EU-Wahlkampf als innergriechische Machtfrage
In keinem anderen EU-Land sind die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) so stark mit einer innenpolitisch-nationalen Bedeutung aufgeladen wie in Griechenland. Das hat vor allem zwei Gründe: Die Europawahl fällt mit dem zweiten Durchgang der Kommunalwahlen zusammen, die über die lokale Selbstverwaltung in 350 Städten bzw. Gemeinden und in den 13 Regionen Griechenland befinden. Noch bedeutsamer ist, dass die drei Wahlvorgänge (von denen der erste Wahlgang auf kommunaler Ebene schon am letzten Sonntag stattgefunden hat) wegen der Fragilität der politischen Verhältnisse im Allgemeinen und der stets gefährdeten parlamentarischen Mehrheit der Koalition aus Nea Dimokratia und Pasok zu einem Crashtest für die „Haltbarkeit“ der Regierung Samaras geworden sind. Von Niels Kadritzke
Diese Konstellation macht die zwei Etappen der Kommunalwahlen, vor allem aber die Europawahlen vom 25. Mai zu einer Art Plebiszit über das Schicksal der Regierung Samaras/Venizelos. So sieht es nicht nur die linke Oppositionspartei Syriza, deren Vorsitzender Alexis Tsipras schon seit Monaten verkündet, eine Niederlage der „Memorandums-Parteien“ bei den Europa-Wahlen komme einem Mißtrauensvotum des Volkes gegenüber der Sparpolitik der Regierung und der Troika gleich. Auch Regierungschef Antonis Samaras ruft die griechischen Bürger auf, bei den Europawahlen über die Alternative „stetiger Fortschritt oder Rückkehr des Alptraums eines Staatsbankrotts“ zu entscheiden. In ihrem letzten Werbespot vor den Europawahlen warnt die ND, Griechenland dürfe auf keinen Fall in den Zustand der „Ungewissheit und zur Unstabilität“ zurückfallen. Eine Syriza-Regierung bedeute, dass die Griechen „alles wegwerfen, was sie durch harte Opfer errungen haben“.
Die Pasok droht ihren Wählern
Am eindeutigsten hat Pasok-Chef Evangelos Venizelos, das Schicksal der Regierung mit dem Wahlausgang vom 25. Mai verknüpft: Wenn seine Partei bei den Kommunal- und Europawahlen schlecht abschneide, erklärte der Vize-Regierungschef vor drei Wochen, werde er „zum Staatspräsidenten gehen“, spricht: aus der Koalition austreten. Damit wollte Venizelos die letzten noch verbliebenen Pasok-Anhänger mobilisieren, aber für das breitere Publikum kam der Apell als purer Verzweiflungsschrei rüber. Und für die Syriza war es eine argumentative Steilvorlage. Mehrere ihrer parlamentarischen Sprecher erklärten unter Verweis auf Venizelos, wenn die Oppositionspartei bei den Europawahlen mehr Stimmen erringe als die beiden Koalitionsparteien zusammen, sei die Regierung Samaras/Venizelos „moralisch“ zum Rücktritt gezwungen. Das aber würde Neuwahlen noch in diesem Sommer bedeuten.
Noch ist es allerdings nicht so weit. Ungeachtet der zitierten Aussagen bleibt die Wahrscheinlichkeit gering, dass es noch in diesem Jahr zu Neuwahlen kommt. Und ob Venizelos seine Ankündigung ernst gemeint war, wird sich erst am kommenden Sonntag zeigen. Wie flexibel der Pasok-Chef das Wort „Erfolg“ zu interpretieren weiß, hat er bereits nach dem ersten Durchgang der Kommunalwahlen demonstriert. Venizelos war freilich nicht der einzige, der das Ergebnis vom 18. Mai als Sieg oder zumindest als Nicht-Niederlage interpretiert hat.
