Die Verkehrung der Welt in mehreren Akten (2/3)

Ein Artikel von Kuno Rinke

Karl-Heinz Klär am 12. April 2014 im Gespräch mit Kuno Rinke über den Finanzkapitalismus, die Krise der Europäischen Union und die Übertölpelung der jungen Generation. Grundlage des Gesprächs ist der Artikel „Die GroßeMittelKlasse“, den Karl-Heinz Klär am 7. Februar auf den NachDenkSeiten veröffentlicht hat. Aufgrund der Länge haben wir das Gespräch, das auch in der Zeitschrift Politisches Lernen erschienen ist, in drei Folgen unterteilt. Der erste Teil erschien gestern, der dritte Teil wird morgen auf den NachDenkSeiten erscheinen.

  1. EU: Populisten

    Darauf und vor allem auf die deutsche Seite des Desasters komme ich zurück. Zuerst aber Karl Polanyi: Warum nimmt er in Ihrem Essay eine so herausragende Rolle ein?

    Weil der Mann ein wunderbares Buch gegen die Verkehrung der Welt in einer vergleichbaren Lage geschrieben hat. Polanyi hatte 1944 die Abkehr von der ersten Globalisierung – vom Goldstandard und vom liberalen, selbstregulierten Markt des 19. Jahrhunderts – ausführlich dargestellt und den Faschismus der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts als wesentliche politische Kraft in diesem widersprüchlichen Prozess benannt. Ein bedeutendes Werk, aber nach dem 2. Weltkrieg über Kreuz mit allen herrschenden Ideologien. 2012 erschienen mir im Licht dieses Werks die Finanzkrise, die Bewältigung der Großen Rezession und die Kritik am Euro schlagartig als Elemente einer gewissen Abkehr von der zweiten Globalisierung, und ich interessierte mich brennend für Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Prozesse.

    Darf ich gleich mal kurzschließen: Ihr deutschnationaler „ideeller Gesamteigentümer” in der GroßenMittelKlasse und die Volksgemeinschaft der Nazis sind parallele Phänomene?

    Parallele Phänomene ja, verwandte Phänomene ginge auch, nur kurzschließen geht nicht. In der „Great Transformation” von 1944 nimmt Polanyi die faschistischen Organisationswelten des vorigen Jahrhunderts als Ausdruck sozialer Bewegungen wahr — und ernst. Dem folge ich und nutze den Ansatz für die Gegenwart. Eine gegen die zweite Globalisierung gerichtete echte Sozialbewegung — das ist meine Hypothese, wenn ich mich den populistischen Organisationswelten heute nähere.

    Was unterscheidet diese „Organisationswelten”, wie Sie das nennen: die faschistischen damals, die populistischen heute?

    Zunächst sind die Rahmenbedingungen anders, damit sollte man beginnen. Der gesellschaftliche Reichtum des Jahres 2014 übertrifft weltweit den der Jahre 1929 oder 1933 um ein Vielfaches, die Bedürftigen stehen in den Ländern der OECD nicht mehr am Rand des Verhungerns. Dann sind die politischen Institutionen, vor allem in Europa, stabiler als Ende der 1920er Jahre. Vor allem ist die Welt heute nicht so zerfressen von Revanchismus und aggressivem Nationalismus, wie sie es nach dem 1. Weltkrieg war, und paramilitärische Kampfgruppen sind auch eher selten.

    Sehen Sie die Welt nicht in einem zu rosigen Licht?

    Mein Blick auf die Rechte ist kalt. Ich stelle fest, dass die Fremdenfeindlichkeit in Staaten der Europäischen Union von den Parteien der populistischen Rechten geschürt und ausgebeutet wird – eine Sauerei. Ich sehe aber auch den Unterschied zu den ausgemachten Rassisten von ehedem und jenen, die anhaltend in der Tradition des mörderischen Hitlerfaschismus stehen. Wer auf der Linken den Unterschied nicht sieht oder für unerheblich hält, wird keine wirksame politische Antwort auf Marine Le Pen, Geert Wilders etc. finden.

    Man kann in den Parteien der extremen populistischen Rechten aber auch Wölfe im Schafspelz vermuten – oder?

    Stärker als diese Vermutung beeindruckt mich der Versuch der populistischen Rechten, 2014 eine gemeinsame Plattform für das Europäische Parlament hinzubekommen. Das ist ein bezeichnender Verweis auf die Unterschiede zu den 1930er Jahren.

