Jutta Roitsch: Föderaler Schlussakt. Von der kreativen Kooperation zum ruinösen Wettbewerb
Die erste große Koalition in der Bundesrepublik unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt führte ihn ein, die zweite große Koalition unter Angela Merkel und Franz Müntefering schafft ihn ab: Nach über 35 Jahren hat der kooperative Föderalismus ausgedient. Nach einer parlamentarischen Beratungszeit von nur fünf Monaten wurde in Bundestag und Bundesrat ein Eingriff in das Grundgesetz vorgenommen, der die bisherige Machtbalance zwischen Bund und Ländern grundlegend verändert.
Jutta Roitsch hat uns ihren Beitrag zur Entwicklung und den Zielen der Föderalismusreform zur Verfügung gestellt. Er ist in den Blättern für deutsche und internationale Politik 8/2006 abgedruckt. Siehe auch NachDenkSeiten vom 20. Dezember 2005.
Föderaler Schlussakt
Von der kreativen Kooperation zum ruinösen Wettbewerb
Von Jutta Roitsch
Die erste große Koalition in der Bundesrepublik Deutschland unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt führte ihn ein, die zweite große Koalition unter Angela Merkel und Franz Müntefering schafft ihn ab: Nach über 35 Jahren hat der kooperative Föderalismus ausgedient. Nach einer parlamentarischen Beratungszeit von nur fünf Monaten wurde in Bundestag und Bundesrat ein Eingriff in das Grundgesetz vorgenommen, der die bisherige Machtbalance zwischen Bund und Ländern grundlegend verändert. In einem beispiellosen Poker haben sich die Ministerpräsidenten der Länder einen Einfluss auf die Politik in der Bundesrepublik gesichert, wie er stärker nicht sein kann.
Der bisher weitreichendste Eingriff in die deutsche Verfassung nennt sich „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“. Es geht jedoch nicht darum, die Verantwortung neu zu ordnen oder angesichts der europäischen Entwicklung die Kompetenzen klug zu verteilen. Im Gegenteil: Die in Bundestag und Bundesrat beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes sind der dritte Schritt eines machtpolitischen Projektes, dessen Ziel es war und ist, die Position der Ministerpräsidenten und des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig zu stärken, die Position des Bundestags aber zu schwächen.
Einige Schlagzeilen machte das Kooperationsverbot in der Bildungspolitik, das es in Zukunft der Bundesregierung und dem Bundestag beispielsweise nicht mehr erlaubt, ein Programm für Ganztagsschulen zu beschließen. Noch weitreichender aber ist der Bruch mit einem fundamentalen Grundsatz dieser Republik, der lautete: Bundesrecht bricht Landesrecht. Die Ministerpräsidenten erzwangen die Umkehrung. Und zwar nicht in irgendwelchen Randgebieten wie dem Jagdrecht, sondern auf Gebieten, die tief in den Alltag eingreifen und einheitliche Lebensverhältnisse in Deutschland in Frage stellen: Landesrecht gilt künftig bei der Besoldung der Beamten von den Richtern bis zu den Lehrern, dem Umweltrecht, dem Strafvollzug, dem Ladenschluss oder dem Heimrecht.
In diesem Sommer spielte in Berlin nur der Schlussakt eines politischen Dramas, dessen Tragweite der Öffentlichkeit lange verborgen blieb. Bereits mit der deutschen Vereinigung erhielt das rund 20jährige Bemühen der Länderchefs Auftrieb, gesetzgeberische Zuständigkeiten, die sie im Zuge der ersten Großen Koalition verloren hatten, für die Länder zurückzugewinnen. Zuvor waren zwei Enquete-Kommissionen zu Verwaltungsreformen gescheitert. 1990 einigten sich dann die Ministerpräsidenten der Länder, ihre eigene Gesetzgebungsmacht durch höhere Gesetzgebungsschranken für den Bund zu stärken. Seit 1992 tagte dann die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Die Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl wollte die Ende 1993 vorgelegte und 1994 verabschiedete so genannte kleine Verfassungsreform zwar verhindern; sie sah sich aber schließlich im Vermittlungsausschuss gezwungen nachzugeben, da sie die Zustimmung der Länder zu den europäischen Verträgen brauchte – und Helmut Kohl die wahlpolitische Unterstützung der CSU.
