Wie sozial ist Europa? Im Vergleich zur Wirtschafts- und Währungsunion hinkt die Sozialunion abgeschlagen hinterher.

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Bundeskanzlerin Merkel und Arbeits-und Sozialminister Franz Müntefering wollen die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um für eine „soziales Europa“ einzutreten. Da trifft es sich, dass in einer von der Hans-Böckler-Stiftung und der Public Relations Agentur „berlinpolis“ herausgegebenen Studie eine Übersicht über die soziale Lage in der EU angeboten wird.
Wir wollen niemand zumuten, die Studie zu lesen, denn die ausgewählten Indikatoren entsprechen vielfach dem gängigen ideologischen Vorurteil, dass das Bismarcksche und das skandinavische Wohlfahrtsstaatsmodell von außen unter den „Reformdruck vor allem durch die wirtschaftliche Globalisierung“ und im Innern unter den Druck „durch liberale Kritik, Arbeitslosigkeit sowie demographische Schrumpfungs- und Alterungsprozesse“ gerieten.
Aber immerhin kommt selbst diese wirtschaftsliberal eingefärbte Studie zum Ergebnis, dass für die Schaffung einer Europäischen Sozialunion im Gegensatz zu den Aktivitäten zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit noch ein immenser Handlungsbedarf bestehe. Der Begriff der „sozialen Kohäsion“ sei „bisher weitgehend ohne verbindlichen Inhalt“ geblieben.

Um es vorweg zu sagen: Wir halten nicht viel von Rankings, dabei kommt meist hinten raus, was man vorne an Daten reinsteckt, das belegt auch diese Studie.
Ganz problematisch werden solche quantitativen Vergleiche, wenn man damit normative Begriffe wie „soziale Gerechtigkeit“ messen und in eine Ranfolge setzen will. Und vollends in Zweifeln gerät man, wenn ein solcher Vergleich von „berlinpolis“ durchgeführt wird, selbst wenn dies im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler Stiftung geschieht. Was schon ziemlich bemerkenswert ist.
„berlinpolis“ ist nämlich nicht zu aller erst ein wissenschaftliches Politikinstitut sondern eine Publicrelations Agentur und ein Spieler im neoliberalen Aktions-Zirkus. Wir haben darüber in einem Beitrag der NachDenkSeiten über ein Sozialranking der Bundesländer, das von diesem sog. „Think-Tank“ aufgestellt worden ist, ausführlich berichtet und zu diesem Länder-Ranking Stellung genommen.
Wenn die Studie dann noch von einem vehementen Verfechter der Deregulierung und des Bürokratieabbaus, Jochen Schulz zur Wiesch, verantwortet wird, dann kann man für das Ziel eines sozialen Europas nicht viel Gutes erwarten.

Wenn wir auf die Studie dennoch eingehen, dann deshalb, weil es manchmal glaubwürdiger ist, wenn von Anhängern eines liberal-angelsächsischen Fürsorge-Staatsverständnisses, Kritik an der mangelnden „sozialen Kohäsion“ (wie das im eurokratendeutsch heißt) in Europa geübt wird.

Viele der in der Studie aufgeführten Indikatoren, sind in ihrer methodischen Erhebung und in ihrer Aussagekraft höchst fraglich und – wie noch zu zeigen ist – sollte man äußerst vorsichtig mit den dort gewählten Rankings umgehen. Fairerweise soll erwähnt werden, dass die Studie ihre Aussagekraft selbstkritisch einschränkt: „Unterschiedliche und manchmal mangelhafte Methoden der nationalen Datenerfassung sowie fehlende Daten erschweren nach wie vor ein vollständiges und unverzerrtes Nachzeichnen der sozialen Lage in der EU.“

Es ist aber doch interessant, wenn die Studie schon in der Einleitung feststellt wird:
„Im politischen Diskurs vieler EU Staaten und der EU Kommission werden die Begriffe Wettbewerbsfähigkeit und soziale Kohäsion häufig in einem Atemzug genannt. Politiker von links bis rechts reden immer häufiger von Wettbewerbsfähigkeit. So beispielsweise in der Lissabon-Strategie…“
Oder wenn es beispielsweise weiter heißt:
Zum Thema Wettbewerbsfähigkeit gibt es eine umfangreiche vergleichende Forschung, die unter anderem zur Erstellung von Scoreboards und Benchmarks geführt hat, anhand derer häufig konkrete politische Handlungsempfehlungen formuliert werden…
Anders verhält es sich mit sozialer Kohäsion. Trotz, oder gerade wegen der Vielzahl von Reflexionen zu neuen Gerechtigkeitsanforderungen in dynamischen Gesellschaften (vgl. Priddat/Wieland) sowie zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien und Gerechtigkeitsbegriffen in der politischen Philosophie (vgl. Merkel 2001) bleibt die vergleichende empirische Forschung lückenhaft.“

Zu gut deutsch heißt das, dass man sich in Europa politisch und wissenschaftlich zwar viel um die „Wettbewerbsfähigkeit“ gekümmert hat, aber wenig um das Thema soziale Gerechtigkeit.

