AM’s Wochenrückblick auf eine Reihe von Manipulationsversuchen und -erfolgen
Heute, wenn auch etwas spät, mit Anmerkungen
- zum cleveren Versuch, mit einem Streit über die Ursachen der wirtschaftlichen Belebung die Existenz eines so genannten Booms als unstrittig erscheinen zu lassen,
- zur Anfälligkeit ökologisch Engagierter für die gängige Ideologie in der Gesellschaftspolitik,
- zum Versuch des Spiegel, mit dem Titel „Arm durch Arbeit“ die staatlichen Abgaben für diese Misere verantwortlich zu machen,
- das Doppelspiel der Deutschen Bank bei DaimlerChrysler.
Albrecht Müller.
Zu 1.: Die wirtschaftliche Belebung als Boom erscheinen lassen.
Rhetorisch begabte oder in der Öffentlichkeitsarbeit bewanderte Personen kennen den Trick, eine Botschaft B zu propagieren, um eine Botschaft A als selbstverständlich erscheinen zu lassen und unter die Leute zu bringen. Die Behauptung, die niedrigen Löhne und ihre Stagnation seit mehr als einem Jahrzehnt wie auch die Reformen, hätten die wirtschaftliche Belebung – bezeichnet als Boom – möglich gemacht, hat für die Autoren dieser Behauptungen nicht nur die ebenfalls gewollte Botschaft zum Ziel, niedrige Löhne und Reformen seien gut fürs Land. Im damit ausgelösten Disput wird en passant mitgelernt, wir hätten einen wirklichen Boom. – Tatsächlich sind wir weit davon entfernt. Mit 2,8% Bruttoinlandsproduktszunahme im letzten Jahr und heuer vielleicht noch ein Mal dasselbe kommen wir aus der tiefen Rezession, in der sich unsere gesamte Ökonomie befindet, nicht heraus. Länder, die eine ähnlich tiefe, wenn auch nicht so lange Rezession zu überwinden hatten, wie zum Beispiel Schweden und die USA in der Clinton Zeit anfangs der neunziger Jahre, erreichten mehrmals um die vier Prozent und sie schafften das nicht nur mit einer Belebung des Exports sondern auch des Binnenmarktes, vor allem des Konsums. Davon kann bei uns bisher nicht die Rede sein.
Die Erfolgsmeldungen entstammen in wesentlichen den Erfahrungen in der Exportwirtschaft und – wesentlich irrelevanter – den Erfahrungen der Aktionäre und Spitzenmanager mit Kurssteigerungen und Traumgehältern und anderen Vergütung.
Am Tag, als SpiegelOnline unter der Überschrift „Geldregen“ von Europas Dividenden-Meistern, den deutschen DAX Unternehmen, berichtete – mit Dividendenerhöhungen um 50% bei Lufthansa, BASF und Deutsche Bank, um glatte 100% bei Conti und RWE und 90% bei Allianz zum Beispiel, war ich in meiner örtlichen Eckkneipe. Mit dem Wirt sprach ich über die täglichen Meldungen aus der Aktenwelt. Er erzählte mir, er stelle sich vor Beginn der Arbeit am Spätnachmittag gelegentlich an die Durchgangstraße, um einfach die Gesichter der Menschen zu beobachten: heute wieder nur deprimierte und sorgenvolle und aggressive Gesichtsausdrücke. In den Gesichtern der Menschen und auch im Ausgabegebaren in Deutschlands normalen Kneipen spiegelt sich das Gegenteil eines Wirtschaftsaufschwungs, meinte er. In den Edelschuppen mag das anders sein. Beim Volk ist der Boom nicht angekommen.
Und dennoch erweckt man bei uns und unseren Medien jeden Tag neu diesen falschen Eindruck.
Zu 2.: Zur Anfälligkeit ökologisch Engagierter für die gängige Ideologie in der Gesellschaftspolitik.
Das bundesweit bekannte Öko-Institut e.V. in Freiburg macht mit einer Pressemitteilung vom 3.4.2007 Reklame für private Ökologische Altersvorsorgeprodukte. Dabei werden die gängigen Parolen der Agitation gegen die gesetzliche Rente einfach übernommen. Wörtlich:
„Wer auch im Alter über die Runden kommen möchte, darf sich nicht mehr allein auf die Rente vom Staat verlassen: Prognosen gehen davon aus, dass sie in Zukunft weniger als die Hälfte des letzten Bruttolohns ausmachen wird. An Angeboten für die zusätzliche Altersvorsorge – betrieblich oder privat, zum Teil sogar vom Staat gefördert – mangelt es nicht. Doch das passende Produkt zu finden, fällt nicht leicht. Noch mehr recherchieren mussten Anleger, die neben Rendite und Absicherung auch noch Wert auf ökologische oder soziale Kriterien legen.“ (Dann kommt die Werbung für Ökofonds.)
