Schein und Sein einer Nachricht
Gleich zu Beginn des Beitrags muss ich Abbitte leisten. Durch den Hinweis der NachDenkSeiten am 10.04. auf einen Artikel im „Spiegel“ zu einem Urteil des Arbeitsgerichts Cottbus aufmerksam gemacht, hatte ich schnell meine Einschätzung dazu an der Hand. Zu schnell, wie ich an späterer Stelle erst bemerkte. Schienen doch die im „Spiegel“ dargelegten Fakten eine eindeutige Sprache zu sprechen.
Nun ist es einfach meist aus Kapazitätsgründen gar nicht möglich, alle Nachrichten und Informationen vollständig zu erfassen, zu verarbeiten und anschließend gar zu hinterfragen sowie auf Richtigkeit gegenzurecherchieren. Zur Verzerrung der Realität genügt es aber oftmals schon, kleine – aber wichtige – Details fortzulassen, ohne welche ein Sachverhalt eine völlig andere Wendung erhält. So stellen sich für mich in der Zwischenzeit auch die Zusammenhänge des Rechtsstreits des wegen Lohndumping verklagten Rechtsanwalts und des klagenden Jobcenters in einem völlig anderen Licht dar.
Von Lutz Hausstein[*]
Der im „Spiegel“ dargelegte Sachverhalt schien eindeutig. Ein Rechtsanwalt beschäftigt zwei Bürokräfte für einen verächtlich niedrigen Stundenlohn von 1,54 Euro bzw. 1,65 Euro. Als Begründung für diesen lächerlichen Lohn wird die ihnen fehlende Qualifikation angegeben. Eben diese Argumentationslinie wird seit geraumer Zeit häufig verwandt, um jeden noch so absurd niedrigen Lohn (scheinbar objektiv) zu begründen. Bestimmten Personen und/oder den von diesen verrichteten Tätigkeiten werden mangelnde Qualifikationen und Fähigkeiten oder eine geringe Produktivität nachgesagt, ohne dies an objektiv mess- und überprüfbaren Maßstäben festmachen zu können (und zu wollen). Anschließend wird diesen Personen der in der jeweiligen Diskussion deklarierte Stundensatz als gerade noch leistungsgerecht zugewiesen. Mit dieser Methodik sind problemlos auch Stundenlöhne von 0,01 Euro herleitbar.
Nach dieser Logik schien bei erster Betrachtung auch der Rechtsanwalt zu handeln. Er ließ zwei Büromitarbeiter für einen extrem niedrigen Stundensatz in seiner Kanzlei für sich arbeiten, verdiente sich damit möglicherweise selbst eine goldene Nase, während die beiden Beschäftigten ihr mickriges Einkommen beim Jobcenter aufstockten. Anhand dieser Informationen, welche für sich gesehen auch erst einmal korrekt sind, war mein Urteil schnell gefällt. Hier nutzt ein Arbeitgeber den Druck auf Arbeitslose durch das Repressionsregime Hartz-IV aus, um seinen eigenen Nutzen zu mehren.
Gegen die niedrige Bezahlung der Büromitarbeiter hatte nun das Jobcenter Oberspreewald-Lausitz geklagt. Beinahe wollte man diesem dafür metaphorisch die Hand schütteln. Unternahm es doch endlich einmal etwas, was wirklich im Interesse der Arbeitslosen und Arbeitnehmer ist. Es forderte wegen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse die Erstattung der Sozialleistungen der beiden betreffenden Mitarbeiter in einer Gesamthöhe von 4.100 Euro vom Rechtsanwalt. Auch wer nur selten die Gebahren der Jobcenter für korrekt erachtet, wird aber diese Forderung begrüßen. Umso aberwitziger erschien es nun, dass das Arbeitsgericht Cottbus den Vorwurf der Ausbeutung zurückwies, da die Büromitarbeiter die Beschäftigung unter den vorgeworfenen Konditionen selbst angestrebt hatten.
