„Wir sind die Lohndeppen Europas!“ – Die Bild-Zeitung als Türöffner des Rechtspopulismus

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Mit den Schlagzeilen „Wir sind die Lohndeppen Europas!“ und „Die bittere Lohnabrechnung“ machte die Printausgabe der Bild-Zeitung auf der Seite 1 und 2 ihre gestrige Ausgabe auf. Unter Verweis auf Daten der EU-Kommission wird berichtet, dass die Reallöhne in Deutschland seit 1995 „nur um gerade mal 2 Prozent gestiegen“ sind und das sei der niedrigste Wert in der EU. Die anderen Länder lebten auf „unsere“ Kosten und eine Staatsbürokratie, die das Volk schröpft, das seien die Ursachen für die „mickrigen“ Reallohnsteigerungen. Diese Schuldverlagerungen sind zwei der Angelpunkte rechtspopulistischer Agitation. In der Pose des Verteidigers der Interessen der deutschen Arbeitnehmer wird hier der braune Boden für rechtsradikale Propaganda bereitet. Von Wolfgang Lieb

„Wir sind die Lohndeppen Europas“ und die „Rekord-Abzüge“ sind für BILD die beiden Ursachen für die „niedrigsten Lohnerhöhungen“ in Euro-Land.

Dazu wird dann noch die passende Grafik geliefert:

Reallöhne seit 1995
Quelle: Bild.de

Statt aber danach zu fragen, warum die Löhne – trotz der in der gleichen Zeitung verbreiteten Propaganda, dass die Wirtschaft boome und dass es „uns“ doch so gut gehe – praktisch seit fast 20 Jahren stagnierten, lenkt die Bild-Zeitung den Zorn ihrer Leser/innen auf die „Euro-Pleitestaaten“, in die „wir“ so viele Milliarden pumpten wie kein anderes Land.

Neben den im Vergleich zu Deutschland maßlosen Nachbarländern wird dem Staat und der Inflation die Schuld dafür zugeschoben, dass die Reallöhne bei uns „so mickrig gestiegen“ sind.

Bild-Zeitung als Türöffner des Rechtspopulismus

Die europäischen Nachbarn leben auf „unsere“ Kosten und eine Staatsbürokratie, die das Volk schröpft, das sind zwei der Dreh- und Angelpunkte rechtspopulistischer Agitation. In der Pose des Verteidigers der Interessen der deutschen Arbeitnehmer wird hier der braune Boden für rechtsradikale Propaganda bereitet.

Die auseinandergehende Schere zwischen Gewinneinkommen und Arbeitnehmerentgelten wird verschwiegen

Die Bild-Zeitung, die ansonsten Deutschland als Exportweltmeister feiert und den wirtschaftlichen Aufschwung rühmt, fragt nicht etwa danach, wie diese Erfolgsmeldungen mit den niedrigen Löhnen in Einklang zu bringen sind. Das Blatt verschweigt die auseinandergehende Schere zwischen den Gewinn- bzw. Vermögenseinkommen und Arbeitnehmerentgelten.

Schere arm reich
Quelle: Süddeutsche Zeitung

Ein Blick auf diese Entwicklung könnte ja bei den Arbeitnehmern Begehrlichkeiten nach höheren Lohnforderungen wecken. Eine solche Perspektive ist bei einer Zeitung, für die Umverteilung ausschließlich als Umverteilung im Armenhaus stattfinden darf, genauso wenig denkbar, wie die Tatsache, dass niedrige Löhne vor allem Ausdruck der Schwäche der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberorganisationen sind.

Dass nicht zuletzt die „Arbeitsmarktreformen“ mit Hartz IV und „einer der besten Niedriglohnsektoren in Europa“ (Schröder [PDF]) die Löhne in Deutschland drückten, ist natürlich in einem Hetzblatt auf Hartz-IV-Empfänger tabu. Berichte und Statistiken der EU-Kommission, die auf solche Zusammenhänge hinweisen, sind dieser Zeitung kaum eine Nachricht wert. (Siehe etwa Europäische Kommission, Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen Makroökonomische Ungleichgewichte – Deutschland 2014 [PDF])

Weil also von der Umverteilung von unten nach oben oder schlicht von der Ausbeutung von Arbeit zugunsten des Kapitals abgelenkt werden soll, muss zunächst einmal die Inflation für die „bittere Lohnabrechnung“ herhalten. Dabei würde gerade umgekehrt ein Schuh draus.