Insbesondere zwei Korrekturen am Grundgesetz, die damals weder in der Politik noch in den Medien öffentlich kritisch kommentiert wurden, sollten nachhaltige Folgen haben: Aus dem Artikel 72 wurden erstens die „einheitlichen“ Lebensverhältnisse gestrichen; nach einem Vorschlag des SPD-Politikers Hans-Jochen Vogel wurden daraus „gleichwertige“. Die „Bedürfnisklausel“, die dem Bund weiten Interpretationsspielraum eröffnet hatte, welche Gesetze zur Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse notwendig waren, wurde zurechtgestutzt auf eine eng eingegrenzte „Erforderlichkeit“, vor allem in Rechts- und Sicherheitsfragen sowie zur Wahrung der Wirtschaftseinheit. Mit der zweiten Korrektur wurde langjähriges Bohren des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere des 2. Senats, belohnt. Nach Artikel 93 Grundgesetz sollte künftig das Gericht bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des neuen Artikel 72 entscheiden und inhaltlich prüfen, ob ein Bundesgesetz im Sinne der gleichwertigen Lebensverhältnisse erforderlich ist oder nicht. [1]
Die wichtigsten Akteure bei dieser ersten Stufe des Projekts waren die Euroskeptiker in den Ländern (insbesondere Bayern, Baden-Württemberg, aber auch Oskar Lafontaine im Saarland) und im Bundesverfassungsgericht (insbesondere die beiden Verfassungsrichter Paul Kirchhof und Udo di Fabio im 2. Senat). Bundeskanzler Helmut Kohl hatte im Bundestag mit allen Mitteln die Neufassung der Artikel 72 und 93 zu verhindern versucht. Dem erklärten Europapolitiker waren die Folgen klar: Mit der Änderung des Grundgesetzes hatten die Euroskeptiker in der CDU/CSU und im Verfassungsgericht, aber auch die Machtpolitiker der SPD in den Ländern ein Instrument in der Hand, die politischen Spielräume der Bundesregierung einzugrenzen und sich selbst eine dauerhafte Position im Abstimmungsprozess mit Brüssel und Bonn bzw. Berlin zu sichern.
Der 2. Senat und einzelne Bundesverfassungsrichter sollten Jahre später aus dieser gewollten Entwicklung keinen Hehl machen. So zeichnete Verfassungsrichter Udo di Fabio in einem Referat auf dem 65. Deutschen Juristentag am 22 .September 2004 in Bonn das bedrohliche Szenario eines „zentralistischen paneuropäischen Superstaates“. Eine neue politische Konzeption für die Gesetzgebung erfordere es deshalb, „periodisch ein klärendes Gegengewicht zu setzen: und zwar gegen die zentralisierende und unitarisierende Ebene, das war früher und ist mitunter auch heute noch der Bund, aber immer deutlicher auch der europäische Gesetzgeber“. [2]
Bundesverfassungsrichterliches Ungleichheitsrecht
Durch die Rechtsprechung des 2. Senats wurde aus der „Lust an der Vielfalt“, mit der zu Beginn der 90er Jahre mit Blick auf die neuen Bundesländer geworben wurde, politisch gewollte Ungleichheit und „partikulare Differenz“. Acht Jahre nach der 1994 verabschiedeten Verfassungsreform leitete der 2. Senat des Bundesverfassungsgericht eine Interpretation der damaligen Grundgesetzänderungen ein, die tief in das bisherige Gefüge des deutschen Bundesstaats eingriff. Ungleichheit ist damit zu einem bewusst herbeigeführten Element des Bundesstaats geworden. Gleiche Chancen für alle und gleichwertige Lebensverhältnisse wurden höchstrichterlich abgewertet.
