiter in die firmeneigene Klinik zum Check einbestellt. Die „Work-Life-Balance“ eines jeden wird ständig kontrolliert. Es soll auf diesem Weg zu ernsten Krankheiten gar nicht erst kommen. Die Rundum-Überwachung der Welt und die universelle Sichtbarkeit und Transparenz sollen die Kriminalität und den Kindesmissbrauch zum Verschwinden bringen. Kinder werden serienmäßig mit Chips ausgestattet, die ihre ständige Ortung und Überwachung ermöglichen. Die ganze Welt wird mit winzigen Kameras verwanzt. Von überall aus kann man sehen, was auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking los ist, ob beim Lieblings-Italiener Platz ist oder das Fitnesscenter überfüllt ist. Mae, die Heldin des Romans, wird gelegentlich vor irgendwelche Kontrollgremien geladen und muss sich rechtfertigen, warum sie an irgendwelchen Events nicht teilgenommen und sich der Circle-Gemeinschaft entzogen hat, die wie eine religiöse Sekte organisiert ist. Arbeit und Leben bilden eine Einheit, die Circler arbeiten, essen, feiern gemeinsam, sie suchen firmeneigene Fitnesscenter auf und kaufen in Läden ein, die zu Circle gehören. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nächtigen in einem Wohnheim, dass sich auf dem „Campus“ befindet.
„Alles sehen. Immer“, „Alles, was passiert, muss bekannt sein“, lauten zwei der Firmen-Maximen. Alle sind von zig Bildschirmen umgeben, jeder überwacht jeden, jeder ist sein eigenes Panoptikum, und alle erleben diese Überwachung als intimste ihrer Leidenschaften. Die Mitglieder von Circle konkurrieren in einem ständigen Ranking miteinander und erleben ihren Aufstieg von Platz 4798 auf 3879 der Firmenhierarchie als größtes Glück. Alle sind „fokussiert“ und „organisiert“ und voll bei der Circle-Sache, die sie zu ihrer eigenen gemacht haben. Auf einer großen Firmen-Versammlung erklärt sich die Kongressabgeordnete Olivia Santos bereit, als erste Politikerin ab sofort eine ständig laufende Kamera an ihrem Körper zu tragen, die jede ihrer Besprechungen, jede ihrer Bewegungen, jedes Wort von ihr der Öffentlichkeit zugänglich macht. Nur so lasse sich das Ziel vollständiger Transparenz in der Politik verwirklichen. Wer sich unter diesen Bedingungen nicht mir ihr treffen wolle, könne sich eben nicht mit ihr treffen. Santos löst durch ihr Pilotprojekt eine wahre Transparenz-Stampede unter Politikern aus. Wer es ablehnt, sich mit einer Circle-Kamera ausstatten zu lassen, gilt als jemand, der Transparenz scheut: „Wenn du nicht transparent bist, was hast du zu verbergen?“
Irgendwann wird Mae Holland ausgewählt, selbst eine dieser Minikameras zu tragen und das Ideal der Transparenz für alle Circle-User vorzuleben. Vor einem begeistert akklamierenden Publikum verkündet sie die Circle-Leitsätze: „Geheimnisse sind Lügen“ und „Alles Private ist Diebstahl“. Mae glaubt an das, was sie da verkündet. Zwischen ihr und dem Programm der Unternehmensführung, die Eggers die „drei Wiesen“ nennt, gibt es eine vollständige Übereinstimmung. „Geheimnisse führen zu antisozialem, unmoralischem und destruktivem Verhalten.“
Als Mae ihre Eltern besucht, trifft sie dort ihren ehemaligen Freund Mercer an, der in ihrem Heimatort geblieben ist und weiter Kronleuchter herstellt und verkauft und das Auslaufmodell der Realökonomie und des analogen Menschen verkörpert. „Wenn die Kunden sie ordern, stelle ich sie her und werde dafür bezahlt. Wenn ein Kunde anschließend etwas zu sagen hat, kann er mich anrufen oder mir schreiben. Ich meine, das ganze Zeug, mit dem du zu tun hast, das ist alles Klatsch und Tratsch.“ Mae hatte in ihrem Heimatort bei den Strom- und Gaswerken gearbeitet, ein Job, der ihr inzwischen wie der Inbegriff provinzieller Mittelmäßigkeit vorkommt und dessen sie sich schämt. Mercer spürt, dass Mae in eine andere Welt eingetaucht ist und sich ihm entfremdet hat. Durch seinen Mund artikuliert sich die alte Welt, wo Menschen richtige Dinge herstellten und in leiblicher Anwesenheit miteinander sprachen. „Kein Mensch braucht diese Menge an Kontakt, die ihr ermöglicht. Das verbessert nichts. Es ist nicht gesund. Es ist wie Junkfood.“
