Der neoliberale Katechismus Teil 2 – Freiheit geht vor Gerechtigkeit und Solidarität

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Teil 2 des Breviers mit den Glaubensgrundsätzen zur Anleitung des rechten Glaubens an die neoliberale Heilslehre von Matthias Burghardt. Fortsetzung von Teil 1 vom 7. Februar 2007.

DER ZWEITE GLAUBENSGRUNDSATZ
Freiheit geht vor Gerechtigkeit und Solidarität

Was heißt das?
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität waren nach Ende des zweiten Weltkriegs die gleichgewichteten Prinzipien, auf denen das Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut wurde. Die Gerechtigkeit und Solidarität werden aber zunehmend zur Belastung für unternehmerisches Handeln, sie behindern den freien Wettbewerb und stehen der Gewinnmaximierung, den Kapitalinteressen- und Eignern entgegen. Daher ist es notwendig neu zu gewichten, die Gerechtigkeit und Solidarität der wirtschaftlichen Freiheit unterzuordnen und den Markt vom zwanghaften sozialen Ausgleich (Solidarität) und staatlichen Ordnungsrahmen (Gerechtigkeit) zu befreien. Wir sind fest davon überzeugt, dass das ungebundene, freie Spiel der Kräfte alle Probleme löst. Oberstes Ziel ist und bleibt die Transformation der Bundesrepublik Deutschland zur Deutschland AG mit freien, eigenverantwortlichen und wettbewerbsfähigen Individuen.

Wie verwirklicht man das?
In der öffentlichen Debatte kommt uns zu gute, dass die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Begriff der Freiheit zu Recht etwas Positives verbindet z.B. die politische Freiheit, Religionsfreiheit oder Redefreiheit. Das macht es uns sehr einfach zu verschleiern, dass wir mit Freiheit eigentlich nur die unternehmerischer Freiheit und Freiheit für das Kapital meinen. Der Ordnungsrahmen für den Wettbewerb und der Sozialstaat stehen unseren Interessen leider immer wieder entgegen. Das Ziel „Wohlstand für alle“ wird zwar nicht mehr ausdrücklich formuliert, aber die Mehrheit der Bevölkerung hält nach wie vor an ausgleichenden Maßnahmen, die unternehmerisches Handeln zügeln, fest und verlangt das Kapital für das Gemeinwohl in die Pflicht zu nehmen. Die Drohung Arbeitsplätze abzubauen oder ins Ausland zu verlagern konnte schon ein langsames Umdenken einleiten. Die Angst den Arbeitsplatz zu verlieren, hat erfreulicherweise auch die Mittelschicht erfasst, die den sozialen Abstieg fürchtet und darum bereit ist soziale Errungenschaften aufzugeben und auf eine angemessene Beteiligung am wirtschaftlichen Zuwachs zu verzichten. Auf politischer Ebene konnte durch den Einsatz von Lobbyisten, von durch uns finanzierte Experten, Arbeitsgruppen, Kommissionen, Initiativen, Rating-Agenturen und vielfältiger externer Beratung aber schon wesentlich mehr erreicht werden. Es ist erfreulich, dass unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit diese Beeinflussung zugunsten unserer Dogmen extrem reibungslos verlaufen ist und nach wie vor verläuft. Unsere Modebegriffe und Wortschöpfungen haben im ganzen politischen Spektrum Einzug gehalten, sei es nun „Deregulierung“, „Flexibilisierung“, „Privatisierung“, „Mobilität“ oder „neue Freiheit“, alle Begriffe sind mit der positiven Verheißung größerer Freiheit versehen. Selbst die Entlassung erhält durch die Freiheit eine ganz neue Dimension: die „Freisetzung“ vermittelt jetzt Lebensfreude und Hoffnung auf einen Neuanfang. Ferner ist es uns gelungen durch unermüdliche Verkündigung unserer Lehre das makroökonomische Wissen fast restlos aus den Köpfen der Eliten zu tilgen und in Politik und Wissenschaft die letzten Volkswirtschaftler durch Betriebswirtschaftler zu ersetzen. Im Ergebnis kann sich die Politik unserer angebotsorientierten Lehre und einer zügigen Umsetzung unserer Vorstellungen nicht mehr entziehen. Der massive Druck den wir durch die Medien und unsere Multiplikatoren kurzfristig erzeugen können, hängt wie ein Damoklesschwert über den Entscheidungsträgern und macht Widerspruch zwecklos. Nachdem wir die Gewerkschaften als gleichberechtigte und ernstzunehmende Debattenteilnehmer nahezu ausschalten konnten, können wir feststellen, dass sich unserem verordneten Dogma der „neuen Freiheit“ sogar Gruppierungen unterordnen, die uns in der Vergangenheit teilweise kritisch begegnet sind. So führt die Evangelische Kirche Deutschlands ihre Reformdebatte unter dem Motto „Kirche der Freiheit“. Hans Tietmeyer, Vorsitzender der „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“, prägte das letzte Sozialwort der katholischen Kirche mit dem Leitsatz „Das Soziale neu denken“. Solidarität und Nächstenliebe konnten durch das neoliberale Prinzip: „Jeder sorgt für sich selber“ ersetzt werden. Die Kirchen haben damit gleichzeitig unseren Kurs der vergangenen Jahre für sakrosankt erklärt – mit einem politischen Diskurs, lautem Widerstand oder gar einer Protestbewegung ist auch von dieser Seite nicht mehr zu rechnen. Trotz diesen Erfolgen muss unsere Lehre mehr denn je als alternativlos dargestellt werden, da uns ihre Verwirklichung immer niedrigere Löhne, eine weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, längere Arbeitszeiten, weniger Arbeitsschutz und niedrigere Unternehmenssteuern, sowie eine Steigerung unserer Gewinne im Interesse unserer Kapitaleigner ermöglicht. So wird die geplante Unternehmenssteuerreform den Steuerdumpingwettbewerb in Europa weiter anheizen und uns weiter von der Verantwortung für die Gesellschaft und der Finanzierung des Gemeinwesens befreien. Glücklicherweise gibt es derzeit keine Anzeichen, dass die politisch Verantwortlichen zu einer nachfrageorientierten und pragmatischen Wirtschaftspolitik zurückkehren. Trotzdem muss die antizyklische Wirtschafts- und Konjunkturpolitik vorsorglich und unermüdlich als „schädlich“, „arbeitsplatzvernichtend“, „von gestern“ und als „Teufelszeug“ gebrandmarkt werden, da sie dem Gemeinwohl dienen und mehr Gerechtigkeit für die Mehrheit der Bevölkerung herstellen würde. Dies wiederum würde unserem großen Ziel, den starken Wohlfahrtsstaat zum Nachtwächterstaat zu degradieren (der nur noch über rudimentäre Instrumente verfügt um den Markt zu bändigen und von oben nach unten zu verteilen) eindeutig entgegenstehen. Deshalb ist es weiterhin von großer Wichtigkeit zu betonen, dass nur die Freiheit Gerechtigkeit und Solidarität schaffen kann und dass zu einer modernen, dynamischen und freiheitlichen Gesellschaft auch eine Unterschicht gehört, die es eben nur nicht versteht die Freiheit zu nutzen, die wenig mobil, flexibel, zu bequem und damit selbst Schuld an ihrem Schicksal ist. Ein schlechtes Gewissen müssen wir uns deswegen nicht von unseren wenigen Kritikern einreden lassen, schließlich kann die befreite Leistungsgesellschaft die Abgehängten getrost der Wohlfahrt oder Diakonie, also den letzten unverbesserlichen Gutmenschen, überlassen. Die Fürsorge kann langfristig an die Stelle der Gerechtigkeit, die Eigenverantwortung an die Stelle der Solidarität treten.

