Die Debatte um die Rente mit 63 – wieder einmal ein Musterbeispiel von Meinungsmache
„Eine Frühverrentungswelle schwappt heran“, so macht die wirtschaftsliberale FAZ auf und die angeblich sozial-liberale Frankfurter Rundschau titelt „Frühe Rente benachteiligt Frauen“. Die Vorkämpfer der Rente mit 67 machen mit massiver propagandistischer Unterstützung des Bundessozialministeriums und der Deutschen Rentenversicherung gegen die im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vereinbarte Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren mobil. Keiner redet mehr über die Zerstörung der gesetzlichen Rente, die mit den Rentenreformen insgesamt und zusätzlich mit der Rente mit 67 politisch ausgelöst wurde. Dass 2011 gerade einmal 12,5 Prozent der 63-Jährigen tatsächlich noch vollzeitbeschäftigt waren, darüber spricht niemand. Von Wolfgang Lieb
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Dass mit dem Koalitionsvertrag die mit den Rentenreformen verbundene Zerstörung der gesetzlichen Rente vor allem mit der Senkung des Rentenniveaus auf 42 Prozent und der Rente mit 67 festgeschrieben wurde, darf aus Sicht der Tugendwächter der neoliberalen „Reformpolitik“ nicht ins allgemeine öffentliche Bewusstsein vordringen. Um von dieser „Schuld“ gegenüber sämtlichen Rentnern abzulenken, hat die SPD im Koalitionsvertrag (auf Drängen der Gewerkschaften) darauf gepocht, dass die „kleinen Leute“ (Sigmar Gabriel) ab dem 1. Juli 2014 nach 45 „Beitragsjahren“ (wohlgemerkt nicht „Versicherungszeit“) im Alter von 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen können sollten.
(Das Detail, dass das mit dem Alter von 63 Jahren nicht ganz so wörtlich zu nehmen ist, weil diese vorzeitige Verrentung parallel zur Einführung der Rente mit 67 auf die heute (noch) geltenden 65 Jahre als frühestmöglicher Ausstieg ansteigen wird, lassen wir an dieser Stelle einmal außen vor.)
Doch für alle Hardliner der neoliberalen Agenda-„Reformen“, ging selbst diese „Aufweichung“ zu weit, sie wollen bedingungslos an der Rente mit 67 festhalten und sogar noch darüber hinaus, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln.
(Siehe z.B. die „Chance 2020“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), wohl wissend, dass damit faktisch durch die monatlichen Abschläge nur eine weitere Rentenkürzung verbunden ist.)
Es war also vorhersehbar, dass diese mit verflüchtigender Tinte geschriebene „Handschrift“ der SPD im Koalitionsvertrag aus dem Lager der neoliberalen Propagandaagenturen mit allen Mitteln bekämpft werden würde.
Eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Markus Kurth an die Bundesregierung bot nun dazu die passende Munition. Nach Angaben des Arbeitsministeriums wären im Jahr 2011 rund 92.000 Männer, also jeder zweite männliche Neurentner zwischen 63 und 65 Jahren (!) (einschließlich aller Zeiten der Arbeitslosigkeit) in den Genuss einer solchen abschlagsfreien Rente gekommen. Und weil diese „schwappende Frühverrentungswelle“ noch nicht Drohkulisse genug ist, musste noch ein Gerechtigkeitsargument her: Die Deutsche Rentenversicherung (die eigentlich die Interessenvertretung der Rentenversicherten sein müsste), musste statistisch die bestehende Ungerechtigkeit belegen, dass von der bestehenden Ausnahmeregelung von der Rente mit 67 zu 86 Prozent ausschließlich die Männer profitierten, die ohnehin eine (im Schnitt bei allerdings nur bei 1465 Euro liegende) höhere Rente als die Frauen bezögen.
