TTIP: Internationale Megakonzerne verhindern die soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung

Rudolf Hickel
Ein Artikel von Rudolf Hickel

Die geplante „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ zwischen den USA und der EU ist heftig umstritten. Das Kürzel TTIP (Transatlantic Trade- and Investmentpartnership) taucht bereits auf den Plakaten nicht nur der Globalisierungskritiker auf. Zwei Positionen stehen sich ziemlich unversöhnlich gegenüber. Die Befürworter eines entgrenzten Freihandels betonen die Wohlfahrtsgewinne für alle durch sinkende Preise, mehr an Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze. Die Kritiker dieser Globalisierung mit abgeschmolzenen arbeits- und verbraucherbezogenen, sozialen sowie ökologischen Mindeststandards befürchten den Machtgewinn internationaler Konzerne gegenüber dem Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern und Beschäftigten. Die modellhaft skizzierbaren Vorteile einer grenzüberschreitenden Liberalisierung der Märkte durch den Abbau protektionistischer Hürden und damit sinkender Preise werden durchaus gesehen. In der Realität der international monopolistischen Konkurenz dominieren jedoch die einzelwirtschaftlichen Gewinninteressen zu Lasten breiter Wohlstandsgewinne. Von Rudolf Hickel[*], mit einer Anmerkung von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Kurze Fassung erschien in der TAZ am 11. 2. 2014

Wie ist die erst einmal durch die EU ausgesetzte transatlantische Öffnung der Märkte zu bewerten? Gibt es zu dieser Globalisierung, die durch die Interessen der internationalen Konzerne zum Wegkonkurrieren von Mindeststandards vorangetrieben wird, eine Alternative?

Die Schwerpunkte der geplanten USA-EU-Märkteöffnung
Worum geht es? Innerhalb der transatlantischen Megazone sollen die Regelungen von ausländischen Investoren in deren Heimatland im Gastland gelten. Fallen die Standards im Heimatland niedriger aus, dann müssen diese im Partnerland anerkennt werden. Der geplante Abbau der Handelsbarrieren durch Zölle, Quoten und teure grenzüberschreitende Mehrfachkontrollen steht auch auf der Agenda. Da sich die relevanten Zölle zwischen USA und EU durchschnittlich in der EU auf 5,2% und in den USA auf 3,5% belaufen, ist abgesehen von wenigen höheren Zöllen (EU- Agrarprodukte bis zu 205%, USA Textilien 42%, Schuhe und Leder 56%) der Liberalisierungsbedarf vergleichsweise niedrig. Im Zentrum der Grenzöffnung stehen vielmehr die sogenannten nicht tariflichen Handelshemmnisse. Dazu zählen politisch gewollte Regulierungen zur Produktqualität und den Produktionsbedingungen. Die viel zitierten Beispiele offenbaren die Zielsetzung: Das in den USA mit Hormonen behandelte Fleisch sowie die mit Chlor desinfizierten Hühner sind derzeit zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU verboten. Für Lebensmittel, die gentechnisch behandelte Pflanzen enthalten, sieht die EU im Unterschied zu den USA eine Mitteilungspflicht auf der Verpackung vor. Die durch die EU-Kommission mit Unterstützung der Bundeskanzlerin drohende Zulassung von gentechnisch verändertem Mais passt in dieses Konzept transatlantischer Deregulierung. Wenn dieses Konzept des grenzenlosen Handels realisiert sein sollte, gibt es diese Kontroversen nicht mehr. Nach der gewollten gegenseitigen Anerkennung bieten künftig die US-Unternehmen zu ihren niedrigen Standards in Europa an. Wegen der nicht geltenden EU-Qualitätsstandards ist bei dem US-Produkt mit niedrigen Preisen zu rechnen. Zu erwarten ist ein Wettbewerb, innerhalb dessen die geschützten teueren Produkte in der EU verdrängt werden. Der Preis für die billigeren Produkte sind die gesundheitlichen Risiken. Dieses Herunterkonkurrieren von Produktstandards wird auch vor arbeitsrechtlichen, sozialen und ökologischen Mindestregulierungen der Produktion nicht Halt machen. Ein Beispiel: Produkte mit niedrigen Preisen infolge tariflich nicht geschützter Beschäftigter aus den USA drohen deutsche Güter und Dienstleistungen auf der Basis von höheren Tarifabschlüssen zu verdrängen. Allerdings gerät die USA auch in einigen Bereichen, in denen deren Regulierungen stärker als in der EU ausfallen, unter den Druck, die Standards abzusenken (Bankensektor).