Die Anlässe zu dieser radikalen Neuinterpretation des Grundgesetzes waren drei Gesetze aus dem Bundesbildungsministerium: Im ersten Gesetz wurde die Ausbildung der Altenpfleger neu geregelt, im zweiten die Einführung der Juniorprofessur. Im dritten Gesetz ging es um das Verbot von Studiengebühren und das Gebot zu Studierendenvertretungen. In allen drei Urteilen (2002, 2004, 2005) räumt der Senat radikal mit dem Staatsziel der Gleichheit und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf und ersetzt diese durch Unterschied und Ungleichheit. Der Kernsatz, mit dem der 2. Senat die Republik verändern wird, lautet: „Sinn föderaler Verfassungssystematik ist es, den Ländern eigenständige Kompetenzspielräume für partikulardifferenzierte Regelungen zu eröffnen“. [3]
Damit entscheiden die Länder über das „bundesstaatliche Sozialgefüge“; das Rechtsgut der gleichwertigen Lebensverhältnisse knüpfen die Richter für den Bundesgesetzgeber an die Notwendigkeit eines Bedrohungs- und Gefahrenszenarios. Im Urteil zur Juniorprofessur geht der 2. Senat noch einen Schritt weiter und räumt unter Verweis auf die Reform von 1994 mit der Rechtseinheit der Bundesrepublik auf. Unterschiedliche Rechtslagen seien die „notwendige Folge des bundesstaatlichen Aufbaus“. In ihrem Urteil zu den Studiengebühren sehen die Richter schließlich die Wahrung gleicher Bildungschancen und das bundesstaatliche Sozialgefüge bei den Ländern in den besten Händen: Es sei davon auszugehen, erklären sie schlicht, dass die Länder bei der Einführung von Studiengebühren, „den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung tragen werden“.
Mit diesen Verbündeten in der Rechtsprechung, die die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder jahrelang ignorierten und die Regierungsfraktionen im Bundestag in eine Art Schockstarre versetzten, und dank dieser höchstrichterlichen Rückenstärkung rollten die Vertreter der Länderregierungen in der zuständigen Bundesstaatskommission die gesamte Gesetzgebungskompetenz des Bundestags auf.
Neoliberale Manifestpolitik
Die Vorlagen für diese Politik lieferten allerdings mächtige Mitspieler, die bereits Jahre zuvor die politische Bühne betraten. Seit 1998 mischte ein neuer Akteur mit: die Friedrich Naumann-Stiftung unter Otto Graf Lambsdorff. Mit fünf Manifesten bestimmte sie die weitere Diskussion und Richtung der Föderalismusreform. Bis zum Jahr 2004 schaffte sie die „Stiftungsallianz Bürgernaher Bundesstaat“ und band die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Stiftung Soziale Marktwirtschaft und die Hanns-Seidel-Stiftung zusammen. Erklärtes Ziel ist der Wettbewerbsföderalismus mit möglichst weitreichender Privatisierung und mehr Markt auf allen Ebenen, den Bildungsbereich inbegriffen. Die Spaltung in arme und reiche Länder ist dabei politisch gewollt, ebenso der (ruinöse) Wettbewerb um Standortvorteile – von der Besoldung der Beamten bis zum Umweltschutz.