Da hatte man dann wieder das moralische Argument der Benachteiligung von Frauen, mit dem die generelle Verschlechterung (für Mann und Frau) zum argumentativen Hebel genutzt werden konnte, dass es jedenfalls auch den Männern nicht besser gehen darf.
Auf die Idee, wie man die schlechteren Bedingungen für die geringeren Rentenanwartschaften der Frauen verbessern könnte, kommt natürlich niemand. Nein, geschlechterneutral soll es allen schlechter gehen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass der Ge“schlechter“-Kampf als propagandistischer Hebel zu einer „Schlechter“-Stellung aller, statt zu einer allgemeinen Verbesserung genutzt wird.
Wie sehr dieses Propagandamanöver an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass seit der Einführung der Rente mit 67 im Jahre 2007 immer noch nur 12,5 Prozent der 63-Jährigen und gerade mal 9,9 Prozent der 64-Jährigen (Männer und Frauen) Vollzeitbeschäftigt sind. (Das sind zwar die Zahlen aus 2011, aber auch das Arbeitsministerium bezieht sich mit seinen Zahlenangaben über die angeblich begünstigten Neurentner auf dieses Jahr. Siehe oben.)
Für alle Zweifler hier das Schaubild:
Quelle: Sozialpolitik aktuell [PDF – 115 KB]
Wenn also nur noch jeder achte Erwerbstätige mit 63 Jahren derzeit voll beschäftigt ist und es mit 64 Jahren 90 Prozent sind, die nicht mehr vollzeitbeschäftigt sind, dann lässt sich an dieser Tatsache, die ganze Absurdität, ja der Zynismus der aktuellen Debatte ausmachen.
Zynisch deshalb, weil völlig außer acht gelassen wird, dass ohne eine abschlagfreie Rente mit 63 (wohlgemerkt nach 45 Versicherungsjahren) schon heute Renteneinbußen (z.B. aufgrund von weniger Rentenpunkten wegen Teilzeitarbeit) oder Rentenabschläge (z.B. 3,6% pro Jahr wegen Frühverrentung) in Kauf genommen werden müssen – und das bei einer Durchschnittsrente für Männer bei nur 1465 Euro und bei einem Eckrentner der 45 Jahre durchschnittliche Beiträge eingezahlt hat mit einer Rente von schmalen 1250 Euro.
Diese für jeden Arbeitnehmer keineswegs erfreulichen Zahlen werden selbstverständlich nicht so gern genannt. Sie würden nämlich konkret machen, was die derzeitigen Abzüge für den einzelnen Rentner bedeuten. Dafür werfen diejenigen in den Zeitungsredaktionen, die sich gar nicht vorstellen können, wie man mit einer Rente von 1250 Euro leben kann, lieber mit den 3,5 bis 4,5 Milliarden Euro-Beträgen um sich, die angeblich die abschlagfreie Rente mit 63 Jahren kosten könnte.
Diesen Mehraufwand müssten im Übrigen ausschließlich die Beitragszahler in die Rentenversicherung aufbringen, also zum ganz überwiegenden Teil nicht diejenigen, die jetzt das Maul über diese „Vergünstigung“ aufreißen. Sie tun so, als müssten die Steuerzahler dafür gerade stehen.
Dass allerdings sowohl die Formulierungen im Koalitionsvertrag und schon gar die jüngste Debatte um die Aufweichung der Rente mit 67 hinter die geltende Gesetzeslage zurück fallen, ist schon ganz der allgemeinen Gehirnwäsche zum Opfer gefallen:
Im Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist die Verpflichtung festgelegt worden, wonach „die Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber abzugeben [hat], ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können“ (§ 154 Absatz 4 SGB VI)
So wie die oben dargestellte Entwicklung tatsächlich aussieht, sind noch nicht einmal die Voraussetzungen für die Umsetzung der Rente mit 67 erfüllt.
Bei der aktuellen Kritik an der abschlagsfreien Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren handelt es sich somit um nichts anderes, als um ein Musterbeispiel neoliberaler Meinungsmache.