Die Inflation fraß in Deutschland noch am wenigsten vom Lohn

Gerade die niedrigen Löhne in Deutschland haben zu einer im Vergleich zu den Nachbarn niedrigen Inflationsrate geführt [PDF] und Niedriglöhne und niedrige Inflation haben wiederum dazu verholfen, dass Deutschland seine europäischen Partner im wirtschaftlichen Wettbewerb niederkonkurrieren konnte. Wenn überhaupt, müssten die Inflationsraten in Großbritannien, Portugal oder Frankreich die Nominallohnsteigerungen viel mehr aufgefressen haben als in Deutschland. An der Inflationsrate kann also die Stagnation der Reallöhne nicht gelegen haben.

Die Irreführung mit dem „abkassierenden Staat“

Bleibt also als Sündenbock der gefräßige Staat. Damit die Zahlen besonders dramatisch wirken, rechnet die Bild-Zeitung Steuern und die Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme natürlich dem „abkassierenden Staat“ zu.

Und hier geht die Manipulation der Leserinnen und Leser durch BILD dann erst richtig los:

Da wird folgende Grafik abgebildet:

Steuern und Abgaben
Quelle: Bild.de

Die Täuschung mit dem Vergleich zwischen Löhnen und „Arbeitskosten“

Plötzlich geht es nicht mehr um Löhne, sondern um die „Arbeitskosten“, das heißt die Gesamtkosten, die der Arbeitgeber hat, indem er nicht nur den Bruttolohn ausbezahlt sondern auch noch seine gesetzlichen Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen und die Aufwendungen für die betriebliche Altersvorsorge hinzurechnet.

Es zahlt also nicht der „Alleinstehende“ von seinem Bruttolohn 49,3 Prozent Steuern und Abgaben, sondern es ist der Anteil an den gesamten „Arbeitskosten“ des Arbeitgebers.

(Siehe zur Aussagekraft und zur Bedeutung der „Arbeitskosten“ im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit hier)

Die Täuschung über den raffgierigen Fiskus

Die weitere Täuschung ist: Die 49,3 Prozent der „Arbeitskosten“ gehen nicht etwa, wie es in der Bild-Zeitung heißt, an den „Fiskus“, also auf gut deutsch ans Finanzamt, sondern vor allem an die Renten-, an die Kranken- oder an die Pflegeversicherung. Nach dieser OECD-Statistik gehen 17,12% der „Arbeitskosten“ des Arbeitnehmers an die sozialen Sicherungssysteme und der Arbeitgeberanteil beträgt 16,16%. Zusammen macht das (nach dieser anfechtbaren Statistik) also 33,28% der 49,3% „Arbeitskosten“ aus.

(Nach jüngsten Angaben (2011) des Bundesfinanzministeriums bewegt sich die deutsche Abgabenquote mit 37,1% im Mittelfeld vergleichbarer Staaten)

Privatvorsorge käme für den Arbeitnehmer nicht billiger

Nun kann man natürlich darüber hadern, dass es in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern eine gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gibt. Man glaube aber bloß nicht, dass der Arbeitnehmer weniger von seinem Bruttolohn aufwenden müsste, wenn er die Alters- oder Krankheitsvorsorge privat versichern müsste, wie das in anderen Ländern vollständig oder teilweise der Fall ist.

Am Beispiel der Riester-Rente lässt sich das gut darstellen. Da der Beitrag zur gesetzlichen Rente aus politischen Gründen gedeckelt werden sollte, sollte der Arbeitnehmer, um die kontinuierliche Rentensenkung auszugleichen, 4% seines Bruttolohnes allein (ohne paritätische Finanzierung durch den Arbeitgeber) in die private Vorsorge einbezahlen. Diese 4% vom Bruttolohn werden natürlich in keiner Statistik mehr erfasst, schon gar nicht als „staatliche Abgabe“. Wenn also z.B. Großbritannien oder die USA geringere Prozentanteile an den Arbeitskosten für Sozialversicherungsabgaben haben, so heißt das, anders als das die Statistik ausweist, dass die Arbeitnehmer, wenn sie ein entsprechendes Sicherungsniveau erreichen wollten, einen höheren Anteil ihres Bruttolohnes für die soziale Absicherung einsetzen müssten.