Das erste Manifest vom 4. Februar 1998 stellten Otto Graf Lambsdorff und Carl Christian von Weizsäcker, Wirtschaftswissenschaftler der marktradikalen Kölner Schule, vor der Bundespressekonferenz vor. Es trug den programmatischen Titel: „Wider die Erstarrung in unserem Staat“. Die Autoren wandten sich gegen die „schleichende Zentralisierung“ und die „Überdehnung des horizontalen Finanzausgleichs unter den Ländern, der die Verantwortlichkeiten verwischt“. Zum ersten Mal tauchte hier die offizielle Forderung „für einen echten Wettbewerbsföderalismus“ auf. Wörtlich heißt es in dem Dokument: „Ein echter und gestärkter Wettbewerbsföderalismus ist das Gebot der Stunde“. Er ermögliche ein „Entdeckungsverfahren“, „neue überlegene wirtschaftspolitische, aber auch z.B. bildungspolitische Wege in einzelnen Bundesländern zu erproben“. Gefordert werden Kompetenzen „nach dem Trennsystem“, Prinzipien des Wettbewerbs auch im politischen System und eigene Steuerhoheit für jede Ebene. Die Autoren des Manifests sprechen sich für eine „echte Subsidiarität“ aus, „die die Demokratie näher an den Bürger bringt“. [4]
Auch dieses Manifest enthielt deutlich europakritische Töne: „Wir warnen zugleich vor einer übermäßigen Aushöhlung föderaler Strukturen durch den europäischen Einigungsprozess.“ Zu den Unterzeichnern gehören – ausschließlich – Männer wie Hans-Olaf Henkel, Karl Otto Pöhl, Otto Schlecht oder Klaus von Dohnanyi.
Das zweite Manifest, bereits ein halbes Jahr später verfasst, wandte sich verschärft gegen „einige tiefverwurzelte, zur Ideologie verfestigte Einstellungen“. Dazu gehören vor allem die Gleichwertigkeit und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die das Grundgesetz als „Nebenbedingung“ erwähne, aber nicht als Staatsziel proklamiere. Der Überinterpretation dieser Nebenbedingungen sei entgegenzutreten. „Einheitlichkeit ist nicht erreichbar und auch gar nicht erstrebenswert, weil sie mit Freiheit und mit Wettbewerb unvereinbar ist“, heißt es unmissverständlich in dem Manifest. [5]
1999 legte dann eine Experten-Kommission unter Vorsitz von Graf Lambsdorff ein weiteres Papier für eine Subsidiarität ohne Wenn und Aber vor, in dem bereits konkrete Vorschläge zu einer Neufassung des Grundgesetzes gemacht werden. Jegliche Rahmenkompetenz des Bundes sollte fallen, um den „fruchtbaren Wettbewerb“ zwischen den Länderpolitiken nicht zu behindern. „Gerade in einem so sensiblen Bereich wie der Bildung sollte so viel Pluralismus und Ideenvielfalt wie möglich herrschen“, schrieben die „Experten“, deren engerer Kreis seit dem ersten Manifest unverändert geblieben ist. Und sie fügten einen neuen Gedanken hinzu: den Vorrang des Privaten. Der Staat müsse zur Entstaatlichung gezwungen werden können. [6] Im 4. Manifest vom Januar 2002 legte die Experten-Kommission unter Graf Lambsdorff das Schwergewicht dann auf die Stärkung der Landtage und die Reformierung des Bundesrats, dem das „Wächteramt über die strikte Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Bund und in der Europäischen Union“ zufallen solle. Die Stärkung der Landtage sollte vor allem in zwei Bereichen erfolgen: der Finanz- und der Bildungspolitik. [7]
Die jetzt beschlossene „Modernisierung“ der bundesstaatlichen Ordnung trägt nachweisbar die Handschrift der konservativ-liberalen Thinktanks, die sich in der Stiftungsallianz zusammengeschlossen haben. Besonders interessant sind allerdings gerade die Abstriche, die die Ministerpräsidenten durchgesetzt haben: Das Ausklammern der gesamten Fragen des künftigen Finanzausgleichs und die Vorschläge zur Reform des Bundesrats. Das lässt den Schluss zu, dass die Ministerpräsidenten nach wie vor an ihrer Macht- und Blockademöglichkeit festhalten. Es ging also auch bei dieser „Reform“ vor allem um Machtverschiebungen zugunsten der wirtschaftlich starken Länder und der Euroskeptiker.