    Aber auch die Rechtspopulisten ihrerseits sind sehr unterschiedlich, und die Feier der je eigenen nationalen Großartigkeit und Überlegenheit kann doch schwerlich verbinden?

    Wenn die Feiern nicht aggressiv nach außen gerichtet werden und die Führungen sie eher taktisch nutzen, steht einer gewissen Kooperation nichts im Wege. Klar, die Unterschiede zwischen Bernd Lucke und Viktor Orban sehe ich auch. Wirtschafts- und sozialpolitisch reicht die Spannbreite von fundamentalistisch neoliberal bis protektionistisch wohlfahrtsstaatlich. Nur, das neoliberale Element wird in diesen Kreisen seit einiger Zeit erkennbar schwächer, das wohlfahrtsstaatliche erkennbar stärker.

    Haben Sie ein schlagendes Beispiel parat?

    Dänemarks Rechtspopulismus. In Dänemark hat die sozialstaatlich orientierte Dänische Volkspartei von Pia Kjaersgaard die ultraliberale Fortschrittspartei des Mogens Glistrup, von der sie sich abgespalten hatte, bei den Wahlen seit 1998 geradezu kannibalisiert.

    Sehen Sie darin einen Trend?

    In der Sprache meines Essays könnte man sagen: Mehr und mehr haben die nationalen Eigentümer-Gemeinschaften ihre jeweiligen Reihen geschlossen, und in den rechtspopulistischen Gruppierungen hat sich dafür ein entschiedener politischer Ausdruck gefunden, dem ein Misstrauen gegen die Superreichen und deren Gefolgschaft nicht fremd ist.

    Das bedeutet im Klartext, dass Sie die Chancen der Rechtspopulisten jetzt höher einschätzen als noch in Ihrem Essay?

    Ja, selbst in der Bundesrepublik, obwohl Lucke kein Führer ist und seine Truppe ein ziemlicher Sauhaufen mit einem Henkel dran.

    Wen bedroht der Aufstieg der populistischen Rechten am meisten?

    Wie man deutlich im Norden, tatsächlich aber überall in der EU und darüber hinaus beobachten kann, trifft es in erster Linie die Sozialdemokratie. Wilders hat sich einmal gegen den Vorwurf, er sei ein Extremist, mit der Bemerkung verteidigt, er betreibe keine andere Sozialpolitik als die holländische Arbeiterpartei in den 1960er Jahren; Marine Le Pen könnte in Frankreich heute ähnlich argumentieren. Dagegen stehen auf den nationalen und regionalen Kommandohöhen der meisten sozialdemokratischen Parteien in der EU nach wie vor entschiedene Globalisierer, lebensweltlich liberal und kulturell relativistisch. Man spürt es nicht zwangsläufig in der Programmatik der Parteien, wohl aber im politischen Alltag, und das hat die bekannten Folgen.

    Sie meinen die schlechten Wahlergebnisse?

    Nicht nur. Der kulturelle Graben zwischen Führung und Mitgliedschaft auf der einen und der traditionellen Wählerbasis der Sozialdemokratie auf der anderen Seite hat sich seit Ende der 1980er Jahre auch deshalb vertieft, weil diejenigen, die mit der Hand arbeiten, wenn sie denn Arbeit haben, in den Sozialdemokratien kaum noch Mitglied sind, als Arbeitslose schon gar nicht mehr. Das führt dazu, dass das sozialdemokratische Führungspersonal, das zur politischen Klasse gehört und einen gutbürgerlichen Lebenszuschnitt vorweist, wenig Fühlung zu diesen Schichten haben muss und innerparteilich wenig Rücksichten auf sie zu nehmen braucht. Einige Publizisten aus diesem Dunstkreis der Sozialdemokratie empfehlen nicht von ungefähr, das untere Drittel der Gesellschaft politisch abzuschreiben, manche mit der Erläuterung: Die gehen eh nicht wählen.

    Aber wenn sie doch wählen gehen, wählen sie rechts?

    Nicht immer, aber meistens, das macht dann eigene Mehrheiten der Sozialdemokratie illusorisch.

    Ich glaube, ich muss Ihnen jetzt eine Frage stellen: Sind Sie eigentlich gegen Globalisierung und lebensweltliche Liberalität?

