DEVISE – Verzerrte Pleite-Diagnose
Von Heiner Flassbeck.
Gar nicht drastisch genug können derzeit die Formulierungen ausfallen, mit denen die zukünftigen Großkoalitionäre die Lage der öffentlichen Haushalte in Deutschland beschreiben. Das “Unternehmen Deutschland” müsse eigentlich Konkurs anmelden, sagt der hessische Ministerpräsident, und es scheint gar, als meine er das ernst. Selbst wenn am Ende die Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie sie gekocht wurde, man kann den Eindruck nicht von der Hand weisen, dass die maßgeblichen Politiker in Berlin mit einem bis ins Absurde verzerrten Bild der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft die Operationspläne für die nächsten vier Jahre festlegen. Sicher ist damit nur eines: Jede der geplanten Operationen wird schief gehen.
Staat ist Schuldner und Gläubiger
Zunächst wird offenbar nicht verstanden, dass es bei der Pleite-Diagnose nicht um Deutschland insgesamt geht, sondern allerhöchstens um die Situation des Staates. Deutschland insgesamt hat keine Schulden, sondern ist weltweit einer der größten Gläubiger. Allein in diesem Jahr werden die Schulden des Auslands gegenüber Deutschland um 120 Milliarden Dollar wachsen. Wenn also ein Sektor in Deutschland Schulden macht, dann macht er sie gegenüber anderen Sektoren im Inland, was logischerweise an der Gesamtsituation des Landes nichts ändern kann.
Daraus folgt zunächst, dass die Schuldenfrage gerade keine “Generationen-Frage” ist. Weil wir nur Schulden gegen uns selbst machen, haben diese Schulden nichts, aber auch gar nichts mit der Belastung von späteren Generationen zu tun. Unsere Kinder erben die Schulden wie die Guthaben. Aber auch wenn man den Staat isoliert betrachtet, liegt die Pleite-Diagnose voll daneben. Eine Überschuldung stellt man in der Privatwirtschaft üblicherweise dann fest, wenn die Verbindlichkeiten die Guthaben und das vorhandene Vermögen deutlich überschreiten. Das heißt, ein Haushalt und ein Unternehmen geraten noch lange nicht in Schwierigkeiten, wenn die Nettoschulden steigen, das Vermögen aber ohne Weiteres ausreicht, den Schuldenstand abzudecken.
Auf den Staat angewendet bedeutet das, dass den Gesamtschulden des Staates das Gesamtvermögen des Staates oder gar das der gesamten Gesellschaft, die der Staat ja nur vertritt, gegenübergestellt werden muss, bevor eine sinnvolle Aussage hinsichtlich Überschuldung gemacht werden kann. Das aber tut niemand, sondern man vergleicht üblicherweise die über viele Jahre aufgelaufenen Schulden des Staates mit dem laufenden Einkommen der gesamten Gesellschaft.
Wie irreführend eine solche Rechnung ist, lässt sich leicht demonstrieren. Ich habe vor einigen Jahren ein Haus gekauft und mich hoch verschuldet. Mein Schuldenstand liegt noch heute bei weit mehr als 200 Prozent meines jährlichen Einkommens, ohne dass das meine Bank als Problem ansähe. Gerechnet gegenüber meinem Vermögen, das vorwiegend in dem Haus gebunden ist, ist mein Schuldenstand nahe null, da ich es vermeide, zusätzlich zur Hypothek auf das Haus, weitere Schulden zu machen.
Der staatliche Schuldenstand beträgt zurzeit etwa 65 Prozent des Einkommens der Gesamtwirtschaft und etwa 250 Prozent der jährlichen staatlichen Einnahmen. Das ist erstaunlich wenig. Gerechnet gegenüber dem riesigen, aber leider schwer bezifferbaren Vermögen des Staates, ist der öffentliche Schuldenstand offensichtlich ebenfalls sehr gering.
Man kann sich eine Vorstellung von der Dimension machen, wenn man die gesamten öffentlichen Schulden, die ja Schulden der Gesellschaft als Ganzes sind, dem gesamten in Deutschland wirtschaftlich genutzten Kapitalstock gegenüberstellt.
Der Kapitalstock ist in modernen Volkswirtschaften etwa fünf- bis sechsmal so groß wie das Bruttoinlandsprodukt, liegt also in der Größenordnung von 12 000 Milliarden Euro in Deutschland. Der staatliche Schuldenstand beträgt 2005 rund 1300 Milliarden. Das sind folglich ein wenig mehr als zehn Prozent Schulden in Relation zum wirtschaftlichen Vermögen des Landes, von allen anderen Gütern kultureller und sonstiger Art ganz zu schweigen. Im Ergebnis: Das Gerede von Pleite, von Überschuldung und Ähnlichem ist glatter und höchst gefährlicher Unfug.
© Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 04.11.2005 um 18:56:07 Uhr
Erscheinungsdatum 05.11.2005