Gedanken zur aktuellen Debatte um die Zins- und Geldpolitik der EZB und zum seltsamen Zustand des Kapitalmarktes
Es wird uns ja einiges zugemutet in der aktuellen Debatte um die Zins- und Geldpolitik, und damit zugleich um die weitere und notwendige Wirtschaftspolitik in Europa. Ich formuliere dazu einige Gedanken, die als Anstöße zum Weiterdenken und richtigen Hinterfragen gedacht sind. Dabei muss auch einiges eher Grundlegendes zum Funktionieren eines Kapitalmarktes gesagt werden. Von Albrecht Müller
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Beschlüsse der Europäischen Zentralbank und einige öffentliche Erwägungen dazu.
Die EZB hat gestern beschlossen,
- den Leitzins auf 0,15 % zu senken,
- den Banken große Liquiditätsspritzen in Aussicht zu stellen,
- sie hat angekündigt, Banken, die überschüssiges Geld bei der Zentralbank parken, mit einem negativen Zins zu 0,1 % zu belegen.
Typische Reaktionen darauf: Das sei eine Enteignung der Sparer, so die deutschen Sparkassen- und Volksbanken-Verbände, der Präsident des Sparkassen- und Giroverbandes bezweifelt, dass die EZB mit ihrer Zinspolitik die Konjunktur in den krisengeschüttelten Ländern Südeuropas ankurbeln werde; der französische Präsident Hollande begrüßte die Zinssenkung, die Beschlüsse würden das Wachstum ankurbeln; der stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion Fuchs sieht erhebliche Risiken, der Druck der Märkte zu Reformen und Einsparungen gerade in den Euro-Krisenländern schwinde; Spiegel Online verkündet: „Rendite ohne Risiko gibt’s nicht mehr“; die Börse in Frankfurt reagierte mit einem Freudenfeuer und dem Sprung des DAX über die Marke von 10.000, etc.
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Es ist eine Schnapsidee, vornehmlich mit der Geld- und Zinspolitik die Wirtschaftskrise Europas bewältigen zu wollen.
Die Europäische Union und an der Spitze die deutsche Bundesregierung zwingen die Regierungen der europäischen Krisenländer (und dies sind fast alle) mitten in der Krise zu Ausgabenkürzungen; in Deutschland wird das notwendige Steigen der Löhne kurz gehalten; damit wird die notwendige Angleichung der Wettbewerbsfähigkeiten der Länder der Eurozone verhindert. Dies alles führt dazu, dass Unternehmer in den Krisenländern keine Chance und keinen Zwang sehen, zu investieren. Und die Konsumenten, die Arbeitnehmer, die Arbeitslosen, die Rentner leiden unter den Kürzungen des Staates und der Unternehmen und kaufen nicht.
Wie sollen in dieser Situation eine Zinssenkung und die Zurverfügungstellung von großen Geldmengen helfen, die Konjunktur anzukurbeln? Wenn ein Unternehmen keine Verbesserung seiner Absatzchancen sieht, dann investiert es nicht. Und wenn der Zins für Kredite dank der Senkung der Leitzinsen auf ein niedriges Niveau von vielleicht 5 oder 4 % sinkt, dann wird trotzdem nicht investiert. Man kauft nicht eine zusätzliche Maschine, man baut nicht ein zusätzliches Fabrikgebäude, nur weil der Zins niedrig ist. Die Absatzerwartung ist viel wichtiger und genau da hakt es.
Mit der Zinspolitik und der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank kann man die notwendigen anderen Maßnahmen, nämlich eine expansive Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände und ein großes europäisches Investitions- und Beschäftigungsprogramm, ähnlich dem Marshallplan der Nachkriegszeit, nicht ersetzen und nicht ausgleichen.
Wenn die EZB dann trotzdem so tut, als würde es gehen, dann täuscht sie die Öffentlichkeit.
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Der Kapitalmarkt funktioniert nicht. Er ist ein zu Gunsten der Spekulanten, der Investment-Banken und der Börsen gesteuerter Markt.