Nach einem weiteren Hinweis der NachDenkSeiten am folgenden Tag erwachte jedoch der „Jagdinstinkt“ in mir. Laut der eigenen Erklärung des Rechtsanwalts war eine der beiden „100-Euro-Kräfte“ aus eigenem Antrieb vor mehr als einem Jahr mit der Bitte um ein Praktikum an ihn herangetreten. Damit wollte diese erneute Trainingsmaßnahmen des Jobcenters, welche sich allzu häufig in sinnbefreiten, einer zukünftigen Beschäftigung nicht förderlichen Beschäftigungs-Therapien erschöpfen, abwenden und stattdessen ein aus ihrer Sicht beruflich aussichtsreicheres Praktikum in der Rechtsanwaltskanzlei absolvieren. Worin allzu regelmäßig die Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen bestehen, sollte sich inzwischen auch bei weniger Informierten herumgesprochen haben: x-fache Wiederholungen des „Erlernens“ nutz-, weil erfolgloser Bewerbungsschreiben, dem Spielen im Kaufmannsladen, dem Zählen gebrauchter Puzzleteile oder Wandern durch die Stadt. Nach Ablauf des Praktikums bat sie den Rechtsanwalt um eine Weiterbeschäftigung auf 100-Euro-Basis, um den nun wieder drohenden Sinnlos-Trainingsmaßnahmen aus dem Weg zu gehen. Eine höhere Entlohnung hingegen bringe keinen Nutzen, solange damit nicht vollständig der Bereich der Grundsicherung verlassen werden könne, da jeder Euro, der den 100-Euro-Betrag übersteigt, zu 80 Prozent vom Jobcenter beim Grundsicherungsbetrag gekürzt wird. So würden beispielsweise bei einem bei einem Lohn von 300 Euro 160 Euro angerechnet – d.h. von der Sozialleistung abgezogen – werden, nur 140 Euro blieben anrechnungsfrei.
Das Gesamtbild beginnt sich zu entwirren, wenn man die Aktivitäten des Rechtsanwalts in die Betrachtungen einbezieht. Eher durch einen Zufall in den Bereich des Sozialrechts hineingeraten, nahm die Zahl der Hartz-IV-Rechtsfälle seiner Kanzlei kontinuierlich zu. Die konsequente Vertretung der Interessen von Sozialleistungsberechtigten gegen die Jobcenter sprach sich unter den Betroffenen bald herum, sodass inzwischen 90 Prozent seiner Anwaltstätigkeit Sozialleistungsstreitigkeiten umfassen. Wenngleich diese Fälle für ihn auch wenig lukrativ sind. Inzwischen beklagt sich gar der stellvertretende Geschäftsführer des Jobcenters Oberspreewald-Lausitz über die erhebliche Zunahme der Widersprüche und macht hierfür in erster Linie den umtriebigen Rechtsanwalt verantwortlich. Vorsätzlich falsche Rechtsauslegungen, mangelnde Verfassungsfestigkeit der zugrunde liegenden Gesetze oder – bei wohlwollender Auslegung – einfach nur fehlerbehaftete Bescheide durch überlastete Mitarbeiter oder widerstreitende Gesetze kommen in seinen dahingehenden Überlegungen allerdings nicht vor. Der Jurist sei schuld, wenn unter der Vielzahl von ihm abgegebenen Widersprüche das Jobcenter zunehmend handlungsunfähig wird.