Das Versagen der Demoskopen
Als eindeutige Verlierer mussten sich am letzten Sonntag nur die Demoskopen fühlen, die sich vor allem mit ihren exit polls abgrundtief blamiert haben. Die fünf wichtigsten Umfrage-Institute, die ihre Kapazitäten für die exit polls gebündelt hatten, meldeten bei Schließung der Wahllokale um 19 Uhr nachgerade sensationelle Erfolge der Syriza: In der Region Attika, in der ein Drittel der griechischen Wähler zu Hause sind, und in der Hauptstadt Athen lagen die Kandidaten der linken Opposition klar vor ihren favorisierten Rivalen. Drei Stunden später sah das Bild deutlich anders und für die Syriza eher ernüchternd aus. Die Institute hatten ihre kollektiven exit polls um 19 Uhr auf der Basis von nur 20 Prozent der exit-Befragungen publiziert – ein äußerst ungewöhnliches Vorgehen, das geradezu unprofessionell anmutet.
Auch die Qualität der Umfragen hat in letzter Zeit noch weiter gelitten, weshalb viele Beobachter vermuten, dass die Institute von dem jeweiligen Auftraggeber „gekauft“ werden. Für die breite Streuung der Prognosen im Vorfeld der Wahlen gibt jedoch eine plausiblere Erklärung: Alle Institute klagen, dass bei den telefonischen Umfragen inzwischen mehr als die Hälfte der Angesprochenen eine Antwort auf die „Sonntagsfrage“ verweigert. Hinzu kommt, dass viele Bürger ihre Telefone abgemeldet haben, weshalb die telefonisch Erreichbaren nicht mehr ein repräsentatives Abbild der Gesellschaft darstellen (zum Problem der Umfragen siehe meinen Bericht vom 17. Januar 2014).
Angesichts der fraglichen Aussagekraft der Umfragen scheint es heute genau so plausibel, eine Wahlprognose aus den „Quoten“ zu erschließen, die von den führenden Wettbüros für die Wetten auf die Wahlsieger publiziert werden. In dem blog Macropolis.gr vom 19. Mai sind diese Quoten dargestellt, die in einigen Fällen die „Volksstimmung“ authentischer wiedergeben dürften als die Wahlprognosen der großen Umfrage-Institute.
Ehe ich die Ergebnisse des Wahlgangs vom vergangenen Sonntag interpretiere und auf ihre Aussagekraft für die Resultate in der zweiten Runde der Kommunalwahlen und bei den Europa-Wahlen abklopfe, gilt es einige innergriechische Voraussetzungen für das anstehende große Duell zwischen Regierung und linker Opposition darzustellen.
1. Die Regierungsparteien in Tarnanzügen
Wie stark das Selbstvertrauen der ND und der Pasok angeknackst ist, zeigt sich in ihrem „Versteckspiel“ gegenüber den Wählern. Bei den Kommunalwahlen sind die Kandidaten, die auf Parteiticket der Regierungsparteien kandidieren, eher die Ausnahme. Sehr viele lokal sattsam bekannte Parteigrößen treten als „Unabhängige“ an, um die Chancen bei Wählern jenseits ihres angestammten Lagers zu erhöhen. Die Nea Dimokratia-Kandidaten treten nur in traditionellen ND-Hochburgen (wie der nordwestlichen Region Epiros) unter ihrem politischen Klarnamen an, in den umkämpften Regionen dagegen in Tarnanzügen.
Noch konsequenter macht das die Pasok. Nicht nur, dass sie in vielen Regionen (tatsächlich) unabhängige Amtsbewerber unterstützt, sie hat sich auch insgesamt einen neuen Namen zugelegt. Alle ihre kommunalen Kandidaten firmieren unter dem neuen Namen „Eliá“ (Olivenbaum), der sich bewusst auf die italienische Mittelinks-Partei bezieht.
