Gesundheitspropaganda: Deutschland ist Spitze! Aber vor allem bei den Kosten. Mit der Gesundheit der Deutschen sieht es anders aus.
Von Prof. Dr. Hartmut Amft
Mit großem Medienecho wurde am 31.8.05 eine internationale Vergleichstudie des Kieler Fritz Beske Instituts [1] für Gesundheits-System-Forschung vorgestellt. Die Bundesregierung gibt hierzu folgende Meldung heraus:
Deutschland hat im internationalen Vergleich ein umfassendes, überdurchschnittlich effizientes sowie kostengünstiges Gesundheitswesen. Im Vergleich mit 14 führenden Industrienationen hat es das höchste Versorgungsniveau bei Gesundheitsleistungen und ein überdurchschnittlich hohes Versorgungsniveau bei Geldleistungen wie der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.“
Quelle: www.bundesregierung.de [2]
Das Gesundheitswesen in Deutschland soll angeblich Spitze sein. Und dies nach anderthalb Jahrzehnten Kostendämpfungspolitik, welche in erster Linie zu Lasten der Patienten, der Ärzte, Pflegekräfte und sonstiger Gesundheitsberufe ging. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens machte aus Menschen mit schweren und/oder chronischen Krankheiten „teuere Fälle“. Zynisch nennt man sie im Krankenkassenjargon „schlechte Risiken“. Krankenhäuser wurden in großem Umfang privatisiert, die Aufenthaltsdauer von Patienten durch DRG-Vergütungen (diagnosis related groups = Fallpauschalen) reduziert. Menschen, die aus medizinischen Gründen noch weiterhin stationär hätten behandelt werden müssen, wurden aus ökonomischen Gründen möglichst früh entlassen, mit einem unnötigen Risiko für die Patienten. Um Ausgaben zu sparen, wurden viele Medikamente aus der Rezeptpflicht herausgenommen, auch Medikamente mit nicht geringem Risikopotential. Damit wurde der Trend zur Selbstmedikation verstärkt. Der Patient bezahlt nicht nur diese Medikamente selbst, er geht damit auch ein nicht geringes Selbstbehandlungsrisiko ein. Neuerdings müssen rezeptfreie Medikamente vom Patienten auch dann selbst bezahlt werden, wenn diese vom Arzt verschrieben wurden, woraus eine medizinische Unterversorgung für ärmere Menschen resultieren kann. Usf.
Jetzt – knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl – soll nach der Beske-Studie das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz einnehmen, während es in der WHO-Studie im Jahre 2000 auf Platz 25 gelandet war?
Wie werden Gesundheitssysteme verglichen?
Studien zum Vergleich der Qualität von unterschiedlichen Gesundheitssystemen kommen je nach Auswahl ihrer Parameter zu unterschiedlichen Ergebnissen.
So ist beispielsweise die subjektive Zufriedenheit der Bevölkerung oder von Patienten mit der Gesundheitsversorgung kein zuverlässiges Kriterium, weil die subjektiven Überzeugungen sehr stark von den Medien und Vorurteilen beeinflusst werden. So kommt es, dass ein Gesundheitssystem, wie das britische, welches in den deutschen Medien und von der deutschen Bevölkerung als schlecht angesehen wird, von der eignen Bevölkerung positiv beurteilt wird. Das britische Gesundheitssystem ist staatlich und steuerfinanziert. Jeder Bürger hat damit Anspruch auf Krankenbehandlung. Trotz des neoliberalen Kurses der Blair-Regierung ist eine Privatisierung des Gesundheitswesens tabu, weil diese politisch nicht gegen die Bevölkerung durchsetzbar wäre.
Auch der finanzielle Aufwand für ein Gesundheitswesen ist kein zuverlässiges Kriterium für die Qualität: Das teuerste Gesundheitswesen der Welt mit einem Anteil von 13,7% am Bruttoinlandsprodukt (2001) – jenes der USA – liegt im Ranking der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf Platz 37. Privatwirtschaftlich organisierte Gesundheitssysteme unterliegen der „Shareholder-Value-Logik“, d.h. sie sind auf Maximierung von Profit ausgelegt, welcher dem Management und den Aktionären zugute kommt. Wenn beispielsweise 30% Gewinn erzielt werden, dann werden nur 70% zur Gesundheitsversorgung eingesetzt. Sind zudem die Medikamente überteuert, die Arzteinkommen sehr hoch etc., dann steigert dies die Kosten des Gesundheitswesen, aber zu Lasten der Qualität der Versorgung.