Was ist hinderlich?
Hinderlich sind zunächst alle Personen und Gruppierungen, die die Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gleich gewichten und keiner der drei einen Vorrang einräumen. Bedauerlicherweise setzt gerade die Verfassung den Sozialstaat voraus, was die Argumentation gegen den Sozialstaat natürlich erheblich erschwert. Gleiches gilt für die Verpflichtung des Eigentums für das Gemeinwohl. Der Gerechtigkeitsbegriff ist leider so einfach, dass ihn jeder verstehen kann: Jedem das Seine, Gleiches
gleich, Ungleiches ungleich behandeln. Die Anstrengungen den Begriff wortschöpferisch aufzufächern, um ihn in unserem Interesse umzudefinieren und den ursprünglichen Sinn zu verfälschen, müssen unbedingt verstärkt werden. Zwar konnten wir Begriffe wie „neue Gerechtigkeit“, „Beteiligungsgerechtigkeit“ oder „Befähigungsgerechtigkeit“ kreieren, aber die Mehrheit der Bevölkerung erschwert durch ihr stures Festhalten die notwendige, zügige Verdampfung der alten Werte.
Die politische Elite ist da glücklicherweise wesentlich aufgeschlossener: so zeigt die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Entmachtung der Arbeitnehmervertreter, die Arbeitsmarktreformen, die Privatisierungen, die Einschnitte ins soziale Netz, die Zerstörung des Vertrauens in die solidarischen Sicherungssysteme, die Finanz- und Steuerpolitik in unserem Sinne, dass die Politik durchaus willens ist sich über die Mehrheitsmeinung, die Wünsche der Bevölkerung und die Forderung nach einem starken Sozialstaat und einer gerechten Politik hinwegzusetzen.
Es ist extrem gefährlich, dass es gerade in der Europäischen Union Länder gibt, die auf einen starken Wohlfahrtsstaat setzen in dem keiner zurückgelassen wird, die eine gerechte Steuerpolitik machen, in denen starke Schultern mehr belastet werden als schwache, in denen sich alle mit allem an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen, in denen die Wirtschaft floriert und gleichzeitig in die Verantwortung für das Gemeinwohl genommen wird und trotzdem alle Menschen frei sind. Diese Länder müssen deshalb von vornherein als „mit der Bundesrepublik Deutschland nicht vergleichbar“ eingestuft werden.
Weiterhin muss dringend vermieden werden, dass sich die Bevölkerung offensiv mit den Ergebnissen der von uns beeinflussten politischen Entwicklung in der Vergangenheit beschäftigt, da sie zu dem Ergebnis kommen könnte, dass der eingeschlagenen Weg der „Befreiungen“ in allen Lebensbereichen und die Stutzung des Sozialstaats keine Verbesserungen für sie selbst und unser Land gebracht hat. Das ist natürlich objektiv richtig, würde aber letztlich ein Eingeständnis des Scheiterns unserer Lehre nach sich ziehen. Dies käme einem GAU gleich und würde den begonnenen Umbauprozess hemmen oder vollständig zum Erliegen bringen. Deshalb muss eine Diskussion schon im Ansatz mit allen Mitteln erstickt werden. Sollten Einzelne dennoch damit beginnen, reicht es vorerst diese als Verschwörungstheoretiker zu stigmatisieren.

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