Unter dem neuen Namen „Elia – Dimokratiki ParataxiS“ (Demokratische Fraktion) tritt die Pasok auch zu den Europawahlen an. Die Initiative zur Gründung der Elia war ursprünglich von unabhängigen Köpfen ausgegangen, zu denen auch abtrünnige Pasok-Mitglieder aus dem Umkreis des früheren Ministerpräsidenten Kostas Simitis gehörten. Die Initiatoren wollten in Griechenland endlich eine „echte“ Sozialdemokratie etablieren, für dies es eine ziemlich geräumige Nische im existenten Parteienspektrum geben dürfte. Doch Pasok-Chef Venizelos ließ sich die Chance, die neue – und für die Pasok bedrohliche – Formation zu kapern, nicht entgehen. In der Umarmung durch die Kader der verschlissenen Pasok-Partei ist die ursprüngliche Elia längst erstickt. Inzwischen ist sie die neue Hülle der alten Pasok. Ob die Umkostümierung die Partei vor dem Untergang retten kann, ist damit zu einer Überlebensfrage für die Samaras-Venizelos-Koalition geworden.
2. Eine neue Partei, die schwer zu greifen ist
Nachdem die Pasok die Elia gekapert hat, blieb die „sozialdemokratische“ Nische zunächst unbesetzt. Aber dieser Platz ist aus zwei Gründen durchaus attraktiv: Erstens wegen der notorischen Schwäche der Pasok, die sich auf Gedeih und Verderb – aber eher auf Verderb – an die Samaras-Regierung gekettet hat, sodass ihr keinen Spielraum für „sozialdemokratische“ Akzente bleibt. Und zweitens wegen des unaufhaltsamen Niedergangs der linkssozialdemokratischen Dimar. Die steht nach ihrer (im Sommer 2013 beendeten) Beteiligung als schwächliche „dritte Kraft“ an der Samaras-Venizelos-Regierung, vor dem politischen Exitus, der schon mit den Europawahlen vom Sonntag besiegelt sein könnte. Dabei ist die „Lücke“ zwischen der sich selbst verschleissenden Pasok und der potentiellen Regierungspartei Syriza für das politische System von großer Bedeutung. Denn schon in naher Zukunft kann der Fall eintreten, dass weder die Nea Dimokratia noch die Syriza eine Regierung bilden können, weil ihnen ein Koalitionspartner fehlt. Diese Möglichkeit wird in den Medien seit Beginn der Krise intensiv diskutiert, wobei vor allem die Zeitungen und TV-Kanäle des alten Establishments ihre Besorgnis artikulieren.
Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung der Bewegung/Partei namens „To Potami“(der Fluss) zu verstehen. Gründer und Wortführer dieser „Bewegung der Bürger für die Bürger“ ist der respektierte linksliberale Journalist Stavros Theodorakis, der sich jeder ideologischen Festlegung ausdrücklich entzieht. Im März und April lag diese Gruppierung in den Umfragen bei fast 10 Prozent, inzwischen ist die Zustimmung auf 6 bis 8 Prozent gesunken. Wenn sie diesen Stimmanteil auch bei den Europawahlen erzielt (zu den Kommunalwahlen tritt To Potami nicht an), wird dies vor allem auf Kosten der Syriza gehen. Die Partei hat damit objektiv – und ungeachtet der Intentionen ihres Stifters Theodorakis – zwei Funktionen: Erstens soll sie potentielle Syriza-Wähler einfangen, die zwar gegen die aktuelle Regierung, aber nicht für „die Sozialisten“ stimmen wollen. Zweitens könnte sie nach einem möglichen Scheitern der ND/Pasok-Regierung als Koalitionspartner zur Verfügung stehen. Und zwar in erster Linie für die ND – als Reservereifen, wenn der Pasok endgültig die Luft ausgegangen ist -, aber womöglich auch für die Syriza, wenn diese selbst als stärkste Partei nicht allein regieren kann (was zu erwarten ist).