In diesen Text ist nahezu alles enthalten, was uns an gängigen Fehlinformationen geboten wird. Warum man sich auf die gesetzliche Rente nicht mehr alleine verlassen kann, wird natürlich nicht gesagt. Die Ökologen aus Freiburg tun auch so, als wäre Rendite und Absicherung bei den privaten Produkten gesichert. Das ist bei weitem nicht der Fall, wie die Erfahrung in anderen Ländern zeigt. Auch bei uns gibt es Hinweise auf falsche Informationen zu den Renditen. NachDenkSeiten gehen diesen zur Zeit nach.
Der Vorgang ist auch insofern interessant, weil er typisch ist für einen Teil der Ökoszene. Sie sind fachlich gut in ihrem eigenen Bereich und zugleich unwissend bis ignorant in sozialen Fragen und deshalb leicht manipulierbar wie im vorliegenden Fall, teilweise sogar feindselig gegenüber solidarischen Lösungen und gegenüber dem Drängen darauf, auch die wirtschaftlich Schwächeren in eine ökonomisch und ökologisch bessere Welt mitzunehmen. – Diese Nachlässigkeit ist auch unter ökologischen Gesichtspunkten nicht hilfreich. Denn wenn es uns nicht gelingt, der Mehrheit der Menschen ökonomische Sicherheit und Perspektiven zu geben, dann werden sie ihr Herz auch nicht mehr für ökologische Fragen öffnen. „Erst das Fressen, dann die Moral.“ Diese Weisheit ist zwar bitter, aber es spricht viel für ihre Richtigkeit.
Zu 3.: Zum Versuch des Spiegel, mit dem Titel „Arm durch Arbeit“ die staatlichen Abgaben für diese Misere verantwortlich zu machen.
Der Spiegel-Titel der letzten Woche war wieder eine Meisterleistung an Vermischung von richtigen Informationen und übler Agitation. Er lautete:
„Arm durch Arbeit.
Wie der Staat die abhängig Beschäftigten immer dreister ausnimmt.“
Der Spiegel merkt offenbar, dass er an dem Thema Armut nicht vorbeikommt, auch nicht daran, dass die Löhne häufig nicht mehr zur Finanzierung der wirtschaftlichen Existenz ausreichen. Aber statt nun einzugestehen, dass die Löhne mittels einer rigorosen Drosselung der Konjunktur und der Erzeugung einer Reservearmee von Arbeitslosen kombiniert mit einer Schwächung der Gewerkschaften gedrückt worden sind, wird die unsinnige Behauptung aufgestellt, die Menschen würden „Arm durch Arbeit“. Der Schuldige ist beim Spiegel der Staat und seine Abgaben-Begehrlichkeit. So steht es auf dem Titel.
Im Text selbst heißt es dann wenigstens etwas weniger falsch: „Niedrige Tarifabschlüsse, Inflation, Lohntrift: was die Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren einbüßten, war zu einem Teil der schlechten wirtschaftlichen Lage und den Zwängen der Globalisierung geschuldet. Für den vierten Schwundfaktor aber sorgte der Staat.“ – Immerhin, anders als auf dem Titel ist der Staat nur der vierte Schwundfaktor.
Und dann kommt wie üblich die Story mit den Lohnnebenkosten. Die Bedeutung einer total falschen Makropolitik und vor allem auch die Bedeutung der Schwächung der Gewerkschaften für die Position der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt wird vom Spiegel selbstverständlich nicht gesehen, jedenfalls nicht beschrieben. Das tut die Spiegelredaktion vermutlich auch deshalb nicht, weil sie an der Schwächung der Gewerkschaften zu Beginn dieses Jahrhunderts als Antreiber kräftig beteiligt war: Am 18.11.2002 erschien ein Spiegeltitel mit Kanzler Schröder und wehender roter Fahne und der Behauptung, er entwickle sich von den neuen Mitte zum Kanzler der Gewerkschaften. Das war ein bewusst gesetzter Titel zur Vorbereitung der Agenda 2010 – mit großem Einfluss auf die Meinungsbildung gerade auch im Bereich von Intellektuellen. Erkennbar beginnend mit diesem Spiegeltitel glaubten viele von ihnen, wir lebten in einem Gewerkschaftsstaat. Dazu habe ich damals eine Kolumne im „vorwärts“ geschrieben, die in mehrerer Hinsicht interessant ist. Siehe Anhang.