Zur Agenda dieser transatlantischen Liberalisierung zählt auch die Öffnung des öffentlichen Beschäftigungssektors. Die Folgen für die Art des Wettbewerbs sind im USA-EU-Raum absehbar. Die strategisch handelnden Großkonzerne werden sich durchsetzen. Durch die monopolistische Konkurrenz ohne Grenzen geraten am Ende die binnenwirtschaftlich und regional agierenden kleinen und mittleren Unternehmen unter massiven Druck. Wo bleiben die Verfechter einer dekonzentrierten, sozialen Marktwirtschaft als Leitbild der Globalisierung?

Politische Regulierungen als „Investitionsbremsen“ bei der weltweiten Marktentfesselung gescholten
Das geplante transatlantische Abkommen geht jedoch über die Öffnung der tarifären und nicht-tarifären Hemmnisse weit hinaus. Sprachlich auf Sympathiegewinn angelegt wird eine transatlantische „Investitionspartnerschaft“ hinzugefügt. Zum Schutze der ausländischen Investoren im Gastland wird zwischen der „direkten“ und „indirekten“ Enteignung von ausländischen Investoren im jeweiligen Gastland unterschieden. Während im direkten Fall der Staat ein Unternehmen enteignet, fühlt sich ein Unternehmen durch die staatlich gewollte Einschränkung seiner Entscheidungsautonomie „indirekt“ enteignet. So wird beispielsweise durch beschäftigungsbezogene, soziale und ökologische Produktionsauflagen die Verfügungsgewalt über das unternehmerische Eigentum bewusst politisch-demokratisch eingeschränkt. Als Klagetatbestand kann auch Politikwechsel etwa im Energiebereich zählen. So wird mit Energiewende das Geschäftsmodell der bisherigen Energiekonzerne verändert. Dies ist der Grund, warum Vattenfall gegen die Energiewende mit dem endgültigen Ausstieg aus Atomstrom gegen die Bundesrepublik Deutschland klagt. Im Falle der indirekten Enteignung sollen ausländische Konzerne in der EU zumindest auf Schadenersatz klagen können. Dadurch wehren sich privatwirtschaftliche Megainvestoren aus dem Ausland gegen nationalstaatliche bzw. auf EU-Ebene demokratisch vereinbarte Produktionsregeln für Unternehmen. Wie heute schon viele Konflikte zeigen, ist mit einer Flut von Prozessen zu rechnen. Im transatlantischen Bündnis entscheidet nicht nationale Gerichtsbarkeit oder die EU-Justiz über die Klagen. Vielmehr sind eigenständige justizfreie Schiedsgerichte vorgesehen. Sollte das TTIP zustande kommen, sind künftig Klagen gegen das Verbot von Fracking zur ökologisch umstrittenen Erschließung von Gas im Gestein zu erwarten. Der Logik dieser Schiedsgerichtsbarkeit zufolge stehen die Lohnfindung mit dem deutschen Tarifvertragssystem, die Mindestlöhne, ja die unternehmerische Mitbestimmung unter dem Verdacht, für die USA-Investoren ein „Investitionshemmnis“, gegen das geklagt wird, zu sein. Notorische Kritiker dieser Regulierungen in Deutschland und der EU, die auf diese neoliberale Marktentfesselung setzen, schöpfen große Hoffnungen auf diesen Umweg über die transatlantische Marktöffnung.

Die undemokratischen Schiedsgerichte richten
Bei Lichte besehen führt der Schutz der ausländischen Megainvestoren vor indirekter Enteignung zu einer Enteignung der nationalstaatlichen Demokratie. Das zeigt sich an der geplanten Einrichtung von Schiedsstellen zur vorgesehenen Konfliktsregulierung. Diese außerhalb des nationalen und internationalen Rechts stehenden Schiedsstellen sollen mit einem Vertreter des betroffenen Konzerns, einem Repräsentanten des Staats sowie einem neutralen Dritten gebildet werden. Hinzu kommt ein vernetztes System von Rechtsanwaltsbüros. Die über 500 Schiedsstellen, die seit den letzten Jahren bereits weltweit tätig sind, haben sich verselbständigt und dienen Investoren im aggressiven Wettbewerb.

