Die Schweizer stimmen ab: „Fuck the EU“ – Ein Alarmsignal für die Europawahl
In der Schweiz hat sich gestern eine knappe Mehrheit von angeblich 19.500 Stimmen mit 50,3 Prozent dafür ausgesprochen, die Zuwanderung von Ausländern „eigenständig“ zu steuern und zu kontrollieren. Der Rechtspopulist und Anführer der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Christoph Blocher, hat mit der von ihm mit Millionen finanzierten Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ einen (überraschenden) Abstimmungssieg gegen eine breite Front aller anderen Parteien, gegen den National- und Ständerat und auch gegen Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände erzielt. Die Beteiligung an dieser Volksabstimmung lag mit 56 Prozent erstaunlich hoch.
Die Schweizer Regierung muss nun innerhalb der nächsten drei Jahre ein Gesetz auf den Weg bringen, das Höchstzahlen und Kontingente für die Zuwanderung festlegt, die sich nach den gesamtwirtschaftlichen Interessen des Landes richten soll, und wonach ausländische Bewerber nur eingestellt werden dürfen, wenn es keine geeigneten Schweizer Bewerber gibt. Damit muss Bern bei der EU auf eine Änderung des 1999 unterzeichneten Abkommens über Personenfreizügigkeit drängen. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass nach der sog. “Guillotine-Klausel“ auch die sieben weiteren Verträge zwischen der Schweiz und der EU auf dem Spiel stehen, vor allem auch der freie Zugang der Schweizer Wirtschaft zum EU-Binnenmarkt.
Empörung und Enttäuschung der Politiker in Europa über die Schweizer sind groß, doch würden Volksabstimmungen in anderen europäischen Ländern so viel anders ausgehen?
Von Wolfgang Lieb
Bevor man den Schweizern eine Abschottungsmentalität vorhält, sollte man sich vor Augen halten, dass die Bevölkerung der Schweiz seit 1970 von fünf auf acht Millionen gewachsen ist. Die Zuwanderung aus EU- und EFTA-Staaten hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Seit dem Inkrafttreten der Abkommen über freien Personenverkehr mit der Europäischen Union 2002 haben sich jährlich 80.000 EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen – zehn Mal so viel, wie die Regierung in Bern prognostiziert hatte.
Insgesamt sind inzwischen rund 1,8 Millionen der knapp acht Millionen Einwohner der Schweiz Ausländer, der Ausländeranteil liegt bei 23 Prozent. Das ist fast dreimal so viel wie in Deutschland mit 8,2 Prozent.
Quelle: FAZ
Am zahlreichsten sind die Italiener und Deutschen mit 291.000 beziehungsweise 284.200 Einwohnern. Dementsprechend sind die Abschottungstendenzen in den deutschschweizer Kantonen und im Tessin am stärksten und in der Romandie am geringsten.
Quelle: Tagesanzeiger.ch in Welt.de
In die Schweiz wandern fast so viele Menschen ein wie ins achtmal größere Frankreich – und mehr als nach Spanien (Quelle: Blick.ch).
Die allermeisten Zuwanderer haben relativ gut bezahlte und dringend benötigte Arbeit.
Allein im Gesundheitswesen, schätzt der Berufsverband der Pflegefachkräfte, stammen rund 30 bis 40 Prozent des Personals aus dem Ausland. Ähnliches gilt für Gastgewerbe, Tourismus und Hochschulen. Rund ein Drittel der Studierenden an der ETH Zürich sind Ausländer, unter den Dozenten sind es sogar zwei Drittel. Schon vor Jahren gab es Kampagnen gegen den „deutschen Filz“ an Schweizer Hochschulen.
Obwohl die Schweiz eine der geringsten Arbeitslosenquoten, nämlich von 3,2 Prozent hat, ist es der SVP gelungen, die „unkontrollierte Einwanderung“ zur Wurzel allen Übels zu erklären.