Im Spiegel-Titel der vergangenen Woche wird das Scheitern der bisherigen Reformen erstaunlich offen beschrieben. So wird skizziert, wie damit Minijobs zulasten der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverträge gefördert werden. Dort steht auch der erstaunlich aufgeklärte Satz: „Die staatlich geförderten Kleinststellen trugen dazu bei, das Verdienstniveau im hiesigen Niedriglohnsektor weiter zu drücken.“ Und dann wird sogar ein Mindestlohn vorgeschlagen, der allerdings nicht viel mehr als das Existenzminimum absichern soll. Und dann kommt der Hauptvorschlag des Spiegel für die Fortführung der Reformpolitik: Staatliche Lohnzuschüsse für Geringqualifizierte aus Problemgruppen. – Du meine Güte!, kann man da nur ausrufen, für einen lächerlichen Kombilohnvorschlag ein ganzer Spiegeltitel. Das ist das erreichte Niveau dieses angeblichen Nachrichtenmagazins.
Zu 4.: Zum Doppelspiel der Deutschen Bank bei DaimlerChrysler.
Hier will ich nur auf eine Kleinigkeit hinweisen. Sie zeigt jedoch, wie locker und einfach interessierte Kreise die Mehrheitsmeinung lenken können: Die Vertreter der Deutschen Bank sind an den Fehlentscheidungen der Daimler Spitze maßgeblich beteiligt. Über Jahrzehnte besetzte die Deutsche Bank den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden, zuletzt seit 17 Jahren mit Herrn Hilmar Kopper. Die Vertreter der Deutschen Bank haben sowohl den verlustreichen Kurs der Diversifizierung hin zum Rüstungs- und Technologiekonzern als auch die Entwicklung zum so genannten Globalplayer mit dem Einstieg bei Mitsubishi und Chrysler abgesegnet – einschließlich der notwendigen Personalpolitik zur Installierung der Chefs von Daimler, also von Edzard Reuter, Jürgen Schrempp und des jetzigen Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche, mit dessen Namen die gescheiterte „Sanierung“ von Chrysler verbunden ist. Und jetzt lässt die Deutsche Bank ihre Tochter DWS (DWS Investments, die Fondsgesellschaft der Deutschen Bank) auf der Hauptversammlung Opposition spielen und die Loslösung von Chrysler fordern. Ein tolles Spiel. „Regierung und Opposition“ zugleich.
Anhang:
Albrecht Müller Kolumne im „vorwärts“ vom Dezember 2002/Januar 2003:
Unternehmen Aufklärung?
Der SPIEGEL ist zum Zentralorgan der gängigen Meinung verkommen. Er ist zu einem Teil der „Nachplappergesellschaft“ geworden.
Der SPIEGEL würdigte seinen verstorbenen Herausgeber Augstein mit einer Titelgeschichte. Im Editorial schreibt Chefredakteur Stefan Aust: „Er (Augstein) blieb die Seele des „Unternehmens Aufklärung“, das der SPIEGEL war und ist, …“. – Dass der SPIEGEL früher einmal der Aufklärung verpflichtet war, das kann man sagen. Aber dass der SPIEGEL auch heute noch ein „Unternehmen Aufklärung“ ist, dies zu behaupten ist ganz schön dreist. Denn der SPIEGEL ist heute – von einigen Stücken abgesehen – eher so etwas wie das Zentralorgan des Mainstream, also der Verkünder der gängigen Meinung.
Es ist Mode geworden, vor allem den Sozialstaat für Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche, für die gestiegene Abgabenquote und die Staatsschulden verantwortlich zu machen. Der SPIEGEL hat diese Kampagne u.a. mit mehreren Titelgeschichten angeheizt statt aufzuklären – z.B. darüber, dass Abgabenquote und Schulden „zu einem großen Teil Folge der deutschen Vereinigung“ sind, wie sogar die Wirtschaftssachverständigen in ihrem neuen Gutachten meinen; er durchleuchtet nicht, wie die gewonnene Einheit benutzt wird, um das Verfassungsversprechen Sozialstaatlichkeit auszuhöhlen.
In der heute vorherrschenden Reformdebatte werden Wirkungszusammenhänge zwischen den geforderten so genannten Reformen und der erhofften Wirtschaftsbelebung unterstellt, ohne die Zusammenhänge plausibel zu machen. Hauptsache, andere sagen das auch so, sagen es vor oder nach. – In dieser Nachplappergesellschaft hätte der SPIEGEL eine verdienstvolle Aufklärungsfunktion. Er müsste z.B. fragen: Wo sind die Arbeitsplatzeffekte der hunderttausendsten Steuersenkungsreform? Wo die Wirkung der Lockerung des Ladenschlusses oder der Rentenreform? Wo bleibt der Arbeitsplatzerfolg der tatsächlich hohen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in den Neuen Bundesländern? Aufklärer würden das gängige Gerede entzaubern und den Fakten nachgehen.