Versprochene Wohlfahrtseffekte vernachlässigbar
Selbst der mit dem Thema wenig Befasste erkennt die großen Risiken dieser Liberalisierung. Deshalb wird massiv versucht, die Wohlstand mehrenden Effekte durch höheres Wirtschaftswachstum und mehr Arbeitsplätze herauszustreichen. Allerdings zeigen die vielen makroökonomischen Studien im Auftrag der EU und der USA, dass selbst bei optimistischer Sicht die Wohlfahrtseffekte extrem gering ausfallen. Der US-Denktank, das „Center for Economic und Policy“, kommt zu auffallend geringen Wachstums- und Beschäftigungseffekten. Auf den Zeitraum von 15 Jahren hochgerechnet wird der Langfristwachstumseffekt mit zusätzlichen 0,48 % Prozentpunkten (durchschnittlich pro Jahr ca. 0,034) beim Bruttoinlandsprodukt in der EU, in den USA sind es zusätzlich 0,39 Prozentpunkte bei der Produktion (Jahresdurchschnittlich 0,028). Die auffällig optimistisch ausgefallene Bertelsmannstudie schätzt den Arbeitsplatzzuwachs in Deutschland in 15 Jahren auf 181 092 neue Jobs (pro Jahr 12 935). Dabei reduziert sich der Gesamtzuwachs nach der makroökonomischen Studie des Ifo-Instituts nur noch auf 68 590 neue Jobs (pro Jahr 1801). Bereits die unterschiedliche Bandbreite an Ergebnissen der Untersuchungen zu den Wachstums- und Jobeffekten zeigen, dass hier eine große Schätzunsicherheit besteht. Dabei werden systematisch die Verluste an Jobs durch die Verdrängung bisheriger Produktion nicht angemessen erfasst. Schließlich steckt im Zugewinn an gesamtwirtschaftlicher Produktion ein wichtiger Qualitätsverlust: Hormonbehandeltes Fleisch verdrängt über den niedrigen Preis die bisher nach Gesundheitsanforderungen regulierten Produkte. Quantitatives Wachstum geht mit Qualitätsverlusten für die Verbraucherinnen und Verbraucher einher. Auch deshalb lohnen sich die gesamtwirtschaftlich versprochenen Wohlfahrtseffekte aus der transatlantischen Partnerschaft nicht.

Wer sind die Verlierer, wer die Gewinner?
Die Verlierer und Gewinner sind eindeutig zuordenbar. Verlierer sind die Beschäftigten, die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Umwelt und der außerhalb der Konkurrenz stehende öffentliche Sektor. Den Verlierern stehen einzig und allein die multinationalen Konzerne als Gewinner gegenüber. Sie setzen auf allerdings riskante riesige Absatzmärkte. Dazu gehört die Möglichkeit der grenzenlosen Direktinvestitionen im transatlantischen Handels- und Investitionsraum. Die hier verfolgte einseitige Interessenpolitik gegen soziale und ökologische Schutzrechte erklärt auch den Ausschluss von Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltverbänden sowie anderer Nicht-Regierungsorganisationen aus den Entscheidungszentren. Ihre Rolle ist auf das Anhörungsrecht reduziert. Mangelnde demokratische Legitimation, Intransparenz und machtvolle Geheimnistuerei haben bisher die Entscheidungsfindung geprägt. Die hoch offiziellen Beratungen werden von über 600 Vertretern der Wirtschaftslobby zusammen mit politischen Repräsentanten vorangetrieben. Durchgesetzt werden soll eine Globalisierung, bei der die Großinvestoren die Produkt- und Produktionsbedingungen dominieren. Arbeitsbezogene, soziale und ökologische Standards werden als Kostenfaktoren zu dezimieren versucht.

Globalisierung: Gestaltung statt Entfesselung der Märkte
Gegen diese Globalisierung unter dem Druck monopolistischer Konkurrenz steht das politisch gestaltende Modell des fairen Handels und Investierens über die Grenzen hinweg. Hier wird die Harmonisierung von Arbeits-, Sozial- und Umweltrechten in einem Regelsystem für die Weltwirtschaft angestrebt. In einem ersten Schritt sollten einheitliche Mindeststandards, die von keinem Land unterschritten werden dürfen, festgelegt werden.

