Ist Europas Energiesicherheit durch Russland oder durch die Ukraine bedroht?
Nachdem die Verhandlungen im Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine einmal mehr gescheitert sind, hat Russland die Lieferungen in sein Nachbarland einstweilen eingestellt. Teile der deutschen Medien schwadronieren vor diesem Hintergrund wieder einmal von einem Gaskrieg gegen Europa und stellen die Russen als Aggressor dar. Doch dieses Bild hat mit der Realität nicht viel zu tun und läuft vor allem auf die Promotion der Förderung von Schiefergas – dem sogenannten „Fracking“ – hinaus. Von Jens Berger
Stellen Sie sich bitte einmal folgende Situation vor: Sie teilen sich mit Ihrem Nachbarn ein Doppelhaus. Da das Haus früher nur von einer Partei bewohnt wurde, liegt der Hauptanschluss für den Strom jedoch im Keller ihres Nachbarn. Der Strom für Ihre Haushälfte zweigt vom Anschluss ihres Nachbarn ab – freilich haben Sie jedoch einen eigenen Zähler. Nun weigert sich Ihr Nachbar seit mehreren Monaten seinen Strom zu zahlen. Als Kompromiss bieten die Stadtwerke ihm an, die Altschulden zu stunden, dafür aber fortan nur noch gegen Vorkasse zu liefern. Ihr Nachbar lehnt diesen Kompromiss jedoch ab, worauf ihm der Strom abgestellt wird. Ihr Nachbar sitzt jedoch nun nicht im Dunkeln, sondern zweigt stattdessen den Strom, den er benötigt, von Ihrer Durchgangsleitung ab. Sollen Sie doch seinen Stromverbrauch bezahlen. Wer ist in diesem Szenario nun der Bösewicht? Der Stromversorger? Oder Ihr Nachbar?
Die Ukraine will nicht zahlen
Im Gasstreit zwischen Russland, der Ukraine und der EU sehen die Fronten ganz ähnlich aus. Die neue Regierung in Kiew weigert sich, die Gaslieferungen des staatseigenen ukrainischen Gaskonzerns Naftogaz zu begleichen. Von den Gaslieferungen seit November wurde bislang nur ein Bruchteil beglichen. Gazprom beziffert die Außenstände auf 4,5 Mrd. Dollar. Als Kompromiss hat Russland der Ukraine angeboten, den Gaspreis um 100 Dollar zu senken und einstweilen nur die Rechnungen für November und Dezember 2013 zu stellen. Die Ukraine schlug den Kompromiss jedoch aus und Gazprom stellte die Lieferungen daraufhin – wie zuvor angekündigt – auf ein Prepaid-Modell um. Da die Ukraine sich jedoch weigert, Gas per Vorkasse zu bezahlen, ist die Umstellung gleichbedeutend mit einem Lieferstopp.
Zu den parallel stattfindenden Preisverhandlungen siehe: Der Preis der Freiheit – Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland
Still und heimlich haben die Ukrainer ihre Gasreserven in den letzten Monaten – freilich ohne dafür zu bezahlen – auf 14 Mrd. Kubikmeter ausgebaut. Wenn man diese Reserven und „Rückimporte“ aus der EU (deren Bezahlung ebenfalls unwahrscheinlich ist) mit einbezieht, dürfte die Gasversorgung der Ukraine bis Dezember dieses Jahres gesichert sein. Spätestens ab diesem Zeitpunkt steht die Ukraine jedoch vor der Alternative, die Bevölkerung frieren und die Industrie auf Sparflamme laufen zu lassen oder das benötigte Gas zu klauen.
Die Ukraine importiert jedes Jahr rund 30 bis 40 Mrd. Kubikmeter Gas aus Russland. Im gleichen Zeitraum strömen jedoch auch mehr als 80 Mrd. Kubikmeter Gas durch die Pipelines auf ukrainischem Gebiet, das für Endkunden in der EU bestimmt ist. Bereits beim Gasstreit 2008/2009 bediente sich die Ukraine mehr oder weniger ungeniert am Gas aus den Transitleitungen und blockierte zweitweise sogar die Lieferungen nach Südosteuropa komplett.
Die EU wird die Zeche zahlen – so viel ist klar
Auch in diesem Winter könnte es für Südosteuropa Probleme bei der Versorgung mit russischem Gas geben, wenn die Ukraine sich wieder selbst an den Transitleitungen bedient. Die Rechnung wird – komme es, wie es wolle – ohnehin die EU übernehmen. Dies gestand gestern bereit der österreichische Wirtschaftsminister Mitterlehner in einem ORF-Interview ein. EU-Energiekommissar Oettinger sagte in diesem Zusammenhang, die Hilfen für Athen seien im Vergleich zu Kiews Bedarf „Peanuts“. Und damit dürfte er Recht haben. Um die Energiesicherheit der Ukraine bei anhaltend nicht vorhandener Zahlungsbereitschaft Kiews zu sichern, hat die EU zwei Alternativen: Entweder sie übernimmt die monatlich in Kiew auflaufenden Gasrechnungen aus Russland oder sie investiert in alternative Versorgungsmodelle, wie beispielsweise Flüssiggasterminals. Setzt man allerdings voraus, dass die Ukraine auch denkbare Flüssiggaslieferungen, die um einiges teurer als russisches Erdgas sind, nicht bezahlen will/kann, so dürfte eine Übernahme der Rechnungen aus Moskau für die EU wohl die preiswertere Variante sein.
Bereits heute steht fest, dass die EU-Intervention in den innerukrainischen Konflikt und vor allem die einseitige Positionierung auf Seiten der Russland-Gegner die Steuerzahler der EU-Staaten sehr teuer zu stehen kommen wird. Auch die Energiekunden werden für diese Politik noch teuer zur Kasse gebeten werden, da die EU bereits an sehr teuren Programmen zur Reduzierung der Abhängigkeit von russischen Energieimporten arbeitet. Der Haken bei der Sache ist jedoch, dass diese Alternativen (z.B. LNG-Importe aus den USA und Katar), der Ausbau der erneuerbaren Energien und eine Ausweitung des Fracking nicht nur sehr teuer sind, sondern auch zahlreiche sehr riskante Nebenwirkungen haben.
Fracking-PR im Windschatten der Russophobie
Was bei sachlicher Betrachtung ökonomischer Irrsinn ist, hat jedoch auch seien Befürworter. Warum manipulieren die deutschen Medien bei diesem Thema? Warum wird ständig der Eindruck erweckt, Deutschland werde über die Gaslieferungen von Russland erpresst? Man darf nicht vergessen, dass ein derart großer Markt wie die Energieversorgung auch Begehrlichkeiten weckt.
„Noch vor der Sommerpause“ will die Bundesregierung ein neues „Fracking-Gesetz“ beschließen. Selbstverständlich wird Fracking nun von seinen Befürwortern als goldener Ausweg aus der Energieabhängig von Russland propagiert. Oder um es anders zu sagen: Um Fracking in Deutschland durchzudrücken, braucht es den Popanz der russischen Erpressung. Denken Sie bitte daran, wenn Sie demnächst in Ihrer Zeitung oder Ihren TV-Nachrichten wieder einmal etwas vom bösen Russen hören, der „uns“ das Gas abdrehen will.