Bildung schützt vor Armut nicht und Armut behindert Bildung

Ein Artikel von Jens Wernicke

Über Bildung wird seit jeher viel diskutiert. Mit der in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmenden sozialen Ungleichheit im Land haben solche Diskussionen weiter zugenommen. Meist wird hierbei der Anschein vermittelt, Bildung bedeute soziale Absicherung. Bildung schütze vor Armut. Bildung für alle – und schon ginge es allen gut. Dass es sich hierbei vor allem um eines, nämlich einen kleinbürgerlichen Irrglauben, eine Chimäre sozusagen handelt, ist Armuts- und Ungleichheitsforschern jedoch bekannt (1). Von Jens Wernicke

Denn wo sollten sie denn herkommen: Die vielen neuen Arbeitsplätze, die sicheren Anstellungen und höheren Löhne im Land? Warum sollten in Zeiten, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, plötzlich die Regeln der pyramidenförmigen Gesellschaftsarchitektur erodieren – und auf einmal Millionen von Menschen in der Spitze der Gesellschaftspyramide Platz, Anstellung und Sicherheit finden? Nur, weil man mit Dornen bespickte Leitern zwischen den Etagen errichtet, viele hiervon auch mehr Hologramme denn Realität, ist doch oben längst nicht mehr Platz oder Raum.

Und so gestalten sich die Zusammenhänge zwischen Armut und Bildung denn auch deutlich schwieriger. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2004 zu den sozialen Determinanten von Gesundheit (2) liefert erste Hinweise auf das komplexe Bild:

„Die kombinierten Erkenntnisse aus Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Neurobiologie und Medizin deuten darauf hin, dass viel vom Verständnis der Wechselwirkungen zwischen materieller Benachteiligung und sozialem Sinn abhängt“, heißt es dort. Und weiter: „Nicht einfach materielle Armut ist gesundheitsschädigend. Der soziale Sinn, der Armut, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und anderen Stigmatisierungen beigemessen wird, ist ebenfalls wichtig. Als soziale Wesen benötigen wir nicht nur gute materielle Bedingungen, sondern von Kindesbeinen an das Gefühl, geschätzt und gemocht zu werden. Wir brauchen Freunde, wir brauchen menschliche Gesellschaften, wir müssen uns nützlich fühlen und wir müssen ein wesentliches Maß an Entscheidungsbefugnissen über eine sinnvolle Arbeit haben. Sonst sind wir deutlich anfälliger für Depressionen, Drogenkonsum, Angst, Feindseligkeit, Hoffnungslosigkeit etc.“

Die Autoren der Studie belegen, wie soziale Ungleichheit, Stress, wie frühe Entbehrungen und Traumata, wie soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit und anderes, alles Dinge, die zuerst und am stärksten für Menschen in den unteren Gesellschaftsebenen tägliche Bedrohungen oder Lebenspraxen sind, zu chronischen Krankheiten führen und das Leben massiv erschweren und verkürzen. Armut tötet also nicht nur – sie behindert auch die Realisierung von Leistung und Potential.

Aktuelle Veröffentlichungen des Robert-Koch-Instituts (3) bestätigen diese Befunde auch für Deutschland: Frauen und Männer, deren Einkommen unterhalb der Armutsrisikogrenze liegen, haben ein im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe um das 2,4- bzw. 2,7-Fache erhöhtes Mortalitätsrisiko. (Anzahl der Todesfälle in einem bestimmten Zeitraum bezogen auf 1.000 Individuen einer Population.)

Noch eindrücklicher lesen sich die Befunde, wenn sie auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt bezogen werden, die nach den Periodensterbetafeln für den Zeitraum 1995 bis 2005 für Frauen mit 81,3 Jahren und für Männer mit 75,3 Jahren beziffert werden kann. Die Differenz zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe beträgt hier, legt man die zuvor ermittelten Mortalitätsunterschiede zugrunde, bei Frauen 8,4 Jahre und bei Männern 10,8 Jahre.

Betrachtet man dabei nur die gesunde Lebenserwartung, das heißt jene Lebensjahre, die in sehr gutem oder gutem allgemeinen Gesundheitszustand verbracht werden, macht der Unterschied zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe sogar 10,2 Lebensjahre bei Frauen und 14,3 Lebensjahre bei Männern aus.

Daten der Deutschen Rentenversicherung zeigen darüber hinaus, dass sich die sozialen Unterschiede in Bezug auf die ferne Lebenserwartung im Zeitverlauf sogar noch vergrößert haben: Zwar ist die Lebenserwartung in allen betrachteten Gruppen gestiegen, die Zugewinne fielen aber in den unteren Einkommens- und Berufsstatusgruppen geringer aus. Infolgedessen haben die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen zwischen 1995/6 und 2007/8 um 1,7 Jahre und jene zwischen den Berufsstatusgruppen um 0,9 Jahre zugenommen.

Die Ergebnisse weiterer Analysen (4) belegen zudem, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus in vielen Bereichen geringere Gesundheitschancen haben. Neben dem allgemeinen Gesundheitszustand lässt sich dieser „negative Zusammenhang“ dabei auch und insbesondere bezüglich der für Bildungschancen und -teilhabe so maßgeblichen psychischen und Verhaltensauffälligkeiten feststellen. Insbesondere bei diesen zeigt sich dabei ein starker Einkommenseffekt, der den Effekt des Bildungsniveaus der Eltern deutlich übersteigt. Armut also, nicht Bildungsherkunft bzw. -mangel erschwert und hindert beim konkurrierenden Kampf um die ohnehin zu wenigen „Plätze an der Sonnenseite des Lebens“, die unsere Gesellschaft aktuell zur Verfügung stellt – auch hier.