Der oberflächliche Charme der neuen Partei und ihres als Anti-Politiker auftretenden Anführers ist allerdings in den letzten Wochen bereits abgeblättert. Die Hoffnung von Theodorakis, sein „Fluss“ könnte bei den Europawahlen zur „drittstärksten“ Kraft werden, gilt inzwischen als unrealistisch. Zumal die Resultate der ersten Runde der Kommunalwahlen darauf hindeuten, dass sich eine ganz andere Partei als „dritte Kraft“ etablieren wird.
3. Die Neonazis – trotz Verbotsverfahren im Aufwind
Das größte Fragezeichen – für die Zukunft des gesamten politischen Systems – ist die Stärke der Neonazi-Partei Chrysi Avgi. Was eingangs über die Unzuverlässigkeit der Umfragen gesagt wurde, gilt noch verstärkt für die Einschätzung des rechtsextremen Potentials, weil sich viele Anhänger und potentielle Wähler bei den Umfragen nicht zur ihrer Präferenz bekennen (auch dazu Genaueres in meinem Beitrag vom 17. Januar 2014). Dass die Demoskopen die Stärke der Neonazis tendenziell unterschätzen, hat sich am letzten Sonntag bei der ersten Kommunalwahlrunde gezeigt: Im größten Bezirk Attika kam der Ilias Panajotaros auf 11,1 Prozent, sein Kamerad Ilias Kasidiaris in der Kommune Athen (die nur das Stadtzentrum umfasst) sogar auf 16,1 Prozent (beide gehören zu den wenigen ChA-Parlamentsabgeordneten, die nicht in Untersuchungshaft sitzen). Damit ist der Stimmanteil der Partei gegenüber den Parlamentswahlen vom Juni 2012 (bei denen die ChA auf knapp 7 Prozent kam) in Attika um fast 50 Prozent, in Athen sogar um mehr als 100 Prozent gestiegen.
Dieser starke Aufwärtstrend gilt allerdings nicht für die griechische Provinz. Dennoch haben die Neonazis auch auf nationaler Ebene gegenüber 2012 deutlich zugelegt. Und das obwohl die Partei inzwischen einer Anklage als „kriminelle Vereinigung“ entgegen sieht, die aber offensichtlich weder den harten Kern der Parteimitglieder noch potentielle Wähler abschrecken kann. Es ist sogar eher zu vermuten, dass die Strafverfolgung viele ChA-Anhänger in ihrer Überzeugung stärkt, ihre Partei sei zum Opfer einer Hexenjagd geworden ist, weil sie eine wirksame Bedrohung für das „alte System“ darstelle.
Nach den kommunalen Resultaten vom 18. Mai befürchten die meisten Beobachter, dass die Neonazis bei den Europawahlen vom 25. Mai noch besser abschneiden und landesweit deutlich über 10 Prozent der Stimmen bekommen werden. Zumal dann, wenn die Beteiligung bei Europawahlen niedriger liegen sollte als am letzten Sonntag (knapp 60 Prozent). Das würde der ChA zugute kommen, die ihre ganze Kraft auf die europäischen Wahlen konzentriert, um den Volkszorn zu mobilisieren und „der Junta Samaras-Venizelou den Todesstoß zu versetzen“. Zusätzlich mobilisierend wirkt dabei die Tatsache, dass die ChA vom höchsten griechischen Gericht zu den Wahlen zugelassen wurde. Diese Entscheidung des Aeropag war vorhersehbar und unvermeidlich, weil eine Partei nicht von Wahlen ausgeschlossen werden kann, so lange sie noch nicht als „kriminelle Vereinigung“ verurteilt ist. Das bestätigt die Parteianhänger in ihrer heroischen Wahrnehmung, dass sie Opfer einer politischen Verfolgung sind und dass die nationalen Parlamentsabgeordneten, die sie vor zwei Jahren gewählt haben, zu Unrecht in Untersuchungshaft sitzen.