Reklamierte Bürgervertretung ohne Bürgernähe
Das Motto der Stiftungs-Allianz Bürgernaher Bundesstaat war und ist: mehr Bürgernähe. Bürger oder Organisationen der Zivilgesellschaft waren jedoch zu keinem Zeitpunkt an der Debatte und Meinungsbildung über diese Föderalismusreform beteiligt. Im Gegenteil: Die Zirkel, in denen die entscheidenden Konzepte, der Anhang 2 des Koalitionsvertrags und schließlich die Bundestagsdrucksache 16/813, ausgehandelt wurden, waren klein. Die zweiwöchige Anhörung der Fachverbände und Experten im Parlament geriet zu einer Farce – allerdings exemplarischen Charakters.
Das Zirkelwesen und die Stiftungsallianz zeigen in der Tat auf, wie Politik in Deutschland zur Zeit gemacht wird: durch (teilweise selbsternannte) Kommissionen, denen jegliche demokratische Legitimation fehlt. [8] Der Männer-Bund, der sich in der Friedrich-Naumann-Stiftung seit Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts zusammengefunden hat, ist einflussreich, zumindest bis zu einem gewissen Grade. Der Einfluss endet allerdings, sobald die eigentlich Ebene der Macht der Ministerpräsidenten berührt ist. Diese wiederum nehmen ihre Macht mit schnöder Arroganz wahr. Bester Beleg hierfür ist ihr Umgang mit der Anhörung vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags.
Für die umstrittenen Fragen von Bildung und Wissenschaft benannten die Ministerpräsidenten nahezu ausschließlich Vertreter in eigener Sache: ehemalige Ministerpräsidenten wie Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel, die den Machtpoker seit 1990 mitbetrieben haben, ebenso ehemalige Kultusminister oder Chefs von Staatskanzleien. Dass es keinen öffentlichen Protest gegen diese „Inzuchtanhörung“ [9] gab, zeigt das gesunkene Ansehen und den Zustand der Schwäche, in dem sich der Bundestag insgesamt befindet. Ein weiterer Beleg dafür ist der neue Artikel 84, der eine weitreichende Klausel enthält: „Wenn Bundesgesetze etwas anderes bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen.“ Dies öffnete dem „Wettbewerb“ und den Lobbyisten, aber auch den Populisten unter den Landespolitikern Tür und Tor.
Über ein winziges Zugeständnis an die zaudernden Bildungspolitiker in der SPD-Fraktion verhandelten die zwei Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) und Kurt Beck (gleichzeitig SPD-Vorsitzender). Danach können Bund und Länder bei der Förderung von „Vorhaben der Wissenschaft und Forschung“ (vorher: „Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung“) zusammenwirken – allerdings unter der Bedingung, dass alle Länder zustimmen (Artikel 91 b neu). Bereits heute steht fest: Bei dieser Zustimmung wird es nicht um wissenschaftspolitische Inhalte, sondern nur um Geld gehen. Der geballte Protest gegen den bildungspolitischen und hochschulpolitischen Rückfall in die deutsche Kleinstaaterei prallte an den Landesfürsten ab: Vergeblich sammelten (Hochschul-)Politikerinnen wie Rita Süssmuth oder Gesine Schwan noch weit über fünfhundert Unterschriften (petition-der-wissenschaft.de) gegen die kurzsichtige und im Kern antieuropäische Entwicklung.
Den Tiefpunkt erreichte die Debatte allerdings auf einer Podiumsdiskussion des Deutschen Gewerkschaftsbunds und des Beamtenbunds am 22. Juni in Berlin. Wolfgang Bosbach, immerhin stellvertretender CDU/CSU-Fraktionschef, verstieg sich zu dem lapidaren Eingeständnis, dass sich 2020 durchaus herausstellen könne, dass das alles „Quatsch“ gewesen sei, was man jetzt beschlossen habe. Aber dann sei er nicht mehr im Bundestag.