Die Kommission und der Rat hätten zwar in ihrem zweiten Gemeinsamen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung (2005) die Bedeutung von sozialen Zielen betont, überließen aber die Zielvorgaben jedem einzelnen Mitgliedsstaat. Nach den ersten beiden Bestandserhebungen über die jeweiligen Aktionspläne lägen die Grenzen dieser „offenen Koordinierungsmethode“ (jeder kann keiner muss) offen zu Tage:
Der Begriff der „sozialen Kohäsion“ sei „bisher weitgehend ohne verbindlichen Inhalt“ geblieben.
„Dem europäischen Sozialmodell (fehle) einerseits ein Kern präziser, von den Mitgliedstaaten als Zielvorgaben akzeptierter Standards und andererseits ein Instrumentarium von Anreizen und Sanktionen zu ihrer Durchsetzung“, urteilen die Autoren.

Es überrascht nicht, dass diese Studie getreu ihrem liberalen Credo allenthalben Veränderungs- und Reformbedarf sieht, aber immerhin anmahnt:
„Wenn man den Status Quo oder gar ein allmähliches, sozialstaatliches Race to the Bottom für unerwünscht hält, bedarf es weitergehender gesamteuropäischer Initiativen.“

Es wird die berechtigte Frage aufgeworfen, warum man bei einer Sozialunionen, „die nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt“, nicht genau so verfahren könnte, wie bei der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion.
Ähnlich wie bei der Währungsunion sei auch bei einer „Sozialunion“ eine „EU der
variablen Geschwindigkeiten“ vorstellbar. Dabei gebe es bei manchen Staaten sicherlich einen starken Anreiz nicht teilzunehmen, um sich z.B. als Investitionsstandort mit niedrigen Sozialstandards vermarkten zu können. Um aber diese „Anreize“ zu verringern, wäre beispielsweise die Koppelung einer Sozialunion-Strategie an die Auszahlung von Mitteln aus den Strukturfonds eine mögliche Option.

Dass die Studie einer Beratungsagentur vor allem zusätzliche Rankings und Benchmarks fordert, lassen wir einmal dahin gestellt. Das gehört zum alltäglichen Akquisitionsgeschäft für neue Aufträge – dem wichtigsten Ziel von Beratern.

Trotz der schon erwähnten Vorbehalte gegenüber quantitativen Messverfahren zur Erreichung des qualitativen Ziel von mehr sozialer Gerechtigkeit in der EU, stimmen einen doch einige der in dieser Studie aufgeführten Ranglisten äußerst nachdenklich. Jedenfalls dann, wenn man sie dem üblichen Gerede vom angeblich überbordenden und überforderten Sozialstaat entgegenhält.

Denn im Gesamtranking der sozialen Lage aller 27 EU-Mitgliedstaaten nimmt Deutschland den drittletzten Platz ein.

Das sagt zunächst vielleicht nicht so viel aus, wenn so typisch neoliberale Indikatoren, wie der öffentliche Schuldenstand oder so zweifelhafte Maßstäbe wie ein dubios errechnetes „Generationenverhältnis“ als Gradmesser für Sozialstaatlichkeit herangezogen werden.
Der Schuldenstand liefere Aussagen über die Belastbarkeit der Staatshaushalte für soziale Programme und da die BRD angeblich einen hohen Schuldenstand habe, bleibe dafür kein Raum mehr, meinen die Autoren. Dass die öffentlichen Schulden etwas mit Steuern und vor allem mit der Konjunktur zu tun haben, das scheint den Autoren völlig aus dem Blickfeld geraten zu sein.

Auch das Erwerbsaustrittsalter hat eher etwas mit der wirtschaftlichen Lage, als mit dem Sozialstaat zu tun. Interessant ist allerdings bei diesem Indikator, dass bei uns von Arbeitgeberseite und der Politik ja immer behauptet wird, das das durchschnittliche Alter für den Austritt (genauer, meistens der Entlassung) aus dem Berufsleben mit 61,3 Jahren vor allem mit den dazu „anreizenden“ Vorruhestandsregelungen zu tun habe. Nun stellen aber plötzlich die Autoren der Studie fest, dass das Berufsaustrittsalter in den meisten anderen Staaten, die solche angeblichen Anreize nicht haben teilweise noch erheblich niedriger liegt, in Luxemburg sogar bei 57,7 Jahren.
Selbst bei der Erwerbsquote der 55 bis 64-Jährigen liegt die Bundesrepublik mit 41,8 Prozent besser als der EU Durchschnitt, aber natürlich weit hinter Schweden (69,1%) oder Dänemark (60,3).