    Gegen die Formen, in denen sich die Globalisierung seit den 1980er Jahren und aktuell immer noch vollzieht, bin ich durchaus. Dieser Heiligen Dreifaltigkeit aus Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung kann ich im Pack nichts abgewinnen, schon gar nicht, wenn sie sich mit der Forderung nach permanenter Flexibilisierung verbindet. Die Heilige Dreifaltigkeit im gestreckten Galopp der Flexibilisierung hat nicht mal Opium fürs Volk im Gepäck, bestenfalls Fast Food, und immer bedeutet sie, dass die Leute bis ins Private hinein strikt der Kapitalverwertung unterworfen werden. Für die Wohlhabenden kann dieser Stress zur Entmündigung führen, für die Armen und Unglücklichen endet die alltägliche Überforderung häufig in körperlichen und seelischen Nöten und in vorzeitigem Tod.

    Wer das für die große Freiheit ausgibt, ist dumm oder vom Reklamefach. So einen Kapitalismus, es gibt ihn weltweit, lehne ich ab, über seine Verteidiger kann ich nur den Kopf schütteln.

    Aber warum gefällt Ihnen nicht, dass das Führungspersonal Ihrer Partei, also der SPD, im Großen und Ganzen „lebensweltlich liberal und kulturell relativistisch” gestimmt ist. Was ist daran falsch?

    Sie haben mich missverstanden. Ich rede nicht davon, was mir missfällt, ich äußere nur Vermutungen, warum z. B. die SPD seit einiger Zeit bei nationalen Wahlen nicht mehr über 30% kommt — als ich noch jung war und Plakate klebte, hatte sie mal 45%. Persönlich habe ich, anders als mit der aktuellen Globalisierung, mit lebensweltlicher Liberalität kein Problem. Den Relativismus in kulturellen Angelegenheiten, namentlich in den Wissenschaften, lehne ich allerdings radikal ab. An mir ist nichts Postmodernes.

  2. EU: Kitt

    Für einen Kritiker der Globalisierung gehen Sie in Ihrem Essay erstaunlich freundlich mit Mario Draghi um, diesem „Goldman” par excellence. Was finden Sie am Chef der Europäischen Zentralbank so toll?

    Wie kommen Sie zu dieser Annahme?

    In Ihrem Stück verteidigen Sie Draghi und die EZB vehement gegen die Deutsche Bundesbank, Frau Merkel und Herrn Schäuble…

    … und das Bundesverfassungsgericht, müsste ich mittlerweile hinzufügen …

    … obwohl doch Draghi der prominenteste der „Goldmänner” ist, von denen Sie an anderer Stelle schreiben. Sie würden platziert für Politiker, die „nicht spuren und parieren, wenn die großen Investoren und Gläubiger pfeifen”. Was haben Sie sich dabei gedacht?

    Okay, diese Frage haben mir auch Andere gestellt. Die Antwort lautet: Meine Haltung entspricht meinem politischen Selbstverständnis.

    Was heißt das?

    Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der „Right or wrong, my country” als Abdankung des Denkens verachtet und eine genuin sozialdemokratische Politik des gesellschaftlichen und internationalen Ausgleichs als Gipfel der Zivilisation betrachtet wurde. In diesem Selbstverständnis habe ich mich 15 Jahre lang in Brüssel politisch am Gemeinwohl der Unionsbürger orientiert und eine europäische Politik verfolgt, keine deutschnationale.

    Ich verstehe. Sie sind kein Nationalist. Dafür beweisen Sie, wenn ich das nachträglich anmerken darf, aber erstaunlich viel Verständnis für die Rechtspopulisten.

    Bitte keine Nachhutgefechte. Mein Gewährsmann ist Georg Lukács, der in der „Zerstörung der Vernunft” den „nationalen Nihilismus” der Linksradikalen abwatschte, ich fand nach der Lektüre: zu Recht. Hier stört Sie doch viel mehr mein Verständnis für den Erzkapitalisten Draghi.

    Ja. Warum bringen Sie dieses Verständnis auf?

    Ich schätze an Draghi, was ich auch an Ben Bernanke schätzte, er vertritt eine nüchterne, Krisen eindämmende und abwehrende Notenbankpolitik. Gegen die rechthaberische Schmähkritik, der er deswegen in Deutschland ausgesetzt war, verteidigte ich ihn nach dem Motto: Wenn schon Kapitalismus, dann wenigstens professionell und nicht doof. Das ist alles.

