Europa – mehr Demokratie wagen!
Seit gestern sind die rund 375 Millionen Wahlberechtigten in der EU aufgerufen, ein neues EU-Parlament zu wählen. Viel zu wenige werden diesem Ruf folgen und wenn am Sonntagabend die Ergebnisse veröffentlicht sind, wird der Katzenjammer der etablierten Politik groß sein. Die Heuchelei kennt keine Grenzen. Wer jahrelang die Demokratie mit Füßen getreten und Europa für seine eigenen Interessen missbraucht hat, braucht sich nicht darüber zu wundern, wenn die Bürger sich vom politischen Europa abwenden. Doch diese Entwicklung ist fatal. Nur mit einem Mehr an Demokratie kann das europäische Projekt noch gerettet werden. Von Jens Berger
zum Thema: Albrecht Müller – Europa ist prima, aber die in Brüssel, Berlin u.a.m. herrschende Ideologie ist fürchterlich und ein Versager
Auf die Frage „Was ist Europa?“ gibt es viele Antworten. Seitens der etablierten Politik wird man jedoch vergeblich auf eine ernsthafte Antwort auf diese eigentlich doch selbstverständliche Frage warten. Stattdessen bekommt man Floskeln zu hören, die aus einem Paralleluniversum stammen könnten. Das real existierende Europa hat jedoch nur sehr wenig mit diesem Sonntagsreden-Europa zu tun. Das politische Europa folgt einer marktkonformen Ideologie, ist ein Europa der Reichen und Mächtigen, dem die Wünsche und Träume seiner Bürger relativ egal sind und das himmelschreiende demokratisch Defizite in nahezu allen Bereichen aufweist. Selbst für bekennende Europa-Freunde wird es da von Tag zu Tag schwieriger, den Traum von einem gemeinsamen politischen Europa zu verteidigen. Die bittere Realität lässt immer weniger Platz für Träume.
Na klar, wir haben ein Europäisches Parlament. Das hört sich doch sehr nach Demokratie an. Leider hat dieses Parlament jedoch kaum etwas zu sagen, wenn es hart auf hart kommt. In einer echten Demokratie wählt ein Parlament seine Regierung, kontrolliert sie und spricht ihr bei einem groben Zerwürfnis das Misstrauen aus, um entweder eine neue Regierung zu wählen oder sich selbst durch Neuwahlen neu zu konstitutieren. All dies trifft auf das Europäische Parlament nicht zu. Die „EU-Regierung“, also die Europäische Kommission, wird stattdessen von den Staatschefs der EU-Staaten im Hinterzimmer ausgeklügelt und dem Parlament lediglich zum Abnicken vorgelegt.
In diesem Jahr soll dies alles plötzlich anders sein. Die Spitzenkandidaten der europäischen Parteien, die einen Zusammenschluss der nationalen Parteien bilden, treten im Wahlkampf als Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten auf. Doch dies ist Augenwischerei. Die Spatzen pfeifen bereits von Dächern, dass Angela Merkel hinter den Kulissen den noch amtierenden finnischen Staatschef Jyrki Katainen – der als großer Anhänger der merkelschen marktkonformen Politik gilt – als neuen Kommissionspräsidenten gekürt hat. Kaitainen hat bereits im April angekündigt, im Juni von seinem Job in Helsinki zurückzutreten. Warum erweckt man dann bei den Wählern den Eindruck, sie würden eine Regierung wählen?
Diese Täuschung ist symptomatisch für das politische Europa. Egal was in Brüssel entschieden wird – das Volk wird nicht gefragt und seine Vertreter in Strassburg werden zwar gehört, aber nur dann ernst genommen, wenn ihr Votum auf Linie der EU-Kommission im fernen Brüssel liegt. Die Linie der EU-Kommission wird wiederum maßgeblich vom starken Deutschland, genauer gesagt von dessen Regierung bestimmt. Egal, um wessen Interessen es sich handelt – im Zweifel wird nicht im Interesse der europäischen Bürger, sondern im Interesse der deutschen Banken und der deutschen Industrie entschieden. Mit Demokratie hat dies nichts, aber auch gar nichts, zu tun.
Dazu: Philippe Legrain – Eurozone voters have been blackmailed and betrayed. No wonder they’re angry
Dennoch, bei aller berechtigten Kritik an den europäischen Institutionen: Für die Machtlosigkeit des Europäischen Parlament kann das Europäische Parlament nichts. Im Gegenteil. In der jüngeren Vergangenheit ist das Parlament mehrfach dadurch aufgefallen, dass es gegen die marktkonforme Linie der Kommission rebelliert. Doch leider sind Strassburg hier bei wichtigen Weichenstellungen die Hände gebunden. Wer Europa stärken will, muss diese undemokratische Kastration der einzigen demokratisch legitimierten Institution der EU überwinden. Wer Europa retten will, muss mehr Demokratie wagen.
Die Chancen dafür stehen, realistisch betrachtet, jedoch nicht sonderlich gut. Der größte Gewinner der Europawahlen wird – den Prognosen zufolge – ausgerechnet das Lager der Europagegner sein. Egal ob es sich um den französischen Front National oder die britische UKIP handelt – in den meisten EU-Ländern sind die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Auch in Deutschland könnten aktuellen Umfrage zufolge, sechs AfD-Abgeordnete und ein NPD-Vertreter ein Mandat für das EU-Parlament erringen. Darüber mag man klagen. Wenn man sich jedoch anschaut, wie Europa systematisch durch die etablierte Politik beschädigt wird, darf man sich über diese Entwicklung jedoch nicht wundern. Im Gegenteil. Es ist bemerkenswert und erfreulich, dass in krisengeschüttelten Europa nicht noch mehr Menschen auf die rechten Rattenfänger hereinfallen. Doch auch hier lässt die Zukunft böses erahnen.
Paradoxerweise wird der Rechtsruck die Entwicklungen, die auch die Wähler der Rechten kritisieren, weiter verstärken. Ein EU-Parlament, das zu einem nicht geringen Teil aus EU-Gegnern besteht, wird ganz sicher nicht die Fähigkeit haben, sich selbst zu einem demokratischen Organ für ein besseres Europa aufzuschwingen. Dadurch wird seine Bedeutung noch weiter zurückgehen und die marktkonforme EU-Kommission wird seine Macht noch weiter ausbauen können. Angela Merkel wird dies sicher außerordentlich freuen.
Wer mehr Demokratie wagen und die demokratischen Institutionen in der EU stärken will, muss die Parteien im europäischen Parlament stärken, die sich für ein demokratischeres Europa einsetzen. Wunder darf man sich davon jedoch nicht erwarten. Der Marsch in ein besseres, demokratisches Europa ist lang und steinig. Doch jeder lange Marsch beginnt mit dem ersten Schritt. Der größte Fehler wäre es, seinen durchaus gerechtfertigten Ärger über Europa durch eine Nichtteilnahme an den Wahlen Ausdruck zu verleihen. Dies würde genau die Kräfte stärken, die mit weniger Demokratie sehr gut leben können und Europa ohnehin ablehnen.