Der reformgetriebene Aufschwung? Ein kollektiver Wahn und/oder eine dreiste Strategie.
Nicht nur der Bundespräsident in seiner Weihnachtansprache, jetzt auch Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Neujahrsansprache haben die Fortsetzung der Reformen angemahnt [16 KB]. Zur Begründung dieser Forderung wird eine Verbindung hergestellt zwischen den Reformen und dem verbesserten Wirtschaftswachstum, auch Aufschwung genannt. Wir kennen diesen Versuch. Dabei wird in der Regel die Stärke der wirtschaftlichen Erholung über die Maßen verklärt. Der Zusammenhang zwischen Reformen und Aufschwung wird nicht erklärt und begründet, sondern einfach behauptet. So z. B. im Absatz 12 der Merkel-Rede. Die strategisch angelegte Indoktrination mit den Botschaften „die Reformen wirken, die Reformen brauchen Zeit, wir brauchen Geduld“ geht offenbar munter weiter. Das Ziel ist klar. Der Akteure wollen weitere Strukturreformen zulasten der Sozialstaatlichkeit und der Arbeitnehmerschaft durchsetzen. Dass die wirtschaftliche Belebung ganz andere Hintergründe hat, stört solange nicht, wie die mediale Kraft für das beabsichtigte Brainwashing ausreicht. Albrecht Müller.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten hilft der „Spiegel“. Dort wird zum Beispiel in der Nummer 1/2007 auf Seite 21 folgende abenteuerliche Geschichte erzählt: Angesichts der Warnungen Kurt Becks, den Bürgern weitere Veränderungen/Reformen zuzumuten, fühlten sich „viele Beobachter“ (Wer denn wohl? Die Redakteure selbst mit ihrer die Realität verzerrenden Brille!) an die rot-grüne Regierung erinnert, die wegen des Aufschwungs von 1999/2000 die Reformarbeit eingestellt habe. Daraufhin sei die Konjunktur abgestürzt. „Die Arbeitslosenzahlen explodierten, die öffentliche Verschuldung stieg, die SPD-Basis rebellierte. Die eilig in Gang gebrachten Hartz-Reformen kamen dann viel zu spät, um kurzfristig etwas ausrichten zu können.“
So viel krauses Zeug können bei uns Journalisten schreiben. Das fällt nicht weiter auf, weil von der Staatsspitze, den Wirtschaftsverbänden und vielen Professoren Ähnliches erzählt wird. – Der damalige kleine Boom ist nicht wegen des Ausbleibens von Reformen eingebrochen. Der Wechsel von Lafontaine zu Eichel im Frühjahr 1999 war schon geprägt von Reformen der dann gängig werdenden Art – der Subvention von Minijobs zum Beispiel. Und die weitere Zeit war geprägt von „Sparkommissar“ Eichel und davon, dass der Sachverständigenrat im November 2000 bei über 4 Millionen Arbeitslosen behauptete, die Konjunktur laufe rund. Und damit die Sparpolitik ermunterte, statt auf eine Belebung der Binnennachfrage zu drängen, an der es auch damals fehlte.
Aber die Fakten spielen keine Rolle. Wie auch heute nicht. Heute sind zur erkennbaren Strategie der Modernisierer zwei Dinge anzumerken:
Erstens, der Aufschwung ist weder ausreichend massiv noch verlässlich – so gerne ich das auch anders sehen würde. Ein Wachstum um 2% herum und das für nur ein oder zwei Jahre – mit einer solch lächerlich geringen wirtschaftlichen Belebung bekommen wir die Arbeitslosigkeit nicht weg. Siehe dazu auch ein früherer Beitrag.
Zweitens hat die wirtschaftliche Belebung ganz andere Ursachen, als mit dem Hinweis auf Reformen zu insinuieren versucht wird: der Export floriert, es werden auch aus diesen Gründen neue Investitionen fällig, die große Koalition hat einige Entscheidungen getroffen, die Binnennachfrage stärkten – Abschreibungserleichterungen, steuerliche Abzugsfähigkeit von Handwerkerrechnungen, Androhung der Mehrwertsteuererhöhung, die zu vorgezogenen Käufen führte. Das waren einige makroökonomisch positiv wirkende Entscheidungen. Mit Reformen hat das nichts zu tun.
Zu beiden Themenkomplexen verweise ich auf einen lesenswerten Beitrag von Robert von Heusinger und von Heiner Flassbeck [PDF – 52 KB].
Im Zusammenhang mit der Weihnachtansprache des Bundespräsidenten (und der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin) machte uns einer unserer Leser auf eine interessante strategische Variante der herrschenden Botschaften aufmerksam: die immer wiederkehrende Behauptung, jeder könne es schaffen, wenn er nur leisten wolle, jeder sei seines Glückes Schmied. Ich zitiere den Kern der E-Mail unseres Lesers aus Indonesien:
Ich lebe zur Zeit in einen Land das auch sehr unter neoliberalen, besser dem faschistischen Weltwirtschaftmodell Amerikas leidet, wohlgemerkt, die Menschen leiden, schlechte Bezahlung, wenig Arbeit u.u.u.u. Doch gestern habe ich beinahe geweint, ich habe vor ein paar Tagen die Weihnachtsansprache unseres Präsidenten Herrn Köhler gelesen, und war gestern auf einer Feier anlässlich Neujahr, in Bali, Indonesien. Hier in einem Land, das im Verhältnis zu Deutschland sehr arm ist, riefen der Provinzgouverneur und Vertreter aller Religionen zu Liebe, Harmonie und Frieden und Solidarität auf, in unsere Heimat zu Kampf, Herausforderung, nach dem Motto, jeder ist selbst des Glückes Schmied, wenn einer auf der Strecke bleibt, selbst schuld“. Dies hat mich sehr betroffen gemacht.
Wir haben hier ein glückliches Weihnachtsfest mit unseren Nachbarn gefeiert, die überwiegend Muslime sind und Hindus und an Buddha glauben, ich wünschte, in D gäbe es diese Achtung und Akzeptanz von anders Gläubigen und Denkenden wie hier. Die Demokratie hier ist jung, Korruption ist groß, aber jeder hier weiß es. Dieses Land macht Hoffnung, dass Demokratie, Solidarität und Mitmenschlichkeit noch eine Chance haben. Ich hoffe dieses Land wird es besser machen als mein Heimatland, auf das ich mal stolz war, das ich immer noch sehr liebe, und Sie können sich gar nicht vorstellen wie ich leide, wenn ich in Ihren Seiten lese, wie eine Gruppe von Lobbyisten, Politikern und Ideologen es systematisch zerstören.