Wie amerikanische Unternehmen versuchen, die lästig gewordene Rentenauszahlungspflicht gegenüber ehemaligen Mitarbeitern los zu werden
Zusammenfassung eines in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 12.7.2005 erschienen Berichts von Eric Leiser „Les entreprises américaines rechignent à financer les retraites“. Von Gerhard Kilper.
Rund 44 Millionen amerikanische Rentner und Arbeitnehmer haben zurzeit oder künftig Anspruch auf genau festgelegte, monatliche Rentenzahlungen aus den Pensionskassen privater Unternehmen (sogenannte „Franklin D. Roosevelt-Rente“). In den 1990-er Jahren wurde zusätzlich ein neuer Altersrenten-Typ, die 401k-Rente eingeführt. Ihre Leistungsauszahlung ist vom Börsenkurs bzw. vom Unternehmensgewinn abhängig, daher nicht genau fixiert, schwankend und tendenziell unsicherer als die traditionelle „Roosevelt“-Rente.
Seit den 1930-er Jahren bestehen in den USA Pensionskassen privater Unternehmen (heute ca. 31 000 Kassen). Es gibt gemeinschaftliche Kassen kleinerer Unternehmen und firmeneigene Pensionskassen großer Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Diese Unternehmens-Rentenkassen oder Rentenfonds behalten 12,4% vom Bruttoeinkommen der amerikanischen Arbeitnehmer ein und zahlen gegenwärtig in den USA jeden Monat Renten in einer Größenordnung von ca. 124 Milliarden $ aus. In Zeiten hoher Einzahlungsüberschüsse hatten große Unternehmen über ihre Renten-Fonds umsatzunabhängig reichlich Liquidität zur Verfügung, das sie investiv anlegen konnten. Aber: sobald die Renten-Zahlungen fällig wurden, musste die notwendige Liquidität auch wieder vorhanden sein.
Die veränderte Altersstruktur der US-amerikanischen Bevölkerung erforderte in den letzten Jahren eine Aufstockung der kurzfristig verfügbaren Unternehmens-Pensionsrücklagen. Nach einer Studie des Bankhauses Crédit Suisse First Boston verschlechterten diese zusätzlichen Rücklagen in den letzten Jahren erheblich finanzielle Situation und Börsenkurse von Konzernen wie General Motors, Ford, IBM, Motorola, United Technologies, Whirlpool, US Steel, Delta Airlines, Continental, Lockheed Martin u.s.w.
Neben laufenden Rentenzahlungen führt jede einzelne Pensionskasse Beiträge an einen zentralen Bundes-Garantiefonds, die Pension Benefit Guaranty Corporation (PBGC) ab. Sie übernimmt die Rentenzahlungen, wenn beim Konkurs eines Unternehmens trotz strenger Pensionsrücklagen-Bilanzierungsvorschriften keine Mittel mehr für Rentenzahlungen vorhanden sind. Die PBGC hatte im Jahr 2000 noch einen Überschuss von 9,7 Milliarden Dollar erzielt.
Der in Zahlungsschwierigkeiten befindliche Luftfahrtkonzern United Airlines versuchte seit dem Jahr 2002 die vom Konkursrecht vorgesehene Präferenz für Pensionszahlungen durch Klage vor einem Gericht zu umgehen und hatte in letzter Instanz Erfolg. Das Gericht ermächtigte United Airlines, die Rentenzahlungen an seine 120 000 ehemaligen Arbeitnehmer vollständig einzustellen – ein Präzedenzfall, der bisher undenkbar schien, zur Nachahmung einlud und die amerikanischen Arbeitnehmer verunsicherte.
Seit dem United-Airlines-Gerichtsurteil nahm die Zahl der Konkurse in den USA stetig zu und schon zwei Jahre später wies die PBGC ein Defizit von 23,3 Milliarden $ auf. Sie verfügt zurzeit noch über 39 Milliarden $ Reserven für kurzfristig absehbare Verpflichtungen in Höhe von 62,3 Milliarden Dollar.
Der Präsident des amerikanischen Bundesfinanzhofs, Douglas Elliott, meinte, der Gemeinschaftsfonds PBGC sei virtuell bankrott und das Defizit aller Pensionskassen zusammen belaufe sich auf 353,7 Milliarden $, sei also innerhalb eines Jahres um 74,7 Milliarden $ oder 27% gestiegen. Diese Studie berücksichtige noch nicht die 1108 Fonds mit einem „kleinen“ Loch von mehr als 50 Millionen Dollar. Tatsächlich aber betrage das Defizit der privaten Rentenfonds amerikanischer Unternehmen zurzeit 450 Milliarden $ oder noch mehr.
Klar ist in der momentanen Situation nur, dass die US-Regierung den Gemeinschaftsfonds der PBGC aus Steuergeldern kräftig aufstocken muss. Die PBGC zahlt inzwischen die Renten an mehr als 1 Million ehemaliger Arbeitnehmer von LTV Steel, Bethlehem Steel, TWA, Pan Am, US Airways, United Airlines und Eastern Airlines aus. Die Altersrente aus diesem Gemeinschaftsfonds wird jedoch frühestens ab dem 65 Lebensjahr gezahlt und beträgt, unabhängig vom Beitragsaufkommen, höchstens 45 614 $ pro Jahr.