Arbeitskosten, Bruttolöhne und Nettolöhne

Arbeitskosten, Bruttolöhne und Nettolöhne
Quelle: Sozialpolitik aktuell [PDF]

Wie man aus dieser Grafik entnehmen kann, beträgt der durchschnittliche monatliche Nettolohn 1.727 Euro, also 66,6% des Bruttolohns. D.h. für den Arbeitnehmer fallen 33,4% seines Bruttolohns an Steuern und Sozialabgaben an. Das ist zwar über ein Drittel, aber eben nicht fast die Hälfte, wie die Darstellung der Bild-Zeitung nahelegt. (Wer kann schon Arbeitskosten und Bruttolohn unterscheiden? Zumal wenn es in der Überschrift heißt „So viel Steuern und Abgaben werden fällig“.)

Der Mythos der zu hohen „Lohnnebenkosten“

Betrachtet man einmal die sog. „Lohnnebenkosten“ auf 100 Euro Bruttoverdienst, so sieht die Rangfolge der Staaten weitaus weniger dramatisch aus, als die Bild-Zeitung zu vermitteln versucht. Deutschland liegt dabei im hinteren Mittelfeld:

Lohnnebenkosten auf 100 Euro Bruttoverdienst in der Privatwirtschaft in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Jahr 2012

Lohnnebenkosten auf 100 Euro Bruttoverdienst in der Privatwirtschaft
Quelle: Statista

Steuerabzüge als Sündenbock

Da die Bild-Zeitung erklärtermaßen die Rolle der aus dem Bundestag gewählten FDP als Steuersenkungspartei einnimmt, dürfen natürlich die „Rekord“-Steuerabzüge als Sündenbock für die Lohnstagnation nicht fehlen.

Legt man jedoch nicht die in der Bild-Zeitung irreführende Grafik, sondern die Original-Angaben der von diesem Blatt als Quelle genannten OECD zugrunde, so erkennt man unschwer, dass der Einkommenssteueranteil an den „Arbeitskosten“ mit 16,04 Prozent unter dem Anteil Italiens und etwa auf der Höhe der USA liegt.

Die Originalgrafik der OECD zu den „Arbeitskosten“:

OECD zu den Arbeitskosten
Quelle: OECD

Grundsätzlich muss man immer wieder darauf hinweisen, dass Deutschland mit einer Steuerquote (Steuern im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) von 22,8% im internationalen Vergleich ein Niedrigsteuerland ist.

Bei der Lohnsteuerbelastung liegt Deutschland im Mittelfeld

Aber auch bei der Lohnsteuer hält sich bei dem im Hinblick auf eine hohe Steuerlast immer so gern herangezogenen „Alleinstehenden ohne Kind“ die Belastung mit 19,0% bei einem Durchschnittseinkommensbezieher in Deutschland durchaus im mittleren Feld (Vgl. Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich, Hrsg. Bundesministerium der Finanzen, Übersicht 12 [PDF]) Vollends wird die Dramatik genommen, wenn man die Lohnsteuerbelastung eines Verheirateten Durchschnittsverdieners mit 2 Kindern heranzieht, diese liegt mit 0,4% nahezu unschlagbar niedrig.

Die Irreführung mit der „kalten Progression“

Die Bild-Zeitung wäre nicht das Propaganda-Organ des Steuersenkungs-Lobby-Verbandes „Bund der Steuerzahler“, wenn auch in diesem Artikel nicht der Eindruck erweckt werden sollte, als würde durch die sog. „kalte Progression“ von einer Lohnerhöhung nichts übrig bleiben, ja dass sogar ein Minus herauskäme.

„3,7% mehr Gehalt, 13,9% mehr Steuern“, heißt es da in einer Unterüberschrift.

Nur wenn man den Text gründlich liest, wird klar, was logisch ist: durch die Steuerprogression steigt ab jedem Euro (aber auch erst ab dann), den man mehr verdient, der Prozentsatz der Besteuerung, da es sich auch bei der „kalten Progression“ um einen Prozentanteil des erhöhten Einkommens handelt, kann nie – wie immer wieder suggeriert wird – ein Minus herauskommen. Es bleibt – gefühlt – nur nicht mehr so viel von dem hinzugewonnenen Einkommen netto in der Tasche.

Auch ich wünschte mir, dass die Progressionszone vom steuerfreien Grundfreibetrag von 8.354 Euro bis zum Spitzensteuersatz von 42% bei einem Einkommen von 52.881 Euro (beim Einzelverdiener) nach oben verschoben wird. Es ist ein Skandal, dass ein Einkommensmillionär für die ersten 52.881 Euro genau so viel (oder wenig) Steuern bezahlt, wie ein gut verdienender Facharbeiter.

