So sieht Krieg aus
Nachträge mit Leserbriefen siehe unten
Dies ist der Erlebnisbericht des Journalisten Martin Lejeune, der dieser Tage vor Ort in Gaza ausharrt, um zu berichten, was dort geschieht:
Nach meinem Eindruck aus Gesprächen mit Freunden Israels wächst unter ihnen der Kreis jener, die das Morden nicht mehr verstehen und auch nicht mehr schweigen. Mit Antisemitismus hat das nichts zu tun. Das sei im Blick auf den Hinweis Nr.4 b von heute angemerkt. Die zunehmende Kritik an Israels Militäreinsatz im Gazastreifen und an der israelischen Politik insgesamt ist keine „Judenhetze“. Die “hemmungslose Judenhetze” in Deutschland, die die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Knobloch, feststellt, kommt von anderen. Wir werden das Kunststück fertig bringen müssen, den Widerstand gegen die Politik Israels zu stärken und gleichzeitig Widerstand gegen die von Frau Knobloch diagnostizierte Judenhetze und die damit verbundene Gewalt bei uns zu leisten.
Nachträge
Vorbemerkung Albrecht Müller: Kai Ruhsert hat große Verdienste beim Aufbau der Hinweise des Tages der NachDenkSeiten. Über den tödlichen Konflikt im Nahen Osten waren wir uns nie einig. Auch deshalb waren die NachDenkSeiten so oft zurückhaltend mit Beiträgen zu Palästina und Israel.
Als Reaktion auf meinem heutigen Beitrag schrieb Kai Ruhsert zwei Mails, die im Folgenden als Nachtrag 1 wiedergegeben werden. Zugleich beklagte sich ein anderer NDS-Leser über mangelnde Berücksichtigung seiner Hinweise. Seine Mail finden Sie als Nachtrag 2.
Nachtrag 1:
Einwände von Kai Ruhsert gegen meinen Beitrag „So sieht Krieg aus“
“… Und deren Komponist irgendein die Zerstörung berechnender Oberbefehlshaber in Jerusalem.”
Soso, ein finsterer Drahtzieher in Jerusalem plant also in aller Ruhe das Ausmaß an Leiden für die Opfer des Krieges. Was, wenn es das Ziel ist, die Tunnel und die Raketen zu zerstören und sich dabei gegen die Hamas zu wehren?
“Denn während solcher Angriffe, ob bei Tage oder bei Nacht, kann niemand aus dem Haus gehen ohne sein Leben zu riskieren. Er wäre sofort im Visier der Drohnen, welche die Umgebung nach möglichen Zielen auskundschaften und die genauen Zielkoordinaten in Sekundenschnelle an die Bomberpiloten übermitteln.”
Was wird hier unterstellt – Taubenschießen mit Zivilisten??
“Sie wollen uns bekämpfen bis wir alle tot oder vertrieben sind. Das ist hier ist ein Völkermord.”
Nein, das ist es nicht. Verteidigte Israel sich auf eine Weise, welche die selbstgerechten Kritiker für sich selbst jederzeit in Anspruch nehmen würden (und im Falle Serbien als Angreifer tatsächlich praktizierten, wo sie aus sicherer Entfernung Bomben warfen), dann gäbe es innerhalb einer halben Stunde im Gaza-Streifen kein menschliches Leben mehr. Aber das tut Israel gerade nicht; um Zivilisten zu schonen, schicken sie ihre eigenen Jungs in den Häuserkampf.
Gruß, Kai
Und noch eine zweite Mail von Kai Ruhsert:
Fakten:
How Hamas Wields Gaza’s Casualties as Propaganda The demographic analysis of the fatalities in the Gaza conflict has limitations. It can’t identify who is or isn’t a combatant. But the spike in fatalities among males starting in their late teens and peaking in their early to
fatalities from the demographic pattern of the population, raises considerable doubt about claims that as many as 75% or more of the fatalities are non-combatants. In light of evidence—provided by groups that monitor Arabic language media (like the Middle East Media Research Institute)—that Hamas has instructed Gazans to describe anyone killed as a civilian, journalists have a responsibility to convey this uncertainty to their audiences and not present figures provided by Hamas and Hamas-affiliated sources as unqualified fact.
Quelle: time.com
Für den Völkerrechtsexperten Claus Kreß steht fest: Im Gaza-Konflikt gibt es derzeit keine Anzeichen für israelische Kriegsverbrechen. Anders sehe es bei der Hamas aus, sagte der Direktor des Kölner Instituts für Friedenssicherungsrecht. Daran änderte auch die unterschiedliche Bewertung der Opferzahlen nichts:
“Israel verfügt über ein Selbstverteidigungsrecht, und zwar auch hier ausdrücklich unabhängig von der schwierigen Frage, wie der Gazastreifen völkerrechtlich exakt zu qualifizieren ist.
