Gabriels Energiewende: Nach Lohndumping Stromdumping
“Aber was vor einigen Jahren zu hohe Lohn- und Sozialkosten waren, sind heute die wachsenden Energie- und Rohstoffkosten”, so der Bundesminister für Wirtschaft und Energie und SPD-Vorsitzende, Sigmar Gabriel, am 13. März 2014. Und, so Gabriel weiter: “Die Strompreise in Deutschland sind doppelt so hoch wie in den USA. Wenn wir nicht mindestens unsere Industrie entlasten, droht uns eine Deindustrialisierung.” Das, so Gabriel, sei keine “plumpe Propaganda der Wirtschaft, sondern bittere Realität”. Es ist Gabriels “Realität”. Und es ist die “Realität” der „Energieintensiven Industrien“ [PDF – 65 KB], zu deren Büttel sich Gabriel gemacht hat. Er schadet damit nicht nur der Energiewende und dem sozialen Zusammenhalt in Deutschland und Europa. Er führt damit aller Voraussicht nach die SPD mit wehenden Fahnen in die nächste Etappe ihres Untergangs. Von Thorsten Hild
Die erste Etappe in den Untergang war die Agenda 2010. Die gemeinsame Grundlage für beide Politiken: Die Missachtung der Realitäten, die Hörigkeit gegenüber der Industrie, die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den europäischen Nachbarn.
Gabriels oben zitierte Sätze, die er auf seiner offiziellen facebook-Seite äußerte, belegen, dass er bis heute daran glaubt, dass Deutschland vor der Agenda 2010 an “zu hohen Lohn- und Sozialkosten” krankte. Er hat also bis heute nicht zur Kenntnis genommen, dass die hohe Arbeitslosigkeit ein Ergebnis der schlechten Konjunktur ist, deren negativen Verlauf die Agenda 2010 mit ihrem Druck auf Löhne und Sozialausgaben sogar noch verschärft hat, und die eine anhaltende, auch im internationalen Vergleich ausgeprägte, Investitionsschwäche nach sich zog.
Mit seiner Gleichsetzung der vermeintlich “zu hohen Lohn- und Sozialkosten” damals mit den “wachsenden Energie- und Rohstoffkosten” heute macht er unmissverständlich deutlich, dass ihn bei der Energiewende dasselbe Motiv antreibt wie Kanzler Schröder bei der Agenda 2010, nämlich die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands über Kostensenkungen für die Unternehmen zu stärken bzw. zu sichern. Ein entscheidender Punkt dabei, und das macht Gabriel ebenfalls deutlich, ist, dass er die absoluten Kosten als Maß für die Wettbewerbsfähigkeit heranzieht: “Die Strompreise in Deutschland sind doppelt so hoch wie in den USA.”
Entsprechend werden bis heute regelmäßig absolute „Arbeitskosten“ international verglichen. Entscheidend für die internationale Wettbewerbsfähigkeit sind jedoch nicht die absoluten Arbeits- und Energiekosten – sonst wäre gemessen an den absoluten Lohnkosten Afrika südlich der Sahara sicherlich seit langem Exportweltmeister -, sondern die relativen Arbeits- und Energiekosten sowie andere wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen.
Betriebswirtschaftlich, also auf der Ebene des einzelnen Unternehmens, heißt das: Entscheidend dafür, inwieweit die absoluten Arbeits- oder Energiekosten die internationale Wettbewerbsfähigkeit bestimmen, ist der relative Lohn- oder Energiekostenanteil an den Gesamtkosten. So können beispielhaft die Lohn- oder Energiekosten in einem Unternehmen in Deutschland durchaus doppelt so hoch sein wie in einem Unternehmen in den USA; liegt jedoch gleichzeitig der Lohn- oder Energiekostenanteil in der Produktion aufgrund höherer Kapitalintensität oder höherer Energieeffizienz im deutschen Unternehmen nur halb so hoch wie im Unternehmen in den USA, liegt das deutsche Unternehmen immer noch in der Wettbewerbsfähigkeit gleichauf mit dem Unternehmen in den USA. Und: Selbst, wenn das deutsche Unternehmen bei einem Kostenfaktor im internationalen Vergleich schlechter abschneiden sollte als beispielsweise ein Unternehmen in den USA, ist noch die Frage offen, ob andere Wettbewerbsfaktoren (Infrastruktur, ein relativ niedrigeres Niveau bei anderen Produktionskostenfaktoren) den Kostennachteil ausgleichen oder sogar mehr als ausgleichen.