Die EU hat auch nach der massiven Kritik das Projekt gestoppt. Dieser Stopp, den auch DIE GRÜNEN sowie die LINKE in Deutschland fordern, reicht jedoch nicht aus. Gesamtwirtschaftlich, arbeits- und produktorientiert sowie sozial und ökologisch kann auf das gesamte Projekt ohne die Umsetzung von Mindeststandards verzichtet werden. Den vernachlässigbaren gesamtwirtschaftlichen Schäden steht der Zugewinn aus der Weiterentwicklung des Welthandels zur Steigerung der ökologischen, gesundheitsbezogenen, sozialen und beschäftigungsorientierten Qualität in allen Ländern gegenüber. Die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft verdient das Schicksal des „Multilateralen Investitionsabkommen“ (MAI). Der Versuch der OCED von 1996, mit einem Abkommen zum Schutz der profitablen Investoren nationalstaatlich demokratisch legitimierte Regelungen bis hin zur Mitbestimmung zu demontieren, ist erfolgreich gescheitert.

Anmerkung Jens Berger: Rudolf Hickel nennt – vollkommen zu Recht – zahlreiche Beispiele, bei denen US-Konzerne vom Freihandelsabkommen profitieren würden. Das ist jedoch gleich aus zweierlei Hinsicht nur die halbe Wahrheit und kann schnell in der Art und Weise falsch verstanden werden, dass das geplante Freihandelsabkommen einseitig die US-Konzerne begünstigt.

  1. Was für US-Konzerne auf dem EU-Markt gilt, gilt spiegelbildlich auch für EU-Konzerne auf dem US-Markt. Nehmen wir da nur die Arzneimittelzulassung, die in den USA wesentlich schärfer und somit verbraucherfreundlicher reguliert ist als in der EU – eine Harmonisierung wäre hier ein Milliardengeschenk für die europäischen Pharmariesen GlaxoSmithKline (GB), Sanofi-Aventis (F) und AstraZeneca (GB) und Merck (D). Ein besonderes Geschenk für die deutschen Exporteure wäre auch eine Harmonisierung der Produkthaftungsgesetze. Unternehmen wie der Maschinenbauer Stihl kalkulieren hier eine Rücklage in Höhe von 15% vom US-Umsatz für Produkthaftungsklagen ein – sollte ein Freihandelsabkommen die US-Produkthaftung auf das EU-Niveau absenken, wäre dies ein Milliardengeschenk an EU-Unternehmen, vor allem an deutsche Exporteure. Es ist also nicht so, dass nur US-Konzerne profitieren würden. Alleine die beiden genannten Beispiele sind vom Volumen her um einiges bedeutsamer als die vielzitierten Chlorhühnchen. Warum tauchen sie in keinem TTIP-kritischen Artikel auf?
  2. Die Absenkung des Verbraucherschutzes – und darum geht ja letztendlich – nutzt freilich nicht nur den Konzernen aus dem anderen Wirtschaftsraum, sondern auch und vor allem den Konzernen aus dem eigenen Wirtschaftsraum. Oder glauben Sie, dass Wiesenhof keine Chlorhühnchen anbieten würde, wenn die Kennzeichnungspflicht wegfällt? Ob die US-Konzerne sich dann überhaupt mit ihren Chlorhühnchen gegen die der niedersächsischen Hühnerbarone durchsetzen können, ist eine weitere Frage. Und auch dies gilt spiegelbildlich. Von einer Absenkung der US-Produkthaftung und einer Verwässerung der Arzneimittelzulassungskriterien würden auch und vor allem US-Konzerne auf ihrem Heimatmarkt profitieren.

Bei TTIP geht es nicht um die Frage, ob US- oder EU-Konzerne profitieren. Unter dem Strich profitieren beide. Die Konfliktlinie ist nicht USA gegen EU, sondern Unternehmen gegen Verbraucher. Und hier sitzt Erika Mustermann mit John Doe in einem Boot. Lässt man alle Details heraus, geht es also um die Frage, ob eine Absenkung des Verbraucherschutzes im Sinne der Verbraucher ist, da dadurch die Preise sinken. Und hier ist zu Recht Zweifel angebracht, zumal – was Rudolf Hickel vollkommen korrekt erwähnt – es bei dem schon jetzt vorhandenen Angebotsoligopol mehr als fraglich ist, ob die sinkenden Kosten überhaupt an den Verbraucher weitergegeben werden oder nicht doch nur als Renditesteigerung verbucht werden.


[«*] Rudolf Hickel ist Ökonom an der Universität Bremen

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