Angefangen von den auch in der Schweiz sich ausbreitenden Niedriglöhnen und dem Lohndumping, über die zunehmende Belastung des Gesundheits-, des Bildungs- und des Verkehrssystems (Staus), der Verteuerung der Mieten, bis hin zum vermeintlichen „Dichtestress“ und dem Verlust der Schönheit der Landschaft, alles konnten die Rechtspopulisten in ihrer Kampagne der Zuwanderung anlasten.
Konnte man vor ein paar Jahren die Volksabstimmung gegen den Bau von Gebetstürmen auf Moscheen noch als „schwyzer“ Skurrilität abtun, so stellt der Erfolg der „Abschottungsinitiative“ nicht nur ein innenpolitisches Thema dar, sondern es stellt die Beziehungen der Schweiz zur EU insgesamt in Frage.
Ja, noch mehr, es stellt – vor allem vor der Europawahl – die Personenfreizügigkeit auch innerhalb der Europäischen Union insgesamt in Frage.
Würde eine solche Volksabstimmung in anderen europäischen Ländern anders ausgehen als in der Schweiz?
Zwar sehen es laut Deutschlandtrend der ARD 68 Prozent der Befragten in Deutschland positiv, wenn qualifizierte Arbeitskräfte in die Bundesrepublik kommen. Genauso groß ist aber die Sorge vor Ausländern, die eben nicht bei uns arbeiten, sondern von den Sozialleistungen profitieren wollen.
Für Populisten und Nationalisten sind Ausländer nur in einer Hinsicht willkommen, nämlich als Sündenböcke für alle Probleme, die die Politik und die Wirtschaft angerichtet haben: Bei Marine Le Pen in Frankreich, bei Geert Wilders in den Niederlanden, bei der „Goldenen Morgenröte“ in Griechenland, beim „Vlaams Blok“ in Belgien, bei der „Freiheitlichen“ Partei des Heinz-Christian Strache in Österreich, bei Umberto Bossi mit Silvio Berlusconi in Italien, bei der „Dänischen Volkspartei“ oder bei den „Wahren Finnen“, bei der Unabhängigkeitspartei UKI in Großbritannien, überall in Europa werden von Rechtspopulisten Horrorszenarien von überbordender Einwanderung gezeichnet, um sich damit Zulauf zu verschaffen.
Aber auch bei uns in Deutschland versucht sogar eine Regierungspartei, wie die CSU mit Stammtischparolen wie „Wer betrügt, der fliegt.“ nicht nur auf den freizügigkeitsfeindlichen Zug aufzuspringen, sondern sogar noch seine Schubkraft anzuheizen.
Wie lautete doch der Wortlaut der Abstimmung in der Schweiz:
„Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig. Die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz wird durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt. Die Höchstzahlen gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens. Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden. Die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer sind auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung des Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer auszurichten; die Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind einzubeziehen. Maßgebende Kriterien für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen sind insbesondere das Gesuch eines Arbeitsgebers, die Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage.“
Machen wir uns nichts vor, die Volksabstimmungsergebnisse über eine solche Initiative sähe derzeit in den meisten europäischen Ländern nicht viel anders aus als in der Schweiz.
Je mehr sich die Europäer um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten (müssen), desto leichter lässt sich von den Rechtspopulisten die Abwehrhaltung gegen Ausländer anstacheln, desto mehr driftet auch Europa auseinander.
Der Ausgang der Volksabstimmung in der Schweiz sollte nicht Anlass sein, mit dem Finger auf die Schweizer zu zeigen, er sollte vielmehr ein Alarmsignal an die europäische Politik sein: Wenn die Politik in Europa den Europäern keine Hoffnung geben kann, dass es den Menschen mit Europa nicht wirtschaftlich wieder besser geht, dann werden die ausländerfeindlichen Parteien bei der Europawahl einen großen Zulauf bekommen.
Wenn im Europäischen Parlament aber die Kräfte Überhand gewinnen, die gegen ein vereintes Europa eintreten, dann verliert dieses Parlament seine Existenzberechtigung.