Aber selbst wenn ein Unternehmen im internationalen Wettbewerb nicht erfolgreich ist, muss dies noch nicht auf alle Unternehmen desselben Wirtschaftszweiges zutreffen. Unternehmen, die erfolgreich investieren und auf diesem Weg ihre Arbeits- und Energiekosten über eine steigende Arbeitsproduktivität und Energieeffizienz senken, halten oder gewinnen in der Regel Marktanteile; Unternehmen, die dies nicht tun (unternehmen!), verlieren Marktanteile. Das ist Marktwirtschaft und Ausdruck eines fairen Wettbewerbs. Unternehmen einfach so von Energiekosten zu befreien – noch dazu, wie beim EEG festgeschrieben, ohne jede Prüfung der Wettbewerbsfähigkeit – oder sie, wie (vor allem) durch die (Hartz-)Gesetzgebung der Agenda 2010, einfach so durch niedrige Löhne zu entlasten, zerstört dagegen die „schöpferische“ (Schumpeter) Marktwirtschaft, indem sie ihren wichtigsten Mechanismus, nämlich durch Investitionen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Verteilungsspielraum zu gelangen, lähmt oder ganz außer Kraft setzt. Hier und nur hierfür ist Deutschland in den letzten Jahren ein Musterbeispiel, und zwar ein ausgesprochen negatives. (Vgl. DIW: „Deutschland muss mehr in seine Zukunft investieren“ [PDF – 1 MB])
Dieses grundsätzliche Verständnis macht deutlich, dass Gabriel bei der Energiewende einen Irrweg fortsetzt, den seine Partei unter Schröder begonnen hat. Nach dem Lohndumping folgt nun das Stromdumping. Allein die Ausgleichsregelung für die Industrie nicht degressiv gestaltet zu haben, ist ein grober Fehler in der Ausgestaltung. Ein schrittweiser, degressiver Abbau einer gewährten Ausgleichsregelung würde – wie die degressive Abschreibung – den Unternehmen Anreiz und Planungssicherheit geben, in mehr Energieeffizienz zu investieren. Neue, beschleunigte Prozess- und Produktinnovationen wären die wahrscheinliche Folge.
So aber, wie Gabriel es jetzt im Namen der Industrie durchgesetzt hat, werden die Unternehmen aus ihrer unternehmerischen Verantwortung im vornehmsten Sinne, nämlich angemessen zu investieren, um sich im Wettbewerb zu behaupten und soziale Verteilungsspielräume für die Zukunft zu sichern, entlassen.
Neben diesen grundsätzlichen Erwägungen stellt sich aber die Frage, inwieweit es überhaupt Anzeichen dafür gibt, dass die energieintensiven Industrien in Deutschland ein Wettbewerbsproblem gegenüber den USA und dem Rest der Welt haben. Eigene Untersuchungen haben ergeben, dass dies, u.a. gemessen an der Entwicklung der Welthandelsanteile und der Handelsbilanzsalden in einzelnen energieintensiven, von der EEG-Umlage befreiten Warengruppen, nicht der Fall ist. Was nun die Wettbewerbsfähigkeit zu den USA anbelangt, weist Deutschland selbst in der gern herangezogenen Aluminiumbranche sehr hohe Exportüberschüsse gegenüber den USA aus (siehe dazu zuletzt hier).
Interessant ist schließlich noch, dass Gabriel meint, eine stärkere Belastung der Industrie würde nicht nur hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland gefährden, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Diese Sicht ist aber wiederum durch nichts eindrucksvoller widerlegt worden als durch die Eurokrise und das ihr vorangegangene, im Rahmen der Agenda 2010 durchgesetzte, deutsche Lohndumping. Zwar wurde die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie dadurch gestärkt, die der anderen Länder aber vernichtet; gleichzeitig wurden die anderen Länder der Europäischen Währungsunion durch die mit dem Lohndumping einhergehende schwache deutsche Binnennachfrage eines wichtigen Marktes beraubt. Eine ähnliche Entwicklung ist durch das Stromkostendumping zu erwarten. Nachrichten wie diese könnten sich daher in Zukunft häufen: “In den Niederlanden geht eine Aluminiumhütte pleite. Sie gibt billigem deutschem Strom die Schuld.” Und: Entgegen der zuletzt wiederum auch von Gabriel aufgebauten Drohkulisse einer Deindustrialisierung Deutschlands haben eigene Untersuchungen ergeben, dass die deutsche Industrie sich sehr gut behauptet. Untersuchungen für die anderen Euro-Länder stehen noch aus. Es zeichnet sich jedoch ab, dass diese sehr wohl von Deindustrialisierung bedroht sind bzw. häufig noch nicht einmal eine breite industrielle Grundlage haben. Ein deutsches Stromkostendumping wird der Überwindung dieses Problems nicht förderlich sein, sondern die vorhandene Kluft nur noch vertiefen; und es verdüstert die Perspektiven für ein industrialisiertes, soziales und ökologisches Europa.
Vor diesem Hintergrund ist die Drohkulisse Gabriels sowohl bei den Arbeitsplätzen als auch in der Frage der Deindustrialisierung als unverantwortlich, wenn nicht zynisch zu bewerten.
Es ist bei all dem auffallend, dass Gabriel versucht, seine fehlende Substanz mit geradezu unverschämt anmutendem Eigenlob wett zu machen. Hunderte Kommentare unter entsprechenden Einträgen von ihm auf seiner offiziellen facebook-Seite zeigen indes, dass diese politische Kaltschnäuzigkeit bei seinen Leserinnen und Lesern nicht ankommt. Wer sich einmal so weit von der Wirklichkeit der „normalen“ Menschen entfernt hat, wie offenbar Gabriel, den wird jene Empörung, die sich in jenen Kommentaren Luft verschafft, wohl nicht mehr erreichen. Vielleicht tun dies ja aber noch die Umfrageergebnisse. Die SPD liegt nicht erst mit der jüngsten Sonntagsfrage bei 23 Prozent.
Thorsten Hild arbeitet als Journalist und Volkswirt in Berlin und ist Herausgeber von Wirtschaft und Gesellschaft – Analyse & Meinung.
Quelle: Harm Bengen