60 Jahre „Spiegel“: Vom Aufklärungsauftrag zum ideologischen Kampforgan.
Tun Sie etwas für ihre kritische Meinungsbildung. Verzichten Sie so lange auf den Spiegel, bis er wieder der Spiegel ist. In einem Monat NachDenkSeiten finden Sie mehr aufklärende Impulse als in 10 Spiegel-Ausgaben.
„Der Spiegel“ wurde vor 60 Jahren auf der Basis einer Lizenz der Briten gegründet. Das Blatt sollte und wollte ein Stück demokratische Aufklärungsarbeit im Nachkriegsdeutschland leisten. Trotz berechtigter (späterer) Kritik an der Rolle ehemaliger Nazis unter den damaligen journalistischen Machern bleibt zu würdigen, dass der „Spiegel“ vor allem in der restaurativen Adenauer-Strauß-Ära immer wieder mit investigativen Beiträge Skandale aufgedeckt hat. Heute allerdings fällt er (und sein elektronisches Organ SpiegelOnline) als kritisches Organ in der Innen-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik weitgehend aus, im Gegenteil: „Der Spiegel“ ist neben Bild-Zeitung und FAZ, Focus und inzwischen auch dem Stern und einer Vielzahl anderer Medien zu einem konsequenten Kampfblatt der neoliberalen und von der Wirtschaft geprägten Ideologie geworden – ausgestattet mit allen Finessen der subtilen Manipulation und raffinierten Indoktrination. Dass so viele Menschen dennoch und immer noch glauben, der „Spiegel“ sei ein kritisches oder gar linkes Medium, ist erstaunlich.
„Der Spiegel“ war nie ein wirklich linkes Blatt. Aber er war in früheren Zeiten eine Institution, die keinen Respekt vor Autoritäten kannte, den Mief der 60er und 70er Jahre auslüftete und sich mit konservativen oder revanchistischen Politikern anlegte. Zum Beispiel: Der Spiegel hat mitgeholfen, die Doktrinen aus den Zeiten des kalten Krieges aufzubrechen und damit der Entspannungs- und Ostpolitik der Regierung Brandt den Weg erleichtert; der Spiegel hat mit seinen Recherchen etwa über die dunklen Machenschaften des Franz Joseph Strauß oder die Flick-Affäre Beachtliches zur Aufdeckung von Korruption beigetragen.
Wie sehr sich der Spiegel heutzutage von damals unterscheidet, habe ich an einem konkreten Fall miterlebt: Schon in den siebziger Jahren gab es in Deutschland eine Debatte um Demographie und das angeblich sterbende Volk, damals hat sich der Spiegel noch nicht für eine pronatale Bevölkerungspolitik hergegeben; damals druckte das Blatt noch mehrseitige Essays etwa auch von mir über das völkische Denken in dieser Debatte. Heute werden wir mit Spiegel-Titeln und Geschichten wie „Der letzte Deutsche“ oder „Raum ohne Volk“ belästigt. „Der letzte Deutsche“ zierte das Titelblatt zu einer Geschichte über eine Modellrechnung, nach deren mittlerer Variante in Deutschland im Jahr 2050 75 Millionen Menschen leben sollten – die letzten Deutschen sozusagen.
„Der Spiegel“ ist heute fest eingebaut in die interessengeleitete Kampagne zum Thema Demographie. Er vertritt dabei ohne Hemmungen die Behauptungen von der demografischen Überlastung der Sozialsysteme und ziemlich unverblümt die Interessen der Versicherungswirtschaft und der interessierten Banken. Symptomatisch: Einer der Lobbyisten der Finanzwirtschaft, der ehemalige CDU-Abteilungsleiter Meinhard Miegel, ist regelmäßiger Interviewpartner und Zitatgeber des Blattes und wird dabei selbstverständlich nicht in seiner Lobbyfunktion, sondern als unabhängiger Experte vorgestellt.
Wie sehr sich das Blatt dem Stil der Bild-Zeitung angenähert hat, kann man an einigen Titeln der letzten Zeit festmachen:
- „Die Deutschen müssen das Töten lernen. Wie Afghanistan zum Ernstfall wird.“ (20.11.2006)
- „Angriff aus Fern-Ost. Weltkrieg um Wohlstand.“ (11.9.2006)
- „Ansturm der Armen. Die neue Völkerwanderung.“ (26.6.2006)
- „Der neue kalte Krieg. Kampf um die Rohstoffe.“ (27.3.2006)
- „Jeder für sich. Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft.“ (6.3.2006)
- „Ein Gespenst kehrt zurück. Die neue Macht der Linken“ (mit Foto von Karl Marx) (22.8.2005)
- „Die veruntreute Zukunft. Wie der Staat Milliarden verschwendet und sich immer weiter verschuldet – mit 1834 € pro Sekunde.“ (27.6.2005)
(Im Buch „Die Reformlüge“ hatte ich schon neun ähnliche Titel abgebildet.)