Aus der Ausstattung des Gesundheitswesens (Arztdichte, Facharztdichte, Pflegepersonal, Krankenhausbetten, technischer Standard usf.) lässt sich allein noch keine Aussage über die Qualität der Versorgung der Gesamtbevölkerung ableiten, weil beispielsweise die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sehr unterschiedlich sein können (Stichwort: Klassenmedizin).
Die WHO versucht, im Rahmen ihres Public Health-Konzeptes gesundheitsfördernde Effekte objektiv zu messen. Daher hat sie in ihrer Vergleichsstudie aus dem Jahr 2000 bei der Messung der Effektivität von unterschiedlichen Gesundheitswesen zwei harte Kriterien in den Vordergrund gestellt, zum einen die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung und zum anderen die soziale Verteilung dieser Lebenserwartung. Ein Gesundheitswesen wird im Ranking schlechter bewertet, wenn die Heterogenität in der sozialen Verteilung der Lebenserwartung sehr hoch ist, also wenn beispielsweise die Reichen wesentlich älter werden als die Armen. Deutschlands Gesundheitssystem liegt in dieser WHO-Studie [3] im internationalen Vergleich nur auf Platz 25.
Auf den ersten Blick könnte die WHO-Studie mit dem Argument kritisiert werden, dass sie keine zuverlässige Aussage über die Qualität des Systems der Gesundheitsversorgung mache, sondern die gesundheitliche Situation der Bevölkerung bzw. die Lebenserwartung erfasse. Die gesundheitliche Situation einer Bevölkerung ist jedoch nicht in erster Linie abhängig von dem Gesundheitssystem, dessen Einfluss auf die Morbidität und Lebenserwartung als relativ gering angesehen wird (Schätzungen sprechen von ca. 25% Einfluss). Entscheidend sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung, wobei in modernen Gesellschaften insbesondere psychische und soziale Faktoren, wie Einkommenshöhe, Arbeitsplatzbelastung, Arbeitsplatzsicherheit, Arbeitslosigkeit etc., wesentlich für die gesundheitliche Situation in der Bevölkerung sind. Genau hier setzt das Publik Health-Konzept der WHO ein. Aufgabe des Gesundheitssystems sei nicht nur die Reparatur von Kranken (= „Krankheitssystem“), sondern das Gesundheitswesen habe präventiv und gesundheitsfördernd auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen einzuwirken. Ein Gesundheitswesen, welches nicht effektiv in der Prävention ist, ist folglich schlechter zu bewerten. Insofern sind die Parameter der WHO durchaus geeignet, die Qualität eines Gesundheitswesens zu vergleichen, während andere Studien lediglich Standards in der Krankenversorgung betrachten.
Genau dies tut jedoch die jetzt vorgestellte Beske-Studie, indem sie im Wesentlichen die Ausstattung des Gesundheitswesens (Arztdichte, Facharztdichte, Pflegepersonal, Krankenhausbetten, technischer Standard usf.) als Vergleichsbasis zugrunde legt und daher zu einem ganz anderen Ergebnis kommt:
Deutschland hat im internationalen Vergleich nachweislich ein umfassendes, ein preiswertes und damit ein überdurchschnittlich effizientes Gesundheitswesen’, erklärte der Leiter des Kieler Instituts für Gesundheits-System-Forschung (IGSF), Professor Fritz Beske, bei der Vorstellung des Gutachtens am 31. August 2005 in Berlin. Das deutsche Gesundheitswesen gehöre zu den effizientesten der Welt, ‚wenn es in Verbindung mit dem hohen Versorgungsniveau nicht das effizienteste Gesundheitswesen überhaupt ist’“.