Wie konnte es zu dieser Verunsicherung des privaten amerikanischen Renten-Systems kommen?
Die Konzerne überschätzten aus Gründen der Außendarstellung bei ihren Bilanzierungen grundsätzlich und kontinuierlich ihre erwarteten Überschüsse bzw. unterschätzen ihre künftigen Defizite. So behaupteten etwa Unternehmenssprecher des 2002 zahlungsunfähig gewordenen Stahlriesen Bethlehem Steel bis zum Schluss, 84% der Mitarbeiter-Rentenansprüche gegen das Unternehmen seien gedeckt – tatsächlich betrug die Deckungsrate nur 45 %.
Der Wirtschaftsprofessor George Benston von der University of Emory (Georgia) meinte, es gebe eine unabsehbare Vielfalt von Möglichkeiten, die gesetzlichen Bewertungsregeln zu umgehen. Als der Stahlriese Bethlehem Steel durch Konkurs sich seiner Sozialverpflichtungen entledigen konnte, wurden seine Real-Aktiva von der International Steel Group übernommen. Heute ist dieser Konzern ein profitables Unternehmen – ohne die lästigen Rentenverpflichtungen von Bethlehem Steel.
Nach einer unabhängigen Studie von Wilshire Associates sind 81% der bilanzierten amerikanischen Rentenkassenfonds unterfinanziert, was nicht heißt, dass die Unternehmen nicht die Mittel hätten, ihre Reserven aufzustocken. Die verbreitete sharehoulder-value-Mentalität sehe jedoch darin überhaupt keine Priorität und hoffe, eines Tages „irgendwie“ die Renten-Verpflichtungen gegen ehemalige Mitarbeiter ganz loszuwerden – der seit dem New Deal die USA prägende sozialpartnerschaftliche Kapitalismus scheint eine seiner wichtigsten Säulen zu verlieren.
Newt Gingrich, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses äußerte: „Wenn heute Ford und GM Schwierigkeiten haben, neue Obligationen zu platzieren, weil sie als junk bonds („hochriskant“) eingestuft werden und wenn United Airlines an seine ehemaligen Arbeitnehmer überhaupt keine Betriebsrenten mehr bezahlen muss, dann sagen sich die Leute, irgendetwas stimmt nicht mehr im amerikanischen Rentensystem.“
Bradley Belt, Direktor der PBGC, verlangt jetzt vom Kongress gesetzliche Regelungen, bevor die Diskussion um die Renten völlig aus dem Ruder läuft und der Durchschnitts-Amerikaner noch weiter verunsichert wird. Die Bush-Regierung will zwar offiziell vermeiden, dass der Steuerzahler einspringen und der Bundeshaushalt durch Zahlungen an den Gemeinschaftsfonds PBGC belastet werden muss. Aber daran führt wohl offensichtlich kein Weg mehr vorbei.
Andererseits wird eine großzügige Speisung des Gemeinschaftsfonds aus Steuergeldern viele Unternehmen in Versuchung bringen, sich durch juristische und Bilanzierungs-Tricks à la United Airlines oder Bethlehem Steel ihrer Rentenzahlungspflicht gegenüber ehemaligen Mitarbeitern ganz zu entziehen. Durch solche Machenschaften gleichen sie Wettbewerbsnachteile gegenüber Unternehmen aus, die diese unsolidarischen Wege schon ohne irgendwelche Skrupel beschritten haben.
Und was das Vertrauen der Amerikaner in ihre künftigen Renten und die soziale Funktionsfähigkeit ihres Kapitalismusmodells noch mehr schwächen wird: ab dem Jahr 2020 ist die amerikanische Regierung bei Defiziten nicht mehr zu Bundeszuschüssen an den Gemeinschaftsfonds verpflichtet.
Das amerikanische Unternehmens-Rentensystem des New Deal
Unter Präsident Franklin D. Roosevelt wurde das amerikanische Rentensystem in den 1930-er Jahre eingeführt. Von den Unternehmen werden pro Jahr 12,4%, höchstens jedoch 90 000 Dollar, der Brutto-Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer einbehalten und in die Unternehmens-Rentenkassen eingestellt bzw. als Pensions-Verbindlichkeiten in der Unternehmensbilanz ausgewiesen. Gleichzeitig wurde von Roosevelt der Rückversicherungs-Gemeinschafts-Fonds PBGC eingeführt, an den jede einzelne Unternehmenskasse einen Pflicht-Beitrag abzuführen hat.
Nach langfristig angelegten Berechnungen sollte dieses private amerikanische Renten- System bis zum Jahr 2018 ein Finanzgleichgewicht aus Einnahmen und Ausgaben ohne Staatszuschüsse garantieren. Bushs „Rentenreform“ unterminiert die bisherige Projektion, weil sie vorsieht, dass junge Amerikaner ein Drittel weniger – als bisher vom Gesetz vorgesehen – abführen müssen und dass sie über die eingesparten Beiträge nach Gutdünken frei verfügen können.