Typisch für die Herangehensweise der Autoren der Studie ist, dass das Verhältnis der über 65-Jährigen zur Zahl der Personen im Arbeitsalter im Jahre 2050 (!) in der Tabelle 36 als ein Indikator herangezogen wird aus dem sich dann die schlechte Rankplatzierung Deutschlands insgesamt ergibt. Ersten gibt es nirgendwo sinnvolle und damit seriöse „Prognosen“ sondern allenfalls Modellannahmen für die nächsten vier Dekaden. Zweitens wird gerade so getan, als ob es unsozial wäre, dass in Deutschland mehr Menschen älter werden, als in der überwiegenden Anzahl der anderen EU-Länder.

Einmal abgesehen davon, dass die Deutschen beim Anteil der Älteren nicht weit vom EU-Durchschnitt abweichen, ist es nicht eher umgekehrt ein sozialer Pluspunkt, wenn die Menschen bei uns (ein wenig) älter werden als anderswo?

Wenn die „Altersabhängigkeit“ etwas mit einer sozialen Gesellschaft zu tun haben sollte, dann müsste Deutschland 2005 (Tabelle 35), wo es an zweitletzter Stelle landet, schon heute sozial viel schlechter dastehen als es 2050 der Fall sein dürfte, denn bis dahin hätten wir uns um einige Rangplätze nach vorne gearbeitet. (Ich bitte um Nachsicht: dieses Beispiel soll nur die Absurdität der Annahmen dieser „Studie“ aufzeigen.)

In den Tabellen Prozentanteil der Jugendlichen oder Jung zu Alt (Tabelle 34), wird einmal mehr die gängige Demografiegläubigkeit nachgebetet und darüber hinaus auch noch als sozialer Indikator benutzt. Ist es für die sozialen Sicherungssysteme nicht viel entscheidender, wie viele Jüngere Arbeit haben?

Mit der Tabelle über die „Gesamtfruchtbarkeitsrate“ wird wenigstens einmal mehr die durch die Medien geisternde Falschbehauptung des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung korrigiert, Deutschland hätte die “weltweit“ niedrigste Geburtenrate. Allein in mindesten 9 von 27 EU-Ländern sind die Frauen noch viel „gebärfauler“ als in Deutschland.

Dass Deutschland bei der Gleichstellung der Geschlechter, bei den Bildungs- und Weiterbildungschancen, bei der Abhängigkeit der Schulleistungen vom beruflichen Hintergrund der Eltern, bei der „Inklusion auf dem Arbeitsmarkt“, bei der Langzeitarbeitslosenquote auf den hinteren Plätzen landet, ist nicht erstaunlich und gleichzeitig für einen sozialen Vergleich bedeutsamer als die meisten anderen Indikatoren. Kein Wunder deshalb auch, dass Deutschland auch bei den „Gesamtausgaben für den Sozialschutz“ ziemlich hoch liegt. Aber keineswegs ist es wiederum so, dass wir – wie vielfach behauptet wird – bei den Sozialausgaben „Spitzenreiter“ wären. Schweden, Dänemark oder Frankreich liegen höher.

Auch die Behauptung, dass es Arbeitslosen in Deutschland noch mit am besten gehe trifft nach dieser Studie offenbar nicht zu.
Aber wie dubios diese Rankings sind, zeigt sich darin, dass in der betreffenden Tabelle (Nr. 3) unterstellt wird, die durchschnittliche (Netto-) „Lohnersatzrate nach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen für Bezieher von Arbeitslosengeld und/oder Sozialhilfe in einem Zeitraum von bis zu 60 Monaten“ betrage 75 Prozent!
Auch wenn die Studie selbst Zweifel an dieser Angabe anmeldet, so ist dies der offensichtlichste Beweis dafür, wie weit solche Erhebungen oder Maßzahlen von der Realität entfernt sind.

Aber auch nichtsnutzige Zahlenreihen sollten die Deutsche Ratspräsidentschaft nicht davon ablenken, dass das soziale Europa bisher nur eine Worthülse ist.
Es spricht vieles dafür, dass die Abwendung der Bürger von Europa gerade damit zu tun hat, dass die Mehrheit der Menschen merkt, dass die europäische Integration ihnen keine ökonomischen Vorteile und schon gar nicht mehr soziale Sicherheit bringt, dann liegt im Ausbau der Sozialunion auch der Schlüssel zur Zustimmung für eine europäischen Verfassungsvertrag.

Quelle:
Wie sozial ist Europa?
Eine Kurzstudie zur sozialen Lage in Europa [PDF – 564 KB]

Von
Jeppe F. Jörgensen
Jochen Schulz zur Wiesch