Was zeigen die Wahlresultate vom 18. Mai?
In jedem Fall wird sich bei den Europawahlen zeigen, dass die griechischen Neonazis – trotz oder sogar wegen ihrer strafrechtlichen Verfolgung – noch stärker als 2012 abschneiden und damit eine „Bedrohung des politischen Systems“ bleiben werden (wie es in der Wahlanalyse der Website Megapolis heißt). Besonders fatal könnten die Folgen für die Nea Dimokratia sein, die damit gerechnet hat, von einem Dahinschwinden der ChA am stärksten zu profitieren.
Damit sind wir bei der Frage, was die erste Runde der Kommunalwahlen über das Potential der übrigen Parteien verrät. Auf den ersten Blick sind die Resultate vom 18. Mai für die ND verheerend, für die Syriza dagegen ermutigend. Das liegt vor allem daran, dass es die Kandidaten der konservativen Partei erstmals weder in Attika noch in Athen in die Stichwahl vom kommenden Sonntag geschafft haben, in der sich die beiden Erstplatzierten des ersten Wahlgangs gegenüberstehen. Aber das ND-Desaster ist eine optische Täuschung. Zum einen, weil die Konservativen ihre Stellung in der Provinz weitgehend behaupten konnten und in 9 von 13 Regionen in Führung liegen, während ihr Kandidat im Epirus bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erringen konnte. Demgegenüber ist die ND-Pleite in Athen und Attika eher ein „Unglücksfall“, der sich aus einer verfehlten Auswahl der Kandidaten erklärt.
In Athen haben sich sogar zwei ND-Leute die Stimmen gegenseitig abgejagt. Nur deshalb kam der junge Syriza-Kandidat Sakellariou überraschend auf den zweiten Platz und damit in die Stichwahl vom 25. Mai. Trotz dieses Achtungserfolgs wird er aber gegen den jetzigen Bürgermeister Giorgos Kaminis unterliegen, der keiner Partei angehört, aber von der Pasok unterstützt wird und im zweiten Wahlgang auch auf die ND-Stimmen rechnen kann. Ähnlich wird die Konstellation in der Region Attika sein. Hier liegt nach dem ersten Wahlgang die Syriza-Frau Rena Dourou knapp vor dem bisherigen Präfekten. Aber da dieser in der Stichwahl ebenfalls von Pasok und ND unterstützt wird, kann die Syriza auch diese wichtige Position durchaus noch verlieren.
Die Schwächen der Syriza auf kommunaler Ebene
Insgesamt liegt die Syriza auf kommunaler und regionaler Ebene keineswegs überzeugend im Rennen und ist nur in 5 der 13 Regionen in der Stichwahl vertreten. Natürlich hat die Linkspartei im Vergleich mit den Kommunalwahlen von 2010 deutlich zugelegt, aber eben so deutlich ist sie hinter ihrem Erfolg bei den nationalen Wahlen vom Juni 2012 zurück geblieben. Das ist der Parteispitze durchaus bewusst. Deshalb hat sie von Anfang an die Wahl zum Europäischen Parlament zum eigentlichen Kampfterrain um die politische Hegemonie in Griechenland erklärt.
Die relative Schwäche der Syriza auf kommunaler Ebene ist zwar verständlich bei einer Partei, die sich innerhalb von nur fünf Jahren von einer politischen Sekte zum aussichtsreichen Bewerber um die Regierungsmacht entwickelt hat. Aber sie bleibt ein großes Handicap, wenn man bedenkt, dass die Syriza – auch wenn sie die ND als stärkste politische Kraft ablösen sollte – allenfalls ein Drittel der Bevölkerung hinter sich hat und dringend einer breiteren gesellschaftlichen Verankerung bedarf. So gesehen hat die Partei bei den Regional- und Kommunalwahlen die Chance verpasst, tragfähige Bündnisse mit anderen politischen Kräften einzugehen, ohne die sie auch auf nationaler Ebene nicht erfolgreich regieren kann.