Dann gibt es eine erste Verhältnismäßigkeitsfrage, und darauf konzentriert sich sehr stark im Moment die internationale Debatte, die betrifft die Ausübung des Selbstverteidigungsrechts im Allgemeinen, das ist die Frage, ob der Gewalteinsatz Israels im Gazastreifen, wenn sie ihn insgesamt betrachten, inzwischen ein Ausmaß erreicht hat – und hier sind natürlich die zivilen Schäden sehr prominent zu berücksichtigen –, bei dem man sagen würde: außer Verhältnis geraten zu der Gefahr.
Aber Vorsicht: Auch das Ergebnis ergibt sich nicht allein daraus, dass sie die Opferzahlen auf beiden Seiten miteinander vergleichen. Es gibt hier zweierlei zu bedenken. Erstens verlangt das Völkerrecht auf dieser allgemeinen Verhältnismäßigkeitsebene aus der Sicht des Verteidigers kein Gleichmaß, also ein verteidigender Gewalteinsatz wird nicht bereits deshalb unverhältnismäßig, weil die Schäden, die er mit sich bringt, so sie erforderlich sind, über das Ausmaß der Gefahr und der Schäden für den eigenen, den Verteidigungsstaat hinausgehen.”
Quelle: www.deutschlandfunk.de
Andere Meinungen:
Ja, ich bin parteiisch in diesem Konflikt. Ich ergreife Partei für Israel und schäme mich dafür, dass so wenige in meinem Land es mir gleichtun. Und noch mit meiner letzten Tinte will ich gegen die Heuchler anschreiben, die es sich in den Feuilletons bequem gemacht haben und aus ihren sicheren, warmen Stuben heraus ebenso anmaßend wie herablassend der israelischen Bevölkerung ausrichten, wie sich diese zu verhalten habe. Gegen die Zyniker, die das Missverhältnis von palästinensischen und israelischen Opfern anprangern, als dürften sich Juden erst ab einer bestimmten Zahl von Toten gegen ihre Vernichtung wehren. Gegen die Antisemiten und deren nützliche Idioten, die das Ende des Judenstaates willentlich betreiben oder unwissentlich in Kauf nehmen. Gegen die Beschwichtiget und Terrorversteher, die kein Wort des Mitgefühls für die Opfer finden, aber für jeden Anschlag und jede Rakete auf Israel eine Begründung parat haben.
Gegen die Oberflächlichen, die nicht zwischen Terroristen und einer demokratisch legitimierten Armee unterscheiden können oder wollen. Gegen die moralisch Verwahrlosten, die sich an Israel abarbeiten, um die Schuld ihrer Väter zu relativieren.
Quelle: eppinger.wordpress.com
Doch ist ein Krieg wirklich alternativlos? Nein, sicher nicht. Schauen wir uns die Alternativen an, die Israel und die Hamas hätten verfolgen können:
Alternative 1: Israel startet keine Gegenangriffe und keine Bodenoffensive. Israel ignoriert die antisemitische Vernichtungsrhetorik.
Israel stellt sogar die Grenzkontrollen ein und lässt neben Lebensmitteln und Dingen des täglichen Gebrauchs auch Waffenlieferungen zu.
Was wäre die Konsequenz? Der Raketenhagel über Israel würde weitergehen.
Die Hamas würde weiter jede Friedensinitiative ablehnen und versuchen, Israel zu vernichten.
Die Menschen in Israel würden weiter jeden Tag um ihr Leben fürchten – oder es verlieren. Freiheit und Sicherheit würden für immer in weite Ferne rücken. Israels Misstrauen gegenüber der Hamas ist historisch begründbar und tagesaktuell nachzuvollziehen. Hätte Israel diese Alternative gewählt – es könnte den Staat Israel auflösen und die Jüdinnen und Juden wieder in jene Gefahr entlassen, von der sie bis und selbst nach 1948 aus Deutschland, Osteuropa, der Sowjetunion und aus arabischen Staaten flohen. Wie real die Gefahr auch in Deutschland ist,
lässt sich am Einsatzplan der Polizei feststellen.
Alternative 2: Die Hamas schießt keine Raketen auf Israel.