Eggers schreibt engagierte Literatur. In seinem im Jahr 2008 auf Deutsch erschienenen Roman Weit gegangen schildert er die Odysse des Valentino Achak Deng, der mit sieben Jahren aus seiner Heimat Sudan flieht und über Äthiopien und Kenia schließlich in den USA landet, wo Eggers ihn kennenlernt und ihm zuhört. In dem Roman Zeitoun erzählt Eggers die Geschichte des aus Syrien stammenden Abdulrahman Zeitoun, der nach dem Hurrikan Katrina ohne eigenes Zutun und vollkommen unschuldig ins Visier der amerikanischen Terror-Fahnder gerät und Mühe hat, sich ihrem Zugriff wieder zu entziehen. Im Roman Ein Hologramm für den König erzählt Eggers die Geschichte von Alan Clay, der im Auftrag eines großen amerikanischen Telekommunikations-Unternehmens mit einem Team von Mitarbeitern in die Wüste Saudi-Arabiens entsandt worden ist, um eine von König Abdullah geplante Retortenstadt mit einem IT-System auszustatten und schließlich von chinesischen Billiganbietern ausgebootet wird. In all diesen Büchern bewegt sich Eggers dicht an der gesellschaftlichen Realität der Gegenwart. Er will aufklären, uns die Augen öffnen und etwas bewirken. Ob das, was dabei herauskommt, große Kunst ist, ist dabei zweitrangig. Es gibt sicher Schriftsteller, die eleganter formulieren. Eggers pfeift auf die Gebärde, die man Stil nennt. Es geht ihm in erster Linie um die Inhalte, nicht um die Schönheit und den Wohlklang der Sätze. Jörg Häntzschel hat in der Süddeutschen Zeitung moniert, Eggers schildere die Zukunft mit den erzählerischen Mitteln der Vergangenheit. Woher sollen wir die Maßstäbe unseres Urteilsvermögens und der Kritik beziehen, wenn nicht aus der Erfahrung der Differenz und Ungleichzeitigkeit? Nur der, der erinnert, dass es einmal anders war, kann sich eine Zukunft vorstellen, die mehr ist als die Verlängerung unserer trostlosen Gegenwart. Alles wird gegenwärtig von der marktwirtschaftlichen Furie des Verschwindens ergriffen. Was einem bleibt, ist, sich zum Chronist des Verschwindens und der Zerstörung zu machen, oder man spitzt die Tendenzen der Gegenwart bis zur Kenntlichkeit zu, in der Hoffnung, dass diese Beschreibung Nachdenken und Widerstand auslöst. Wer in der digitalen Welt aufgewachsen ist, wer schon als Dreijähriger irgendwelche Kinder-Apps auf seinem Tablet-Computer hatte und mit den Fingern auf dem Smartphone herumgewischt hat, wird sich irgendwann über nichts mehr wundern und diese Welt für die einzig mögliche halten. Die Differenz ist getilgt, die Ungleichzeitigkeit ist der Gleichzeitigkeit gewichen, die keinen Dissens mehr aufkommen und jede Kritik verstummen lässt. Wir werden uns also ranhalten müssen, denn viel Zeit wird uns nicht bleiben. In ein paar Jahren, schreibt Imre Kertész in seinem Buch Ich – ein anderer, „wird sich alles, alles ändern – die Menschen, die Häuser, die Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s Kaffeesatz.“
Dave Eggers, Der Circle, Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
ISBN: 978-3-462-04675-5
Erschienen am: 14.08.2014 bei Kiepenheuer & Witsch
560 Seiten, gebunden, Preis: 22,99 €