Dass es jetzt für Spareinlagen gerade noch ein halbes Prozent Zinsen gibt, wenn überhaupt, ist nicht die Folge einer Preisbildung auf der Basis von Angebot und Nachfrage, sondern vor allem eine Folge der Geldmengen- und Zinspolitik der EZB. Sie bestimmt im Wesentlichen das Angebot und den Preis auf diesem Markt und sie hat mit dieser Politik die Funktionsfähigkeit der einfachsten Art der Finanzierung von Investitionen und Konsum diskreditiert und ausgeschaltet. Und sie hat dabei den anderen Formen der Finanzierung breiten Raum verschafft. Um das zu erklären, muss ein bisschen ausgeholt werden:
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Wie müsste und könnte der Kapitalmarkt optimal organisiert sein?
Unterstellen Sie, Sie wären der Planer der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen eines Landes – der Gestalter des Social Engineering. Dann würden Sie sich so genannte social techniques ausdenken. Zum Beispiel würden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Haftpflichtversicherung für Autos vorschlagen, wahrscheinlich auch eine gesetzliche Krankenkasse und eine Arbeitslosenversicherung, usw..
Sie würden dann darüber nachdenken, wie die Absichten und Möglichkeiten der Sparenden auf der einen Seite mit den Absichten und Notwendigkeiten der Investoren und Konsumenten auf der anderen Seite möglichst effizient koordiniert werden könnten. Wenn man nüchtern an diese Aufgabe heranginge, würde man mit hoher Wahrscheinlichkeit das Sparkonto als eine Möglichkeit zum Sammeln von Sparbeträgen und die Geschäftsbanken als die Instrumente der Transformation dieser Sparbeträge für Kredite erfinden. Und zur Finanzierung möglicher staatlicher Schulden käme man vielleicht und hoffentlich auf die Idee, es so zu organisieren, wie es in Deutschland mal organisiert war: dass man bei einer staatlichen Schuldenverwaltung in Bad Homburg ohne großen Aufwand und Kosten Staatsanleihen kaufen kann. Und dann käme man vielleicht noch auf die Idee, eine Aktienbörse zu erfinden. Das wäre ein Teilmarkt für Menschen, die die Entwicklung von Unternehmen einzuschätzen vermögen und deshalb direkt in einzelne Unternehmen investieren könnten. Für die Mehrheit der Menschen gilt nicht, dass sie einzelne Unternehmen einschätzen können.
Für die Mehrheit sind das Sparguthaben und Variationen davon die einfachste Möglichkeit, Geld gegen einen Zins zu sparen und damit den Banken Geld für Kredite zum Investieren in Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Volkswirtschaftlich betrachtet ist die bei diesem Verfahren stattfindende Sammlung von Kapital und die über die Kredittransformation stattfindende Vermittlung an Investoren und Konsumenten die effizienteste Art zur Organisation des Kapitalmarkts. Man braucht dazu heute Computer zum einsammeln und verwalten der Sparerbeträge und man braucht Fachleute bei den Banken, die die Investitionsmöglichkeiten einigermaßen gut bewerten und beurteilen können.
Diese effiziente Art der Organisation des Kapitalmarktes wird durch eine Geld- und Zinspolitik der herrschenden Art ruiniert. Dieser Teilmarkt „geht zur Zeit in die Knie“. Stattdessen werden die Sparer in Anlageformen gezwungen, die sie nicht überblicken und nicht überblicken können.
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Offenbar geht es nicht um die optimale Organisation des Kapitalmarktes, sondern um die Bedienung von Interessen und insbesondere von Spekulanten.
Typisch für die Denkrichtung und Stoßrichtung ist ein Artikel bei Spiegel Online vom 5.6.2014. Da wird die neue Lage mit der Feststellung umschrieben, „Rendite ohne Risiko gibt’s nicht mehr“ und es wird damit auch eine Art Zwangsläufigkeit unterstellt, die es nicht gibt. Die Situation ist von der EZB und den Regierungen gemacht. SpiegelOnline erörtert die verschiedenen Ersatz-Anlagemöglichkeiten: Immobilien, Gold, Kunstwerke oder Oldtimer. Am besten weg kommt die Aktie und abschließend heißt es:
„Generell gilt: Am besten fährt langfristig, wer seine Ersparnisse über mehrere Anlageformen streut. Wer also zum Beispiel eine selbstgenutzte Immobilie mit einem Wertpapierdepot in Form von Aktienfonds und einigen Anleihen von soliden Schuldnern paart.“
Die Niedrigzinspolitik hat so die Konsequenz, dass die kostengünstigste und effizienteste Organisation des Kapitalmarkts ausgeschaltet wird und den Sparern empfohlen wird, sich riskanteren Anlageformen zuzuwenden. Die grundlegende Eigenschaft dieser anderen Formen ist, dass daran von Einzelinteressenten verdient wird, deren Wohl wohl stärker im Blickfeld der EZB steht als das Allgemeinwohl und die effiziente Reorganisation des Kapitalmarkts:
- Beim Kauf von Immobilien verdienen die Makler und bei entsprechenden Steigerungen der dortigen Preise die bisherigen Besitzer von Immobilien.