    Ist das nicht widersprüchlich?

    Ja, aber ich arbeite nur Widersprüche ab, die in der Wirklichkeit existieren. Wenn Sie solche Widersprüche nicht anerkennen oder leugnen, dann leben Sie in einer Traumwelt und werden politisch keinen Ansatzpunkt finden, um die Verhältnisse zu wenden, das liegt doch wohl auf der Hand, oder? Die Entwicklung im Jahr 2013 hat gezeigt, dass Draghis Überlegung, wie die gemeinsame europäische Währung zu retten sei, richtig war, denn sie ging auf. Die EZB unter Draghi hat den Euro gerettet, nicht Frau Merkel, nicht Herr Schäuble, nicht Olli Rehn und die EU-Kommission! Ich war dafür, den Euro zu bewahren, ich war deshalb für Draghi – wofür soll ich mich rechtfertigen? Und womöglich noch gegenüber Leuten, denen Draghi das Vermögen rettete?

    Sie sind gegen die Globalisierung in ihren dominierenden kapitalistischen Erscheinungsformen, aber Sie sind für die Europäische Union, für den Euro und daher für Draghi. Ich meine, das müssen Sie zumindest erklären.

    Günter Verheugen hat in seiner Zeit als Kommissar Kritikern regelmäßig entgegen gehalten, EU und Euro seien nicht Teil des Problems, das die Globalisierung für die Leute aufwerfe, sondern Teil der Lösung. Eine Zeitlang habe ich das nachgeplappert. Leider ist es nicht wahr. Die Europäische Union, weniger der Euro, könnte hilfreich sein in einer Welt, deren Hektik und Unsicherheit viele Menschen überfordert, aber sie ist es nicht. Und warum nicht? Weil der Europäische Rat und die Europäische Kommission seit den 1980er Jahren mindestens so neoliberal durchseucht sind wie die Wall Street und die City of London.

    Woher kommt dann Ihre Anhänglichkeit an EU und Euro?

    Aus einer Güterabwägung. Ich betrachte das europäische Einigungswerk, das institutionell in der Europäischen Union gipfelt, als die bedeutendste politische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts neben den Vereinten Nationen und der Charta der Menschenrechte. Eine solche Errungenschaft sollte man nicht aufgeben, nur weil ihre maßgeblichen politischen Repräsentanten seit einiger Zeit politisch unterbelichtet sind. Die müssen halt weg, ich will sagen: Deren Mehrheit muss gebrochen werden.

    Beim Euro sind Sie zurückhaltender in Ihrer Anhänglichkeit als bei der EU.

    Zurückhaltender ja, aber ich stelle die gemeinsame Währung nicht in Frage, obwohl sie in der Krise gewaltige Anpassungsprobleme für die beteiligten Volkswirtschaften aufwirft.

    Sie waren seit Maastricht dabei…

    … noch länger.

    Haben Sie die Probleme nicht kommen sehen?

    Sie wollen eine ehrliche Antwort…

    Ja, klar …

    Also, anders als alles Andere, was in Brüssel seit dem späten Jacques Delors an verheißungsvollen wirtschaftlichen Auswirkungen der europäischen Integration prophezeit wurde, habe ich die Einführung des Euro nicht kritisch hinterfragt. Das war für mich primär eine politische Entscheidung im Gefolge der deutschen Einheit und insofern okay.

    Die von Ihnen so genannten Theologen der Deutschen Bundesbank waren aufmerksamer und kritischer …

    Die Vorstände der Deutschen Bundesbank wollten Herr im Hause bleiben und nicht Filialleiter einer Europäischen Zentralbank werden, und eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik haben sie nach Kräften torpediert. So erklären sich Anteilnahme und Kritik der Bundesbank, so erklärt sich aber auch ein Teil der Probleme mit dem Euro.

    Sie hatten dagegen keine Besorgnisse?

    Ökonomisch bin ich in den ersten Jahren an der Entscheidung nicht irre geworden, die gemeinsame Währung brachte schließlich viele und große Vorteile für die beteiligten Länder. Ein Kritiker — und ein von Jahr zu Jahr immer schärferer Kritiker — wurde ich nur in einem Punkt. In den Brüsseler Institutionen griff in den 2000er Jahren die Illusion um sich, die gemeinsame Währung verbürge aus sich heraus und mehr als alles Andere den Zusammenhalt, ja, ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Bürger der EU. Das hielt ich für groben Unfug.