Diese Äußerung, die ein bemerkenswertes Schlaglicht auf den Zustand des deutschen Parlamentarismus wirft, findet ihre Parallelen im Umgang der SPD-Spitze mit ihrer Bundestagsfraktion: Das Parteipräsidium nötigte widerspenstige Abgeordnete durch einen einstimmigen Beschluss zur Zustimmung; der Bundesgeschäftsführer Hubertus Heil beschwor vor der Fraktion das Erscheinungsbild der Partei, sollte eine eigene Zweidrittel-Mehrheit nicht zu Stande kommen. Von einem demokratischen Schub, der das Vertrauen in die Parlamente und die politischen Parteien stärkt, ist Deutschland bei diesem größten Eingriff in die Verfassung weit entfernt.
Mehr Übersichtlichkeit statt mehr Wettbewerb
Wie aber hätte eine demokratische „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ auszusehen, die diesen Namen tatsächlich verdient? In jedem Fall müsste eine breite öffentliche Diskussion darüber stattfinden, wie sich die bundesrepublikanische Gesellschaft das Zusammenleben unter den geänderten Bedingungen eigentlich vorstellt. Sechzehn Jahre nach der deutschen Vereinigung und kurz nach dem Scheitern der europäischen Verfassung ist ein solcher öffentlicher Diskurs dringend notwendig.
Der „Runde Tisch“, der sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer in Berlin gebildet hatte, war ein solcher Versuch länderübergreifender Verständigung. Diese Form der Meinungsbildung wurde durch die Übernahme des Grundgesetzes in den neuen Ländern unterbunden, sehr zum Nachteil der Betroffenen. Denn nach repräsentativen Umfragen hat die Bevölkerung ein völlig anderes Bild von einer Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung als die konservativ-liberalen Thinktanks und die Kommission von Franz Müntefering und Edmund Stoiber. Vor allem im Bildungsbereich können Dortmunder Schulforscher Jahr für Jahr belegen, dass sich die Befragten keineswegs mehr Wettbewerb wünschen, sondern mehr Übersichtlichkeit, mehr bundeseinheitliche Verbindlichkeit und eine Verständigung darüber, welche Bildung und Ausbildung Kindern und Jugendlichen eigentlich mitgegeben werden soll. Auch die Chancengleichheit und die einheitlichen Lebensverhältnisse sind im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung viel stärker verankert, als es die konservativ-liberalen Thinktanks wahrhaben wollen.
Während die geplante Wettbewerbsordnung den Bürgern in der Tradition des Obrigkeitsstaats von oben übergestülpt wird, gehörte zu einer echten Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung eine ernsthafte Überprüfung der bisherigen Institutionen. Diese vor allem haben zum politischen Vertrauensverlust gegenüber dem Föderalismus beigetragen. Dazu sind im Bildungsbereich die Konferenzen der Kultusminister (KMK) aber auch der Jugendminister zu zählen. Bevor diese Institutionen noch mehr undurchschaubare und damit unkontrollierbare Macht bekommen, ist eine Evaluierung dringend erforderlich.
Die KMK hat sich bereits im Dezember gegen Kritik gewappnet und angekündigt, mehr „ländereinheitliche“ Regelungen treffen zu wollen. Eine solche Praxis aber würde keineswegs die Parlamente stärken, denn die Beschlüsse von 16 Fachministern können von den Landtagen nur noch formal geprüft werden. Die Verlagerung der Macht stärkt nicht den demokratischen Parlamentarismus, sondern die Minister und ihre Graugremien. Bei der KMK kommt verschärfend hinzu, dass sie sich in den vergangenen Jahrzehnten mitnichten als Sachwalterin der Würde aller Kinder, im Sinne ihrer Chancengleichheit und Freizügigkeit, erwiesen hat. Internationale Vergleichsstudien haben immer wieder belegt, dass das deutsche Bildungssystem Kinder und Jugendliche nach sozialer Herkunft sortiert und damit entscheidend dazu beiträgt, diesen von Beginn an sehr unterschiedliche Lebens- und demokratische Teilhabechancen zuzuweisen. Diese Selektion hat die KMK bisher nicht korrigiert. Außerdem hat sie beim Zugang zu Ausbildung und Ausbildungsstätten negative Entwicklungen hingenommen: der Numerus clausus ist in fast allen Studiengängen und an fast allen Universitäten Alltag geworden; auf den Jahr für Jahr wachsenden Mangel an Lehrstellen reagieren die Kultusminister (außer in Baden-Württemberg) nicht mit qualifizierten schulischen Angeboten, sondern mit Aufbewahrungsmaßnahmen in der Berufsschule. Im Zuge der Föderalismusreform hat die KMK auch insofern versagt, als sie die nachgewiesenen Probleme armer und reicher Länder im Hinblick auf das Bildungswesen nicht zur Sprache brachte. Der geplante Wettbewerbsföderalismus liefert jetzt die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, die Kinder, endgültig dem Markt aus.
