„Gesundheitsausgaben 2012 übersteigen 300 Milliarden Euro“ – Eine Kostenexplosion sieht anders aus
Seit Jahren lesen und hören wir ständig Schreckensmeldungen über Kostenexplosionen im Gesundheitswesen. Die alternde Gesellschaft und der medizinisch-technische Fortschritt [PDF – 569 KB] werden üblicherweise als Gründe für die Kostensteigerungen genannt. Eine Gesundheitsreform nach der anderen wurde damit begründet, dass die Kosten gedämpft oder zumindest der Kostenanstieg begrenzt werden müssten, damit die Beitragssätze für die Krankenversicherungen nicht weiter anstiegen und die sog. „Lohnnebenkosten“ keine Arbeitsplätze gefährdeten. Auch gestern wählte das Statistische Bundesamt mal wieder eine besorgniserregende Schlagzeile: „Gesundheitsausgaben 2012 übersteigen 300 Milliarden Euro“. Eine Kostenexplosion sieht allerdings anders aus. Von Wolfgang Lieb.
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Nahezu alle Medien schlossen sich dieser Alarmmeldung aus Wiesbaden an: „Ausgaben für Gesundheit knacken 300-Milliarden-Marke… Die Ausgaben für Gesundheit sind in Deutschland so hoch wie nie zuvor“, titelte der Spiegel. Sogar die Nachrichtenagentur Reuters meldete: „Gesundheitsausgaben übersteigen erstmals 300 Milliarden Euro. Die öffentlichen und privaten Ausgaben für den Gesundheitssektor haben einen neuen Rekord erreicht.“
Tatsächlich sind die (gesamten) Gesundheitsausgaben im vom Statistischen Bundesamt jetzt erfassten Jahr 2012 um 2,3 Prozent höher als 2011. Ja, in absoluten Zahlen, sind die Ausgaben so hoch wie nie zuvor, doch was heißt das schon?
Im Jahr 2012 lag die Inflationsrate in Deutschland bei 2,0 Prozent; das heißt die Gesundheitsausgaben sind real um 0,3 Prozentpunkte angestiegen. Ist das die Meldung über einen „neuen Rekord“ wert?
Die Nominallöhne stiegen im selben Zeitraum übrigens um 2,6 Prozent. Das ist nach Abzug der Inflationsrate auch nicht gerade viel, jedoch immerhin ein Vergleichswert, der deutlich macht, dass der Anstieg der Gesundheitsausgaben nun nicht gerade zu weiterer Verarmung führt.
Vergleicht man die Gesundheitsausgaben mit der rechnerisch einzig sinnvollen Größe, nämlicher der Wirtschaftsleistung, so machten diese Ausgaben 11,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Im Jahr zuvor lag der Anteil der Gesundheitsausgaben bei 11,2 Prozent und im Jahre 2010 lag er mit 11,6 Prozent sogar höher. Seit zwanzig Jahren ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP von 10,1 auf 11,3 Prozent, also um 1,2 Prozentpunkte, angestiegen.
Eine Kostenexplosion sieht anders aus!
Man vergleiche diesen Anstieg der Gesundheitsausgaben im Jahre 2012 nur einmal mit der Steigerung der Energiepreise (+ 5,7 %) oder mit der Preisentwicklung bei den meisten Nahrungsmitteln (+ 3,2 %) oder bei den Verbrauchsgütern (+ 3,7%) im gleichen Zeitraum.
Man fragt sich welches Motiv hinter dem Alarmismus vor Kostensteigerungen gerade im Gesundheitswesen steht.
Ein naheliegender Grund, warum gerade bei den Gesundheitsausgaben Angst und Sorge verbreitet werden, dürfte sein, dass man die Beitragszahler auf höhere Beiträge einzustimmen versucht. Das scheint jedenfalls weitgehend gelungen: Nach dem sog. „MLP Gesundheitsreport 2014“, der vom Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Finanzdienstleisters MLP durchgeführt wird, rechnen drei Viertel der Befragten mit Beitragssteigerungen in den kommenden Jahren mit höheren Beiträgen.
Ein weiteres Motiv dürfte sein, dass man die Versicherten auf Leistungsreduktionen bei der Gesundheitsversorgung bzw. auf höhere private Zuzahlungen bei medizinischen Leistungen oder bei Medikamenten vorbereiten möchte.
Der wichtigste Antrieb, warum die Gesundheitsausgaben ständig dramatisiert werden, dürfte darin zu suchen sein, dass jedenfalls bei der gesetzlichen Krankenversicherung, die mit 57,4 Prozent den Löwenanteil an den Ausgaben trägt, die Arbeitgeberseite an der Beitragsfinanzierung mit 7,3 Prozent des Beitragssatzes mitbeteiligt ist.
In einem Land, wo die Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“ das oberste wirtschaftspolitische Ziel ist und wo deshalb die Senkung der Lohnkosten höchste Priorität hat und wo darüber hinaus der Mythos von den „Lohnebenkosten“ das politische und mediale Denken beherrscht, sind eben Ausgaben für soziale oder gesundheitliche Leistungen, sofern sie als Kostenfaktor der Wirtschaft zu Buche schlagen, ein Politikum.
Bei den Statistikern, genauer bei der politischen Führung des Bundesamtes, scheint allerdings noch gar nicht angekommen zu sein, dass die alarmierende Überschrift für eine banale Meldung dieser Tage von der Politik überholt worden ist. Der Arbeitgeberanteil an der gesetzlichen Krankenversicherung wurde doch gerade von der Großen Koalition gedeckelt, die Steigerungen bei den Gesundheitskosten sollen doch künftig allein bei den Arbeitnehmern hängen bleiben.
Man mag daran erkennen, dass diese neuerliche „Reform“ der gesetzlichen Krankenversicherung durchaus einen politisch nicht unerwünschten Nebeneffekt hat: Der Widerstand der Wirtschaft gegen steigende Gesundheitskosten wird sicherlich nachlassen; bei gedeckelten Prozentsätzen bei der Mitfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind Ausgabensteigerungen im Gesundheitswesen nicht mehr von so großem Interesse für die Arbeitgeberseite – im Gegenteil: das schafft Anreize zur weiteren Privatisierungen auf diesem Feld.
Denn soviel geben auch die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes schon her: Die Privatisierung von Kliniken hat nicht zu Kostensenkungen geführt; bei den Krankenhäusern stiegen die Ausgaben mit 2,5 Prozent sogar überdurchschnittlich.
Und noch etwas macht die neue Statistik deutlich: Für das den Agenda-Reformen zugrundeliegende Argument, dass die zunehmende Alterung zu Kostenexplosionen im Gesundheitswesen führe, bieten die Zahlen keinerlei Anhaltspunkt.