Am schwersten einzuschätzen sind die kommunalen „Erfolge“ der Pasok. Der Juniorpartner der Samaras-Regierung ist praktisch nirgends mit eigenen Kandidaten angetreten. Damit kann sie das Abschneiden der von ihr unterstützten Kandidaten (oft in einer Koalition mit unterschiedlichen anderen Parteien) je nach Wahlausgang als eigenen Erfolg verbuchen oder als Misserfolg abschreiben. So kann sie sich etwa die absehbaren Wahlsiege der unabhängigen „Titelverteidiger“ in Athen und Thessaloniki, der Bürgermeister Kaminis und Boutaris, zu gute gehalten, die vermutlich auch ohne Pasok-Unterstützung durchkommen würden. Die relativ gnädige Bilanz des 18. Mai kann die Partei aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bei den Europawahlen – gemessen an den 12,3 Prozent bei den Parlamentswahlen von 2012 – auf einschneidende Verluste gefasst sein muss. Fast alle Athener Beobachter gehen davon aus, dass die Pasok sich glücklich schätzen kann, wenn sie – im Gewand der Elia – am kommenden Sonntag noch auf die Hälfte dieses Stimmenanteils, also auf 6 Prozent kommen würde. Mit diesem Ergebnis wäre sogar die bestehende Koalition „gerettet“, die selbst bei einem erheblichen Vorsprung der Syriza vor der ND darauf verweisen könnte, dass sie noch immer mehr Rückhalt hat als die linke Opposition.
Eine entscheidende Rolle für den Abstand zwischen Syriza und ND könnte die Wahlbeteiligung spielen. Früher lag die Beteiligung in der ersten Runde der Kommunalwahlen stets höher als in der zweiten Runde, weil viele Entscheidungen schon im ersten Wahlgang gefallen waren. In diesem Jahr gibt es jedoch weit mehr „offene Rennen“ als üblich, was zu erhöhter Beteiligung animieren könnte. Unklar ist allerdings, ob das auch eine höhere Wählerquote bei den Europawahlen bedeuten wird. In jedem Fall hoffen die Regierungsparteien (nach der Einschätzung des Macropolis-blog), dass einige potentielle Syriza-Wähler am kommenden Sonntag zu Hause bleiben, weil viele ihrer Kandidaten für kommunale Ämter nicht mehr im Rennen sind.
Nationales Kräftemessen unter dem Vorwand von Europawahlen
In jedem Fall dürfte das Rennen spannend werden. Die letzte Umfrage von gestern (im Auftrag der regierungskritischen Wochenzeitung „To Pontiki“) sieht die Syriza bei den Europa-Wahlen um 2,5 Prozent vor der Nea Dimokratie. An der Parteispitze geht man intern (wie aus „gut informierter Quelle“ verlautet) davon aus, dass die Syriza mindestens vier Prozent vorne liegen wird. Und Alexis Tsipras strahlt eine fast schon leichtsinnige Zuversicht aus, wenn er in seinen Wahlreden von einem „Referendum“ über die Sparpolitik der letzten Jahre spricht: „Je größer, klarer und durchschlagender der Sieg der Syriza ausfällt, umso gewisser wird das Ende der Koalitionsregierung kommen.“ Damit fordert Tsipras das griechische Volk zu der „historischen Entscheidung“ auf, der Regierung der „Kollaborateure“, also der „Unterwerfung“ des Vaterlandes – unter die Troika und unter die Knute von Frau Merkel – ein Ende zu setzen. (Siehe dazu auch Tsipras: „Europa muss nach links abbiegen“)
Bei den abschließenden Kundgebungen der beiden großen politischen Lager gewinnt man den Eindruck, als habe der nationale Wahlkampf bereits begonnen, den die Opposition erzwingen und die Regierung unbedingt vermeiden will. Regierungschef Samaras, der für seine Wähler bereits die „success story“ vom positiven „Primärhaushalt“ erfunden hat (siehe Nachdenkseiten vom 6. und vom 17. Januar 2014), verspricht in seinen Reden weitere Wunder: die Schaffung von 550.000 neuen Arbeitsplätze innerhalb der nächsten vier Jahre; das Absinken der Arbeitslosenrate unter den europäischen Durchschnitt bis 2020; Steuersenkungen auf breiter Front, insbesondere der Unternehmens- und der Mehrwertsteuern; und natürlich die Morgengabe jedes konservativen Politikers an die Bauern: steuerfreien Traktordiesel.