Paradebeispiel Schweiz
Immer wieder taucht bei den Modernisierungsverfechtern der Vergleich mit der Schweiz auf und zwar sowohl bei der Bildungs- als auch bei der Finanzierungsfrage. Nur haben die eifernden „Reformer“ eines übersehen: Die Modernisierung haben Bundesrat und Bundestag beschlossen, ohne die finanziellen Folgen vorab zu klären. Die Finanzreform wurde bewusst ausgeklammert und verschoben.
In der Schweiz dagegen standen bei allen Machtverschiebungen die Fragen der Finanzierung im Mittelpunkt. Das lässt in Deutschland den Verdacht aufkommen, dass über die so genannte Föderalismusreform letztlich der Hebel angesetzt wird, eine Neugliederung des Bundesstaates zu erzwingen. Das allerdings liefe auf einen bloßen Machtpoker hinaus, der von den hehren Zielen der Modernisierung, der Transparenz und Bürgernähe meilenweit entfernt ist: er wäre ein politisches Täuschungsmanöver.
Auch der ständige Hinweis auf den funktionierenden bildungspolitischen Föderalismus in der Schweiz greift entschieden zu kurz. Die Schweiz hat, sowohl im Interesse eines verantwortlichen Wettbewerbs als auch im Interesse ihrer Kinder und Jugendlichen, am 16. Dezember 2005 die Verfassung geändert und diese Änderung am 21. Mai 2006 durch Volksabstimmung angenommen. Dort heißt es jetzt in Artikel 61 a: Bund und Kantone „sorgen gemeinsam“ im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe Qualität und Durchlässigkeit „des Bildungsraums Schweiz“. Nach den neu formulierten Sozialzielen der Verfassung setzen sich Bund und Kantonen gemeinsam dafür ein, dass „Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen gefördert und in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Integration unterstützt werden.“
Ein solcher moderner Blick auf die Verfassung und die bildungspolitischen Notwendigkeiten fehlt in Deutschland bis heute. Und seine Legitimation durch die Bevölkerung erst recht.
[«1] Vgl. Verfassungskommission 1993, Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucksache 12/6000 vom 5.11.1993.
[«2] Der Redetext liegt d.Verf. vor: in einem kommentierenden Bericht „Revolution auf dem Juristentag“ verweist Heribert Prantl als einziger Journalist auf dieses Referat (Süddeutsche Zeitung vom 25./26. September 2004)
[«3] BVerfG, 2BvF 1/01 vom 24.10.2002.
[«4] Hubertus Müller-Groeling, Reform des Föderalismus, Kleine Festgabe für Otto Graf Lambsdorff, Berlin 2004, S.68 ff
[«5] Ebd., S.75/76
[«6] Ebd., S.88, „Privatisierungsgebot“ S. 90
[«7] Ebd., S.95 ff
[«8] Vgl. Jan Schneider, Angela Merkels Ersatzpolitik, in: „Blätter“ 7/2006, S. 785-788.
[«9] So Jörg Tauss von der SPD-Bundestagsfraktion am 23. Juni auf einer Veranstaltung des GEW-Hauptvorstands in Frankfurt.