    Wurde eine solche Meinung denn ernsthaft vertreten?

    Und ob. Aber das war nicht die einzige ernstgemeinte Absurdität in dieser Angelegenheit. Neben „Solidarität aus Währung” waren auch „Solidarität aus Vertrag” und „Solidarität als Himmelsgabe” im Angebot — all das mit der gleichen schädlichen Konsequenz, dass Praktiken, die Zusammengehörigkeit tatsächlich bewirkt und bestärkt hätten, zu wenig geübt wurden.

    Sie übertreiben!

    Ich übertreibe nicht. Über nichts haben sich die Verantwortlichen in der EU zwischen 1986 und 2006 so bereitwillig und so elend getäuscht wie über den Zusammenhalt in der Union. Seitdem rächt sich dieser Selbstbetrug.

  3. EU: Schmutzkonkurrenz

    Das können Sie anschaulich machen?

    Vielleicht. Erlauben Sie mir, mit einer Frage an Sie zu beginnen? Warum ist die europäische Einigung ausgerechnet Ende der 1940er Jahre in Gang gekommen?

    Zur Friedenssicherung und um den Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg zu erleichtern, sagt man.

    Ja, zur Sicherung des Friedens untereinander, zur Abwehr des Sowjetblocks und zur Versorgung der Bevölkerungen mit Nahrungsmitteln. Drei gemeinsame Ziele, aber nur eins davon war eine fundamentale Abkehr von der bisherigen Politik, nämlich dieses: Fortan wird zum Zweck nationaler Sicherheit nicht mehr gegeneinander gerüstet und Krieg vorbereitet, fortan wird eisern untereinander und miteinander Frieden gehalten.

    Das war doch einleuchtend, oder?

    Wenn das Vernünftige unmittelbar einleuchtend wäre, hätten sich die Europäer nicht in zwei Weltkriegen massakriert, sondern schon im 19. Jahrhundert ihre Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer gemeinsam organisiert. Nein, es musste nach dem zweiten mörderischen Weltkrieg erst die Erkenntnis reifen und sich politisch durchsetzen, dass die ungeregelte politisch-wirtschaftliche Konkurrenz unter Nationalstaaten Krieg bedeutet, wenn sie auf die Spitze getrieben wird, und dass mit diesem Unfug jedenfalls in Westeuropa Schluss sein müsse.

    War das so schwer einzusehen?

    Für Leute, die kurz vorher noch aufeinander geschossen hatten, war es keine Kleinigkeit und im Licht der neueren europäischen Geschichte auch nicht.

    Aber was ist Ihr Punkt?

    Mein Punkt ist, dass das ernsthaft beginnende europäische Einigungswerk mit der Ächtung der souveränen nationalstaatlichen Konkurrenz begann. Konkurrenz sollte fortan allein Sache der Wirtschaftsunternehmen sein, gesetzlich reguliert durch europäisches Recht. Konkurrenz sollte nicht länger die vertraglich verbundenen Staaten gegeneinander aufbringen können; diesen wurde vielmehr aufgetragen, zusammenzuarbeiten zum gemeinsamen Nutzen.

    Warum betonen Sie diesen Auftakt so?

    Weil das der archimedische Punkt der europäischen Einigung ist! Und weil dieser archimedische Punkt seit langem nicht mehr gilt und weil die europäische Öffentlichkeit seit Jahren nicht begreifen will, dass das Fundament des Einigungswerks zerrüttet wird! Seit den Erweiterungen der EU nach 1989 ist in Brüssel nur noch die Rede davon, wie im globalen Konzert die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu steigern sei.

    Ist das nicht nachvollziehbar?

    Es wäre nachvollziehbar, wenn sich die Anforderungen an die Unternehmen der Gemeinschaft gerichtet hätten, das war aber nicht der Fall. Vielmehr hat sich in einem schleichenden Prozess in der EU die Auffassung eingenistet, dass nicht nur zwischen den Unternehmen, sondern auch zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Gebietskörperschaften eine gewisse Konkurrenz geboten sei.

    Was ist dagegen einzuwenden?

    Dagegen ist einzuwenden, dass auf solcher Basis eine Union nur zusammen halten kann, wenn die Konkurrenz eine im Guten ist: Wer hat vorbildliche Bildungseinrichtungen, wer hat effektive Verwaltungen, wer hat günstige Gesundheitssysteme, was kann man voneinander lernen? Aber so ist die eingeforderte Konkurrenz ja nicht gelaufen.