Vergessen dürfen wir in diesem Kontext aber auch nicht den von der Weltgesundheitsorganisation so hervorgehobenen „sozialen Sinn“. Denn auch unabhängig davon, ob die dem Esel vorgehaltene Möhre namens Bildung diesen nun schneller oder klüger machte oder gar „aufsteigen“ ließe: Ist es nicht gerade dieser „Sinn“, der unserer Gesellschaft und ihren Bildungseinrichtungen mehr und mehr abhanden kommt? Denn wo ist und realisiert er sich denn, insbesondere in Bezug auf das Erleben von Handlungsfähigkeit und eigene Bedeutsamkeit, für all die Haupt- oder Förderschüler, deren gesamte Bildungskarriere primär aus einem „Du wirst eh nie dazugehören“ besteht (5)? Und wo für all die Bachelorstudierenden, die wie Fließbandprodukte immer rascher unter hohem Druck durch unsere Hochschulen geschleust werden? Und wo für all die G8-Schülerinnen und Schüler, die das, was früher noch Bildung hieß, inzwischen oftmals selbst nur noch als Bulimielernen beschreiben, das ihre Interessen und Seelen kaum mehr berührt?

Es ist inzwischen wohl evident: Die Lernenden in den Bildungsanstalten unseres Landes werden mehr und mehr ihrer Würde, ihrer Motivation und Begeisterungsfähigkeit beraubt und zunehmend zu Objekten, zu Lernmaschinen und Humankapital-Automaten degradiert. Und all das – das bringt ihnen am Ende ihrer „Bildungskarriere“ dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eben nicht nur nicht den erwarteten sozialen Aufstieg ein. Es bedroht zudem ihre Gesundheit sowie den sozialen Zusammenhalt im Land. Und ist überdies auch Gift für unsere Volkswirtschaft, die von möglichst weitreichender Potentialentwicklung (6) möglichst vieler ihrer Bürgerinnen und Bürger profitiert und lebt.

2004 veröffentlichten die Ökonomen Karla Hoff und Priyanka Pandey hierzu die Ergebnisse eines ungewöhnlichen Feldversuchs im Auftrag der Weltbank. Sie legten 642 Jungen aus entlegenen Dörfern Indiens einen Test vor, in dem es darum ging, den Weg durch ein Labyrinth zu finden. Die Hälfte der 11- bis 13jährigen Probanden stammte aus einer hohen, die andere Hälfte aus einer niedrigen Kaste. Im ersten Durchgang mussten die Kinder die Aufgaben lösen, ohne zu wissen, wer welcher Kaste angehörte. Unter diesen Bedingungen schnitten die Jungen aus den niedrigen Kasten knapp besser ab als die aus den höheren Kasten. Dann wiederholte man das Experiment, aber dieses Mal wurde jeder Junge zuvor aufgerufen, wobei er seinen Namen, sein Dorf, den Namen seines Vaters und Großvaters und seine Kastenzugehörigkeit nannte. Nach dieser öffentlichen Bekanntmachung der Kastenzugehörigkeit hatten die Kinder weiter Labyrinth-Aufgaben zu lösen. Nun zeigten sich erhebliche Unterschiede: Die Leistung der Kinder aus den niedrigen Kasten war deutlich schlechter (7).

Dieses Experiment liefert einen Beleg dafür, dass Leistung und Verhalten bei einer schulischen Aufgabe in hohem Maße davon abhängen, wie sich die Probanden von anderen gesehen und eingeschätzt, wie sehr sie sich „sicher gebunden“, geborgen und wertgeschätzt fühlen. Wer damit rechnen muss, als unterlegen zu gelten, bringt schlechtere Leitungen. Genau diese aber provoziert und produziert unser Bildungssystem aktuell mehr und mehr, indem es immer größere schulische Beschämungen, immer unsolidarischen Konkurrenzkampf sowie immer subtilere neue Auslese- und Selektionsmechanismen (8) für immer breitere Bevölkerungsteile organisiert.

Schreitet die aktuelle Entwicklung fort, ist schließlich davon auszugehen, dass die immer größeren „Bildungsanstrengungen“ jedes einzelnen vor dem Hintergrund immer gravierender werdender sozialer Disparitäten primär zu immer größer werdender sozialer Unsicherheit und Verarmung beitragen beziehungsweise diese legitimieren werden – und zwar auch und gerade „unter den höher Gebildeten“. Es ergibt sich das Bild, dass der Esel, der, für die ihn umgebenden sozialen Realitäten blind, allein gen „Bildungs-Möhre“ trabt, um seine individuellen Wettbewerbsbedingungen und Aufstiegschancen hierdurch zu verbessern, jene der sozialen Klasse, der er entstammt, in Breite hierbei massiv unterminiert.

Denn was wird wohl geschehen, wenn demnächst von der Fachkraft für Reinigungsarbeiten ein Abitur oder ein Bachelor-Abschluss erwartet wird – was geschieht dann mit jenen, die „nur“ einen Haupt- oder Realschulabschluss und damit etwas ihr eigenen nennen, das vor einigen Jahrzehnten noch für beispielsweise den Lehrerberuf und somit eine soziale Position etwa in der Mitte der gesellschaftlichen Pyramide qualifiziert hat?

Literatur:

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