Diese und viele andere Titel strotzen nur so von Übertreibung und Angstmache. Sie bauen auf dumpfen und reaktionären Vorurteilen auf und verstärken sie. Was in Worten nicht wiederzugeben ist: die visuelle Gestaltung ist zum Teil erschreckend; martialische Gestalten zieren zum Beispiel die Titel zum kalten Krieg und zum Angriff aus Fern-Ost. Aus meiner persönlichen Sicht haben manche dieser Bilder schon die denunziatorische Qualität mancher Stürmer-Karikaturen. Wer meint, dies sei übertrieben, sollte sich bitte diese Titelseiten anschauen.
Der Spiegel macht heute mobil gegen die Schwachen – gegen die Arbeitslosen, Arbeitnehmer und sozial Schwache. Er ist ein Blatt der Gutverdiener, wozu ohne Zweifel ein Großteil vor allem seiner Redakteure der Generation nach dem Spiegel-Herausgeber Augstein gehört. Auch der frühere Chefredakteur des Spiegel Günter Gaus hat sicher gut verdient. Aber er hat sich – zum Beispiel – bis zum Schluss seines Lebens den Luxus geleistet, sich den Kopf über die Sorgen der sozial Schwächeren zu zerbrechen und jedenfalls nicht gegen sie mobil zu machen. Der Spiegel tut das heute ziemlich schamlos. Heute macht sich das Blatt lustig über die so genannten „Gutmenschen“. Insofern ist es ein getreuer Abklatsch unserer abgehobenen herrschenden Elite: Getrieben vom zeitgeistigen Egoismus, obwohl sich seine Angestellten aus dem sicheren Port Unabhängigkeit und Großzügigkeit eigentlich leisten könnten.
Der Spiegel hat sich voll in die Kampagne gegen den Sozialstaat, wie er sich in unserem Land entwickelt hat, einbauen lassen und wirbt seit Jahren für („Struktur“-)Reformen. Dabei gehen der Chefredakteur Aust und seine leitenden Redakteure jede journalistische Freiheit in der Redaktion geradezu mit Füßen tretend vor. Mehr und mehr wurde so der Spiegel von einem Unterstützer demokratischer Willensbildung zu einem ideologischen Kampfblatt der neoliberalen Reformitis. So wird zur Zeit im Spiegel und bei SpiegelOnline mit Penetranz verkündet, erstens wir hätten einen Aufschwung und zweitens dieser sei den „Reformen“ zu verdanken und drittens wehe, wir reformieren nicht weiter. Siehe dazu das Interview mit Horst Köhler im Blatt und die in den letzten Tagen wiederkehrenden Erfolgsmeldungen zur Wirtschaft. So meldete SpiegelOnline zum Beispiel am 2. Januar: „Kleines deutsches Wirtschaftswunder. 39 Millionen Erwerbstätige – und 2007 kommen Zehntausende Jobs dazu.“ Im Einführungstext ist dann von einer Umfrage der Bild-Zeitung unter verschiedenen Wirtschaftszweigen die Rede, die ergeben habe, es würden im Jahr 2007 83.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Das sieht toll aus. SpiegelOnline hat leider versäumt auszurechnen, wie viel Prozent die 83.000 an der Zahl der Erwerbspersonen ausmachen: gerade mal 0,21%, also knapp über ein Promille. Gemessen am Erwerbspotential von über 50 Millionen noch weniger. – Dies ist ein harmloses aber typisches Beispiel für den Niedergang des Spiegel als informierendem Organ. Dabei bräuchten wir heute kritische Medien mehr denn je.
Sie sollten, falls Sie noch Spiegelleser sind, den im Spiegel auch heute noch vorhandenen wachen Journalisten ein Geburtstagsgeschenk machen: den Spiegel so lange meiden, wie er nur noch die Bild-Zeitung der Besserverdienenden und der abgehobenen politischen Elite (und derjenigen, die meinen dazuzugehören) darstellt. Hinter dem Schreibtisch des Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust hängt eine riesige Statistik über die Auflagen der einzelnen Spiegel-Nummern.
Austs journalistisches Weltbild endet an der verkauften Auflage. Nur eine Absage durch die Leser könnte ihn vielleicht veranlassen, über die Linie seines Blattes nachzudenken und sich an den kritischen und aufklärenden Auftrag eines „Nachrichtenmagazins“ zu erinnern.
Machen Sie bitte auch andere Spiegel-Leser darauf aufmerksam.
Übrigens: Es sind eine Reihe von Artikeln zum 60. des Spiegel erschienen. Besonders amüsant zu lesen: Tom Schimmeck in der taz vom 31.12.2006.