Quelle: www.bundesregierung.de [2]
Allerdings sind die Aussagen der Beske-Studie gar nicht so neu, wie deren aktuelle Präsentation suggeriert. Denn bereits 2004 fand sich ein Bericht über eine Beske-Studie [4] in der Zeitschrift „Ärztliche Praxis“ vom 18.4.04 [5]. Unter der Überschriften „Deutschland ist Spitze!“ und „Das deutsche Gesundheitswesen ist laut Ergebnissen einer neuen Untersuchung besser als sein Ruf.“ wird Beske zitiert: „Studien, die das Gegenteil behaupten, sind falsch“. Beske bezieht sich dabei explizit auf die WHO-Studie, in welcher Deutschland lediglich auf Platz 25 kam. „Die einhellige Meinung internationaler Wissenschaftler fiel eindeutig aus“, so Beske. „Sie lautete: ‚Die Untersuchung ist unmöglich, Äpfel sind mit Birnen verglichen worden‘.“
Tatsächlich legte die WHO – wie ausgeführt – als Kriterien für die Qualität eines Gesundheitssystems durchschnittliche Lebenserwartung und deren soziale Verteilung zugrunde.
Auf der Website „Psychotherapie“ vom 21.6.2000 findet sich hierzu der Kommentar:
Auch wer lange gesund leben will, sollte aus Deutschland weg nach Japan oder Australien, oder auch ans Mittelmeer ziehen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit einer neuen Messmethode herausgefunden, dass es sich in 21 Ländern weltweit länger gesund leben lässt als in Deutschland.“
Quelle: www.pychotherapie.de [6]
Auch die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein befasste sich bereits im letzten Jahr (Juni 2004) mit Beske und dessen Kritik an der WHO-Studie:
Mortalität und Lebenserwartung lassen indes nur bedingt Rückschlüsse auf das Gesundheitssystem zu. Denn diese werden auch durch viele nichtmedizinische Faktoren wie Hygiene, Lebensgewohnheiten oder Ernährung beeinflusst. ‚Keinesfalls lässt sich aus diesen Daten eine mittelmäßige oder sogar unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit der Gesundheitsversorgung in Deutschland ableiten”
Quelle: www.kvno.de [7]
… betont Beske.“
Hier liegt jedoch der entscheidende Unterschied zur WHO-Studie. „Gesundheitsversorgung“ wird von der WHO definiert als die Versorgung einer Bevölkerung mit Gesundheit, während Beske sich noch immer im alten „Reparatur-Paradigma“ befindet und Krankenversorgung betrachtet.
In der Diskussion um die Qualität des deutschen Gesundheitssystems wird zudem die soziale Komponente ausgeklammert, welche mitentscheidend für die Platzierung im WHO-Ranking ist.
Wie sieht die Verteilung von Gesundheit in Deutschland aus?
Aufschlussreich ist hier ein Bericht über den Deutschen Ärztetages dieses Jahres in der TAZ vom 6.5.05 mit der Titel: „Ärztetag: Arme sterben früher“.
Armut macht krank. Das bestätigt auch eine neue europaweite Studie, die auf dem Ärztetag vorgestellt wurde. Ob Finnland, Frankreich, Deutschland oder Großbritannien – überall sterben die Armen früher als die Reichen. Bei den Männern kann die Differenz bis zu sieben Jahren betragen; bei den Frauen schwankt die Lebenserwartung zwischen Unter- und Oberschicht nicht ganz so stark. Als “Unterschicht” wird das nach Einkommen ärmste Viertel, als “Oberschicht” das reichste Viertel der Bevölkerung bezeichnet.“
Quelle: www.taz.de [8]
Fazit:
Beske erteilt „Großes Lob für deutsches Gesundheitswesen“ (Bundesregierung vom 1.9.2005). Nach der WHO-Studie steht Deutschland jedoch lediglich auf Platz 25. Und weltweit lässt es sich in 21 Ländern länger gesund leben als in Deutschland. Trotzdem wird verkündet: „Deutschland ist Spitze!“ Und die angeblich so neuen Ergebnisse in der Beske-Studie sind gar nicht so neu.
Beske, F.; T. Drabinski; H. Zöllner: Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich – Eine Antwort auf die Kritik. Kiel 2004. 159 S. ISBN 3-88312-290-4
Beske, F.; T. Drabinski: Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich. Eine Analyse von 14 Ländern. Kiel 2005, Bd. I: Struktur, Finanzierung und Gesundheitsleistungen. 274 S. ISBN 3-88312-330-7. Bd: II: Geldleistungen. 205 S.ISBN 3-88312-331-5
© Hartmut Amft 2005