    Wie denn?

    Als Schmutzkonkurrenz. Wer senkt die Steuern besonders raffiniert für die Unternehmen und doch einträglich für den nationalen Fiskus ? Wer gräbt den Partnern am elegantesten das Wasser ab durch versteckte Senkung der Standards bei Umweltschutz, Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, Klimaschutz usw., um privatkapitalistische Investitionen anzulocken? Wer drückt den Nachbarn geschickt die Lasten der Armutsmigration auf? Und so weiter.

    Wollen Sie sagen, dass das Miteinander der EU-Mitgliedstaaten gegenwärtig nicht gerade als Zusammenarbeit bezeichnet werden kann?

    Das will ich sagen. Zusammenarbeit zum gemeinsamen Nutzen in dem ursprünglichen, durch die geschichtliche Erfahrung gesättigten Sinn hat als oberstes Gebot in der Europäischen Union seit langem ausgedient. Das ist nicht auf Anhieb erkennbar, weil die Institutionen ja funktionieren. Aber bei den Institutionen kommt es in der EU von heute nur noch auf eine wirklich an, das ist der Rat der Staats- und Regierungschefs. In diesem sogenannten Europäischen Rat werden nationalstaatliche Positionen gegeneinander abgewogen, und am Ende entscheiden dort die Regierungschefs der Mitgliedstaaten nach je nationalem Interesse.

    Ist das nicht normal?

    Es ist normal, wenn der politische Horizont vom nationalen Interesse begrenzt wird. Diese Sicht verbindet Frau Merkel mit Herrn Cameron oder auch, d’outre-mer, mit Herrn Obama oder diesem durchgeknallten neuen australischen Premierminister, dessen Namen ich mir nicht mehr merken will — eigentlich mit allen politischen Bossen, solange sie nicht in Rente sind.

    Und woher kommt das?

    Im Europäischen Rat, aber auch im Europäischen Parlament, sitzen Politiker, die national gewählt wurden und nur national wiedergewählt werden können, das erklärt das meiste.

    Aber diese Politiker könnten doch auch einen gemeinsamen Nutzen höher schätzen als nationale, also partikulare Konkurrenzvorteile?

    Sie haben Recht, gelegentlich geschieht es auch. Die zu beantwortende Frage heißt: Warum ist es in der Europäischen Union nicht die Regel? Meine Antwort lautet: Weil der Cantus Firmus gewechselt wurde.

    Das klingt jetzt sehr nach Johannes Rau.

    Dem Begriff nach ja. Der Sache nach ist es so: Entweder heißt die Richtschnur „Zusammenarbeit”, dann halten die Partner Ausschau nach gemeinsamem Nutzen, gemeinsam zu erzielenden Erfolgen und richten sich darauf ein. Oder die Richtschnur heißt „Konkurrenz”, dann wird allein der eigene, der nationale — oder auch regionale — Vorteil angestrebt, und der Nutzen der Partner hat bloß noch den Charakter eines mehr oder weniger willkommenen zusätzlichen Effekts.

    Ich nehme an, Sie sehen den Vorrang, den die Konkurrenz in der EU gewonnen hat, in engem Zusammenhang mit dem Siegeszug des Neoliberalismus seit Ende der 1970er Jahre?

    Womit sonst? Es ist übrigens ein „Wiedergewinnen”, ein Rückfall in Zeiten, die man glücklich vergangen wähnte.

    Haben Sie in Brüssel etwas dagegen getan?

    Mit den beschränkten Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, bin ich dagegen angegangen, klar. Die albernen Quellen der Solidarität, die ich eingangs nannte, habe ich ein ums andere Mal verspottet und argumentiert, dass allein gelingende Zusammenarbeit und die Realisierung eines klar erkennbaren Mehrwerts für jeden der teilnehmenden Partner geeignet seien, das Ansehen der Gemeinschaft zu festigen und zu heben. Das heißt, ich habe echte Gemeinschaftspolitiken gefordert und gefördert und nicht die abgeschmackte Variante: Alle machen das Gleiche, aber jeder für sich. Meine Fraktion ist mir dabei gefolgt.

    Gab es auch sonst Zustimmung?