Der SPIEGEL macht sich mit seiner Titelgeschichte vom 18. November zum Helfer eines ziemlich dümmlichen Manipulationsversuchs. Da wird dem Bundeskanzler ein Linksruck unterstellt, er wird quasi als Hampelmann der deutschen Gewerkschaften dargestellt und diese werden zum entscheidenden Machtfaktor der deutschen Gesellschaft hochstilisiert. Dies wiederum, so wird nahegelegt, sei der Grund für die wirtschaftliche Stagnation.
Das ist ein altes Muster. Vor fast 30 Jahren war schon einmal vom „Gewerkschaftsstaat“ die Rede; Willy Brandt hat man unterstellt, er und seine Partei rückten nach links. Tatsächlich haben die Gewerkschaften in der gesamten Zeit immer mehr an wirtschaftspolitischer, politischer und publizistischer Macht verloren. Und die SPD ist alles andere als nach links gerückt. Anders als damals gibt sich der SPIEGEL heute als Verstärker dieser Kampagne her.
Beispielhaft ist der abgebildete Titel vom 18. November mit Gerhard Schröder im Blaumann und wehender roter Fahne. Der Artikel ist in einer Sprache und in einem aggressiven Arbeitgeberton verfasst, den wir von ganz konservativen Blättern kennen. Der SPIEGEL mausert sich zunehmend zu einer Art Kampfblatt der Besserverdienenden.
Der SPIEGEL hat modische Trends der vergangenen Jahre unkritisch mitgemacht. Exemplarisch ist die publizistische Begleitung des Aktienbooms und speziell der New Economy. Zwischen 1998 und 2000 verbreitete er eine Reihe von euphorischen Artikeln zum Neuen Markt und zur New Economy, zu E-Commerce und zum digitalen Kapitalismus. In den meisten fehlte jede kritische Distanz: Die New Economy schreibe die Grundregeln des Kapitalismus von Grund auf neu, heißt es in Nr. 31 von 2000. Das schrieb das Blatt etwa vier Monate nachdem die Blase der New Economy schon hörbar zu platzen begann. Das Blatt aus Hamburg gebärdete sich liebedienerisch gegenüber den Spielern des Neuen Marktes: Zehn Seiten lang wurde 1999 der damalige – und inzwischen gescheiterte – Bertelsmann-Chef Middelhoff und dessen Strategie zur Umorientierung des Bertelsmann-Konzerns hin zu E-Commerce und Internet über den grünen Klee gelobt. Der Spiegel hat die Startups der New Economy reihenweise hochgeschrieben.
Jetzt sind diese Blasen geplatzt. Wer sich einen kritischen Geist bewahren wollte, hätte den SPIEGEL besser nicht gelesen. Mancher Anleger hätte dann vermutlich viel Geld gespart.
Mit Recht wird Augstein und der SPIEGEL dafür gewürdigt, dass sie vor gut 30 Jahren zusammen mit anderen der Ostpolitik zum Durchbruch verholfen haben. Der SPIEGEL verschläft heute ein Problem ähnlicher Dimension: Die Entwicklung der USA zur imperialen Supermacht und ihre Orientierung am amerikanischen Fundamentalismus mit seiner Fixierung auf Gewalt als Mittel der Politik. Das wäre ein SPIEGEL-Dauerthema von ähnlicher Dimension wie die Ostpolitik. Fehlanzeige.
Aufklären verlangt, hinter die Kulissen zu leuchten. Wo sind die Recherchen des heutigen SPIEGEL zu den wichtigen Fragen und Skandalen unserer Zeit, auch zu den versteckten, unter der Decke gehaltenen? Die Bertelsmann-Stiftung z.B. ist wie ein Staat im Staat. Sie mischt überall mit und maßt sich an, die Gestalt unserer Gesellschaft mitzubestimmen, meist verkleidet im Gewand des Sponsors, Förderers, Thinktanks. Wann und wo konnte ich im SPIEGEL eine fundierte Geschichte darüber lesen? Oder: Mischen ausländische „befreundete“ Geheimdienste in der Politik, in Verbänden, Stiftungen und in vielen Redaktionsstuben mit, und wie? Wo sind die SPIEGEL-Titel und Geschichten zu diesem aufregenden und obendrein unterhaltsamen Thema? Was weiß der SPIEGEL über die Lage in den eigenen Reihen? Nichts? Wirklich nichts? Ein „Unternehmen Aufklärung“ wie der alte SPIEGEL würde dringend gebraucht. Aber gerade wenn wir aufgeklärte Information haben wollen, dürfen wir die Behauptung des Chefredakteurs nicht durchgehen lassen, der heutige SPIEGEL entspreche diesem dringenden Bedarf.