So erscheint es auch nicht besonders zufällig, dass das besagte Jobcenter nun ausgerechnet gegen diesen Rechtsanwalt das Arbeitsgericht wegen des Vorwurfs der ausbeuterischen Beschäftigung bemühte. Hatte dieser doch in den vergangenen Jahren vielfach für „Unannehmlichkeiten“ beim Jobcenter gesorgt. Der Rechtsanwalt hingegen hat mit seinem Handeln die beiden Büromitarbeiter – auf deren eigenen ausdrücklichen Wunsch – vor weiteren „Qualifizierungen“ und darüber hinaus auch Niedrigstlohn-“Angeboten“ (Angebote, die man bekanntlich nicht ablehnen kann) des Jobcenters bewahrt. Denn zumindest vor der sanktionsbewehrten Unterbreitung von nichtentlohnten bzw. bis zum Betrag von monatlich 100 Euro entlohnten Tätigkeiten kann die 100-Euro-Tätigkeit die Beschäftigen nun „schützen“. Dies liegt darin begründet, dass einer der Hauptgrundsätze der aktuellen Sozialgesetzgebung ist, dass Leistungsberechtigte alles tun müssen, um ihre Bedürftigkeit zu mindern. Eine schlechter entlohnte Tätigkeit mindert ihren Anspruch jedoch nicht, sondern steigert ihn gar und würde somit diesem Grundsatz widersprechen. Völlig unberücksichtigt bleibt hierbei, ob die entsprechende Beschäftigung nun als sinnvoll oder sinnlos eingestuft werden muss. Vor diesen noch schlechter vergüteten Tätigkeiten konnte der Rechtsanwalt diese beiden „100-Euro-Mitarbeiter“ also bewahren.
Dass das Tun des Rechtsanwalts – sowohl seine generelle, aktive Unterstützung von Sozialleistungsberechtigten wie auch die konkrete Hilfe für die beiden Bürokräfte – natürlich nicht das Wohlwollen des betroffenen Jobcenters findet, erklärt sich von selbst. Demzufolge ist die Klage gegen ihn nur folgerichtig – aus der Logik des Jobcenters.
Wie abstrus die diesem allen zugrunde liegenden Hartz-Gesetze von ihrer prinzipiellen Ausrichtung schon sind, offenbart dieser Fall sehr plastisch. Jemand wie ich, dem Arbeitnehmerrechte ebenso am Herzen liegen wie die Rechte von Arbeitslosen, sieht sich gezwungen, eine absurd niedrige Bezahlung von Menschen in einer gewissen Weise zu verteidigen. Eine Bezahlung, welche – und dies ist eine entscheidende Stellschraube in dieser Betrachtung – die Sozialleistungsempfänger vor der Willkür des Jobcenters bewahrt. Derjenigen Stelle also, die sie normalerweise unterstützen sollte, sie stattdessen jedoch unter Druck setzt, drangsaliert und ihnen ihre Würde nimmt, ohne ihnen wirklich zu helfen. Es ist eben unmöglich, unter den gegebenen (falschen) Umständen in einer bestimmten Zeit ein richtiges Leben zu führen.
Aus dem Vorstehenden sollte nun keinesfalls geschlussfolgert werden, dass ich solch niedrige Bezahlungen allgemein gutheißen würde. Denn diese sind nicht nur für die Betreffenden schädlich, da sie weder ihre Existenz sichern noch ihr Selbstwertgefühl aufgrund der unzureichenden Anerkennung ihrer Leistung stützen. Sie sind gleichfalls aus volkswirtschaftlicher Sicht nicht positiv zu werten, weil damit nicht die dringend notwendige Massenkaufkraft für den Binnenkonsum geschaffen wird. Nicht zuletzt besteht jedoch die Gefahr, dass mittels dieses sehr besonderen Einzelfalls das Tor für noch absurdere Löhne geöffnet wird. Ein Tor, welches durch die nun geschaffenen Ausnahmen des „allgemeinen“, flächendeckenden Mindestlohns gezielt offengehalten wird.
Dieser konkrete Fall zeigt aufs Neue, wie absurd die gesamte Hartz-Gesetzgebung ist und entlarvt gleichzeitig die Farce des seit Jahren entfachten Trommelfeuers über die angeblich großartigen Erfolge der Agenda 2010. Diese gibt es nicht. Zumindest nicht für die Betroffenen selbst und einen Großteil der abhängig Beschäftigten. Es geht „uns“ nicht gut.
[«*] Lutz Hausstein (45), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.