Da bleibt Alexis Tsipras mit seinen Versprechungen vergleichsweise bescheiden. Aber auch er braucht im Wahlkampf nicht zu erklären, wie eine Syriza-Regierung die Rückkehr zum früheren Niveau der Renten und der Arbeitslosenhilfen finanzieren will. Diese Argumentationslücke wird einfach durch die Forderung nach dem nächsten Schuldenschnitt gefüllt, der durchaus wünschenswert aber höchst ungewiss ist.
Die Zuspitzung des Wahlkampfes auf die innergriechische Machtfrage, die von Seiten der Opposition wie der Regierung betrieben wird, lässt nicht den geringstem Raum für „europäische Themen“, um die es bei Wahlen zum Europäischen Parlament zumindest „auch“ gehen sollte. Das ist zum einen ein gutes Zeichen, weil es deutlich macht, dass die EU-Mitgliedschaft Griechenlands – wie auch die Zugehörigkeit zur Eurozone – für die meisten Griechen außer Frage steht. Es ist andererseits ein bedauerliches Defizit, wenn man bedenkt, dass kein anderes EU-Land so stark von der Ausgestaltung des „künftigen Europa“ abhängig ist wie Griechenland.
Hier kann ich mir eine kleine Nebenbemerkung nicht verkneifen: Ich finde es bemerkenswert, dass diese „Hellenisierung“ des Europa-Wahlkampfs von einem linken Politiker forciert wird, den die Fraktion der „Vereinten Europäischen Linken“ im Europa-Parlament als ihren Kandidaten für das höchste Amt in Brüssel, den Präsidenten der Europäischen Kommission präsentiert. Dass Alexis Tsipras im griechischen „Europa-Wahlkampf“ die konkreten und brennenden Fragen der EU-Entwicklung nicht zur Sprache bringt, kann man allerdings auch als ehrliche Auskunft sehen: Der Syriza-Vorsitzende kandidiert am 25. Mai für das Amt des griechischen Regierungschefs und nicht für das wichtigste Amt in der Europäischen Union. Das hat man bei der europäischen Linken allerdings von Anfang gewusst.
Im griechischen Wahlkampf hat diese Kandidatur dem Herausforderer Tsipras nicht geschadet. Wenn sich die Syriza am Sonntagabend als Sieger über die Regierungskoalition präsentieren kann (nach den eingangs dargestellten Kriterien), steht die Partei jedoch vor großen Problemen. Welche Möglichkeit hat sie, vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen? Wie steht es um die Chancen, ihre Wählerbasis so zu verbreitern, dass sie wirklich regieren kann? Welche Koalitionspartner stehen zur Verfügung, auf parlamentarischer wie auf gesellschaftlicher Ebene? Wie glaubwürdig ist das Versprechen, aus der Sparpolitik auszusteigen? Und welche eigenen „Reformen“ will sie der Gesellschaft zumuten, um das erklärte Ziel eines „neuen Griechenland“ – unter schwierigsten Bedingungen – zu erreichen?
Auf diese und andere Dilemmata der Syriza werde ich nächste Woche eingehen, wenn es darum geht, die Wahlergebnisse vom 25. Mai zu bewerten.