Die Progression greift erst ab dem Euro, den man zusätzlich verdient

Was jedoch bei der Debatte um die „kalte Progression“ – bei der Bild-Zeitung muss man sagen ganz bewusst – unterschlagen wird, ist die Tatsache, dass die Progression immer erst ab dem Euro wirkt, den man zusätzlich zu versteuern hat.

Es ist also eine plumpe Irreführung, wenn die Bild-Zeitung den Chemiewerker Sakireev zitiert: „Das ist ungerecht! Nur weil mein Betrieb noch etwas drauflegt, habe ich überhaupt etwas von meiner Lohnerhöhung.“

Nationalpopulistische Aufhetzung der deutschen Arbeitnehmer

Nationalpopulistisch wird die Bild-Zeitung, wenn sie die deutschen Arbeitnehmer gegen ihre europäischen Kollegen aufzuhetzen versucht, die in den letzten zwei Dekaden höhere Reallöhne durchgesetzt haben. (Was im Übrigen nichts über die absolute Lohnhöhe aussagt.)

Bild will seinen Lesern einreden, die Lohnsteigerungen hätten unsere europäischen Nachbarstaaten in die Pleite geführt, in die wir jetzt – angeblich – so viele Milliarden pumpen müssten wie kein anderes Land.

Die Lohnsteigerungen bei unseren Nachbarn haben jedoch zunächst einmal dazu geführt, dass dort im Gegensatz zu Deutschland die Binnennachfrage gestiegen ist:

Binnennachfrage
Quelle: EU Kommission [PDF]

Die Steigerung der Binnennachfrage in diesen Ländern hat wiederum dazu geführt, dass wir unsere durch niedrige Lohnsteigerungen (relativ sinkende Lohnstückkosten) billigen Produkte dort verkaufen konnten, während „wir“ aufgrund der geringen Lohnsteigerungen eben weniger Produkte aus dem Ausland kaufen konnten – daher die Leistungsbilanzüberschüsse von Deutschland und die Leistungsbilanzdefizite vor allem in den südeuropäischen Ländern. Dass dieses Ungleichgewicht auf Dauer nicht gut gehen konnte, verlangte nicht einmal ökonomischen Sachverstand, sondern einfache Logik.

Mag sein, dass einige europäische Nachbarn „über ihren Verhältnissen“ gelebt haben, aber jedenfalls haben die deutschen Arbeitnehmer weit unter ihren Verhältnissen gelebt. Umso bösartiger ist es, wenn nun die Bild-Zeitung die „bittere Lohnabrechnung“ nicht etwa als Argument für höhere Löhne in Deutschland gebraucht, sondern im Gegenteil Neid, ja sogar Hass auf die Arbeitnehmer in unseren Nachbarländern sät.

Statt dass es den deutschen Arbeitnehmern mit höheren Löhnen künftig besser gehen könnte und sie mehr Produkte auch von den europäischen Nachbarn abkaufen könnten, soll eine Stimmung erzeugt werden, wonach die Südeuropäer selbst an ihrer Misere „Schuld“ sind und dass es nur gerecht ist, wenn ihre Löhne – wie „wir“ Deutschen das seit fast zwanzig Jahren getan haben – drastisch gesenkt werden.

Wer dann, wenn überall die Löhne gesenkt sind, die in Europa hergestellten Waren noch kaufen können soll, das steht auf einem anderen Blatt. Aber wenn Deutschlands Exporte einbrechen und das erneut die Arbeitnehmer zu spüren bekommen, dann wird die Bild-Zeitung wieder einen neuen Sündenbock finden, auf den sie die Schuld abladen kann. Vermutlich werden es wohl wieder die Ausländer oder der Sozialstaat sein.

P.S.: Wie schamlos inzwischen die Bild-Zeitung zu einer käuflichen Nutte der Finanzwirtschaft geworden ist, prostituiert dieses Blatt inzwischen ganz offen:
In dem Beitrag „Die bittere Lohnabrechnung“ wurde unter dem Begriff „Arbeitnehmer“ ein Link auf den Privatversicherer Allianz gesetzt. Heute Morgen war der Link bei „internationaler“ auf HUK-Coburg …

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