    Durchaus, wir waren nicht allein unterwegs. Dieser Ansatz hatte und hat nach wie vor Verfechter in allen Institutionen, mit Ausnahme des Rates, seine Resultate sind auch erkennbar. Unter den Kommissaren möchte ich einen klugen Compagnon ausdrücklich nennen: Michel Barnier. Aber als ich 2011 ausschied, war das noch keine Macht und ist heute leider immer noch keine.

    Michel Barnier ist ein französischer Gaullist…

    Ja, und ein Europäer comme il faut. Da frohlockt der Freigeist in mir.

  4. Zusammenarbeit

    Bevor ich auf die Makroökonomie zu sprechen komme, möchte ich noch einen Augenblick bei „Zusammenarbeit und Konkurrenz” verweilen. Sie haben einige mehr oder weniger aktuelle Anmerkungen dazu gemacht, aber ich weiß, dass Sie diesem Spannungsfeld eine grundlegende Bedeutung für das soziale Leben beimessen. Können Sie das knapp und anschaulich erläutern?

    Zusammenarbeit und Konkurrenz oder wie Andere es nennen: Kooperation und Wettbewerb — sind die beiden Verhaltensmuster, die die menschliche Gattung seit den Anfängen vor zwei bis drei Millionen Jahren fundamental bestimmen. Als Historiker und Sozialwissenschaftler hänge ich an meinen gelernten Fächern, aber ich kann nicht bestreiten, dass ich seit vielen Jahren keine spannenderen Wissenschaften kenne als die Paläoanthropologie und die Soziobiologie.

    Was finden Sie so spannend daran?

    Beide Wissenschaften sind in einfallsreichen Studien dem Verhältnis auf der Spur, in dem Kooperation und Wettbewerb bei der Entwicklung der menschlichen Gattung zusammenspielen und deren Aufstieg erlauben. Nicht alle Forschungsergebnisse passen zusammen, klar, aber es gibt Einsichten, an denen wohl nur noch schwer zu rütteln sein wird.

    Können Sie in einem Satz die bedeutsamste nennen? Wir können das Feld ja nicht abschreiten.

    Evolutionsgeschichtlich überragt im menschlichen Zusammenleben die Kooperation den Wettbewerb.

    Ist das gesicherte Erkenntnis?

    Ich denke ja. E. O. Wilson, der Mann, der die Soziobiologie neu erfunden hat, legte 2012 eine „biologische Geschichte des Menschen” vor und nannte sein Werk bezeichnender Weise „Die soziale Eroberung der Erde”. Wilson stützt sich stark auf Michael Tomasello, der als Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie eine Serie vorzüglicher empirischer Studien unternahm, die eines sicher belegen: Die Menschen sind die bestimmende Gattung auf diesem Planeten nicht geworden, weil sie allzeit als egoistische Triebtäter gegeneinander ihr Glück gesucht hätten.

    Und worüber wird gestritten?

    Vornehmlich über die evolutionären Mechanismen, die zum Vorrang der Zusammenarbeit in eusozialen Systemen — das menschliche Zusammenleben ist ein eusoziales System — führen.

    Ich vermute, das würde uns jetzt zu weit führen. Darum kurz gefragt: Was lehren uns diese Wissenschaften mit ihren neueren Erkenntnissen, vorausgesetzt, diese erweitern tatsächlich das Verständnis der Welt?

    Sie lehren uns, dass der „Homo oeconomicus” eine Kopfgeburt des triumphierenden Kapitalismus ist und nicht das Ergebnis der Evolution. Sie sagen das Gleiche vom „egoistischen Gen”, zumindest wenn es um die Menschen in ihrer Vergesellschaftung geht. Sie legen dar, dass der Kapitalismus, als Lebensform verwirklicht, eine Überreizung der menschlichen Natur erzeugt. Der traditionelle Sozialdarwinismus ist erledigt.

    Vorrang der Zusammenarbeit bedeutet aber doch nicht Verneinung der Konkurrenz?

    Natürlich nicht, Individuen tun mal dies, mal das, aber nie ein Leben lang nur dies oder das. Und mm nehmen Sie die demokratische Ordnung. Demokratie ist durchaus dem Menschen, wie er evolutionär geworden ist, gemäß. Sie kann nicht gelebt werden ohne einen kooperativen Rahmen, also ohne ein organisiertes Gemeinwesen mit Rechtsordnung, das Leib und Leben der Bürger schützt. Innerhalb dieses Kooperationsrahmens entfaltet sich die Demokratie als politischer und geistiger Wettbewerb von Parteien, Verbänden und selbstverständlich auch Individuen.