Was wäre die Konsequenz? Die kriegerischen Auseinandersetzungen gäbe es nicht. Hunderte Menschen wären noch am Leben. Auf keiner Seite müssten Menschen um ihr Leben fürchten.
Mittelfristig könnte die Hamas auch ihre Waffen ablegen und das Existenzrecht Israels anerkennen. Sie könnte in Verhandlungen einsteigen, für Frieden sorgen und den Menschen ein Leben in Würde und Freiheit ermöglichen.
Quelle: linksterblog.de
Wenn dir die Menschenrechte im Nahen Osten so am Herzen liegen, dann finden sich für dich andere Themen. Die Situation der Palästinenser in Syrien zum Beispiel, die zwischen den Truppen des Assad-Regimes und den liebevoll „Rebellen“ genannten islamistischen Milizen eingeschlossen sind.
Quelle: taz.de
Gruß, Kai
Nachtrag 2:
Lieber Herr Müller,
danke für Ihren Hinweis “So sieht Krieg aus”, ich hatte mich bereits gewundert, ob die NachDenkSeiten absichtlich Berichte zum Vorgehen in Gaza filtern, ich hatte nämlich mehrmals versucht, Empfehlungen in die Hinweise des Tages zu bringen, die verdeutlichen, dass scharfe Kritik am rabiaten Vorgehen der israelischen Regierungsverantwortlichen überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun hat und ich wüsste auch nicht, weshalb die NachDenkSeiten sich hier vor einer Auseinandersetzung sorgen müssten. Es gibt zahlreiche ehemals politisch aktive Menschen mit jüdischem Familienhintergrund, die das Vorgehen für maßlos halten (z.B. Rolf Verleger oder Henry Siegman) und das auch klar benennen. Und es gibt u.a. mit der Plattform Democracy Now! ein Nachrichtenformat in den USA, das eine m.E. hervorragende Berichterstattung leistet, und
verdeutlicht, wie verheerend die Kriegseinsätze sind. Wir hatten auf unserem Blog z.B. hier: Maskenfall auch schon häufiger Democracy Now! verlinkt.
Auf ein Interview mit Henry Siegman hatte ich die NachDenkSeiten gestern Abend hingewiesen, siehe P.S.
Es wäre schön, wenn die NDS als eine Plattform, die sich als kritisch und zum Nachdenken anregend versteht, sich nicht vor teilweise instrumentalisierten Labeln wegduckt. Natürlich gibt es einen ernst zu nehmenden Antisemitismus auch hierzulande, doch gerade bei diesem Umstand sollte der Begriff nicht propagandistisch ausgehöhlt werden.
Viele Grüße,
Jascha Jaworski
P.S. Meine Mitteilung an die Hinweise des Tages für heute waren:
Henry Siegman, Leading Voice of U.S. Jewry, on Gaza: “A Slaughter of Innocents”
Given his background, what American Jewish leader Henry Siegman has to say about Israel’s founding in 1948 through the current assault on Gaza may surprise you. From 1978 to 1994, Siegman served as executive director of the American Jewish Congress, long described as one of the nation’s “big three” Jewish organizations along with the American Jewish Committee and the Anti-Defamation League. Born in Germany three years before the Nazis came to power in 1933, Siegman’s family eventually moved to the United States. His father was a leader of the European Zionist movement that pushed for the creation of a Jewish state. In New York, Siegman studied the religion and was ordained as an Orthodox rabbi by Yeshiva Torah Vodaas, later becoming head of the Synagogue Council of America. After his time at the American Jewish Congress, Siegman became a senior fellow at the Council on Foreign Relations. He now serves as president of the U.S./Middle East Project. In the first of our two-part interview, Siegman discusses the assault on Gaza, the myths surrounding Israel’s founding in 1948, and his own background as a German-Jewish refugee who fled Nazi occupation to later become a leading American Jewish voice and now vocal critic of Israel’s policies in the Occupied Territories.
Quelle: democracynow.org
Kommentar:
Herr Siegman liefert wichtige Sichtweisen und Argumente, um einen Interpretationsrahmen für die Geschehnisse im Gazastreifen ausbilden zu können. Wer die Menschenrechte für die Grundlage einer friedlicheren und gerechteren Welt erachtet, sollte ideologische Scheuklappen ablegen und den Mut aufbringen, Dinge zu benennen. Durch eine von Falschdarstellungen und Verkürzungen geprägte öffentliche Meinung ist weder den israelischen Menschen, noch den palästinensischen Menschen geholfen. Hierdurch werden nur Zustände zementiert, deren Widersprüchlichkeiten in die Katastrophe führen.