- Beim Kauf von Aktien und beim Verkauf verdienen die Banken, die Börsen, die Broker usw., bei steigenden Kursen die bisherigen Aktienbesitzer.
- Beim Kauf von Zertifikaten und anderen riskanten Papieren verdienen die verschiedenen Formen der Finanzwirtschaft.
- Und überall verdienen jene Wirtschaftszweige mit, die als Werbeträger für die verschiedenen Anlageformen dienen. Schon heute beobachten wir, dass die Fernsehspots und die Anzeigen über einen beachtlichen Anteil von der Finanzwirtschaft geschaltet sind. Deshalb werden wir von unseren Medien über die optimale Operation der Kapitalmärkte auch nicht sachlich, sondern Interessen orientiert informiert.
Dass diese Niedrigzinspolitik in dieser Konsequenz von der EZB und ihrem Präsidenten betrieben wird, ist aus seiner Sicht konsequent. Er kommt von der Investmentbank Goldman Sachs. Diese lebt nicht von der einfachsten Form der Organisation des Kapitalmarktes. Sie lebt von der Bereitschaft der Menschen zur Spekulation.
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Vergeudung von Ressourcen. Wir haben ein Konversionsproblem.
Volkswirtschaftlich betrachtet ist diese Entwicklung als eine massive Vergeudung von Ressourcen zu betrachten. Der Kapitalmarkt verschlingt viel zu viele Ressourcen. Gut ausgebildete, intelligente junge Leute wurden in den letzten drei Jahrzehnten in Beschäftigungsfelder gelockt, die betriebswirtschaftlich für einzelne Personen und Gruppen lukrativ sind, volkswirtschaftlich sind die Investmentbanker in der Regel die reine Verschwendung. Der Betrieb eines Casinos kann bei vernünftiger Konzeption der Social Technique „Kapitalmarkt“ nicht Teil des Konzeptes sein. Das ist aber so gekommen und die politisch Verantwortlichen insgesamt, von der EU über den Internationalen Währungsfonds bis zur EZB, tun offensichtlich nichts, um dieser Vergeudung entgegenzutreten. Im Gegenteil, sie fördern sie.
Der Kapitalmarkt hat ein Konversionsproblem. Viel zu viele Menschen sind durch die Ausbreitung der Spekulation seit den neunziger Jahren in den Sektor Kapitalmarkt geleitet worden. Bankangestellte sind zu Verkäufern von Zertifikaten geschult worden. Banken haben eigene Organisationen für das Investmentbanking gegründet. Sie haben Leute angestellt, die neue Finanzprodukte erfinden. Der Staat hat mit der Privatisierung der Altersvorsorge neue Geschäftsfelder mit entsprechend vielen Beschäftigen eröffnet; die Börsen werden von den Machern der öffentlichen Meinung sogar bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zum quasi Allerheiligsten der Finanzmärkte hochstilisiert. Und selbstverständlich sind dort Menschen beschäftigt.
Gemessen an der Möglichkeit, den Kapitalmarkt einfach zu organisieren, sind das, wie gesagt, vergeudete Ressourcen. Wenn man überhaupt jemals den Kapitalmarkt wieder effizienter organisieren will, dann muss man auch das Problem der Überbeschäftigung in diesem Sektor lösen.
Zum Abschluss: dies war eine volkswirtschaftliche Betrachtung, die die Seite der so genannten Welfare Economics, also die Frage nach der optimalen Organisation von Märkten, mit einbezog. Bei rein makroökonomischer Betrachtung kommt man zu anderen Bewertungen. Diese einseitige Betrachtung sollte man sich allerdings nicht weiter leisten.