    Die Ordnung erlaubt den Wettstreit?

    Die kooperative Ordnung erlaubt einen sozial verträglichen, das Gemeinwesen nicht zerstörenden produktiven Wettbewerb.

    Und das behaupten Sie genau so auch für die Wirtschaft?

    Exakt. Der Kapitalismus lebt von Voraussetzungen, die er aus sich heraus nicht schafft. Ohne einen kooperativen Rahmen von Recht und Ordnung in staatlichen und supra-staatlichen Assoziationen gibt es in Zeiten der Globalisierung keinen zivilen Wettbewerb, sondern bloß Mord und Totschlag, Monopol und Kartell, dazu eine willkürliche Allokation von Ressourcen. Statt der Produktivkräfte werden Prunk und Protz entfaltet, das gute Leben wird den Religionsgemeinschaften überantwortet, und die versprechen es der Masse der zu kurz Gekommenen für das Jenseits, für die Zeit nach der Wiederauferstehung des Fleisches. Oder so ähnlich.

    Können Sie das auch unpolemisch in einem Satz sagen?

    Die verbindliche Zusammenarbeit verhindert die ungezügelte Konkurrenz, sie ist als übergeordneter Rahmen unerlässlich, damit ein Leben im Wettbewerb überhaupt gedeihen kann. Insofern spreche ich vom Vorrang der Kooperation vor dem Wettbewerb.

    Warum ist Ihnen das so wichtig als wissenschaftliche Erkenntnis?

    Die Aufklärung, also die intellektuelle Welt seit dem 17. Jahrhundert ist doch nichts ohne Wissenschaft! Die religiösen Phantastereien von der Erbsünde über das Höllenfeuer bis zur Auferstehung des Fleisches, die die abendländische Menschheit Jahrhunderte lang in Atem hielten, sind nicht koppheister gegangen, weil Leute moralisch dagegen argumentiert hätten, sie verloren ihre Bedeutung, nachdem die Wissenschaften sie als Legende und Trug entlarvt hatten und mehr und mehr Leute nickten oder sich schämten.

    Könnte es vielleicht sein, dass Sie wissenschaftsgläubig sind, wo andere dem Glauben an diesen oder jenen Gott anhängen?

    Ich glaube nicht an die Wissenschaft, ich betreibe sie. Versuchen Sie mal, Gott zu betreiben. Nein, wenn man Gott aufklärt, bleibt nichts von ihm übrig, wenn man die Wissenschaft aufklärt, wird sie tendenziell besser und besser, bleibt gegen Kritik offen und dem Fortschritt zugewandt.

    Sie haben es wirklich nicht mit Heidegger und der Postmoderne?

    Absolut nicht. Aufklärung und Wissenschaft sind durch ihre Erträge und durch die zwanglose Behebbarkeit ihrer Irrtümer das gedanklich beste Angebot für ein anständiges Leben — gestern, heute und morgen voraussichtlich auch. Die teils offenen, teils subkutanen Attacken der Postmoderne auf die Erkennbarkeit der Welt und die Leugnung der Erkennbarkeit repräsentieren das idealistische Verbrechen der Gegenwart.

    Ich halte fest: Sie wollen nicht moralisch oder ethisch überzeugen, sondern wissenschaftlich?

    Ja, ganz die alte sozialdemokratische Schule. Aber Moral oder Ethik schätze ich deshalb nicht gering.

    Ein Beispiel?

    Ich denke, wissenschaftlich ist unbestritten, dass die Menschen Allesfresser sind und diese Disposition ihrem evolutionären Aufstieg förderlich war. Ethisch bin ich gleichwohl mit jenen im Bunde, die meinen, dass es eines der vornehmsten Ziele des menschlichen Verstandes sein solle, Verfahren und Produkte zu erkunden, um dem Menschen in der Ernährung fleischlich anmutende Genüsse zu verschaffen, ohne dass zu diesem Zweck täglich milliardenfach Lebewesen viehisch massakriert werden müssen.

    Glauben Sie wirklich, dass das geht?

    Wenn die Menschheit auch nur noch 200 Jahre ohne finale Katastrophe weiter macht: klar! Der Druck wächst, und die Intelligenz ist da.

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