Das neue Grundsatzprogramm der SPD, ein Programm mit beliebig vielen Grundsätzen.
Der Entwurf des Grundsatzprogramms versucht die Quadratur des Kreises: Er will die Richtigkeit des Regierungskurses unter Kanzler Schröder bestätigen, er will möglichst wenig Angriffspunkte zum Kurs der Großen Koalition liefern und er soll gleichzeitig Perspektiven für eine „soziale Demokratie“ aufzeigen. Der am 3. Dezember von der SPD-Programmkommission verabschiedete Entwurf bedient sich dabei der Methode Kurt Becks. Wie in den programmatischen Aussagen des neuen SPD-Vorsitzenden, lässt er bei jeder Aussage, die gemacht wird, ein oder manchmal sogar mehrere Hintertürchen offen, um wieder entwischen zu können, sobald man sich darauf einlässt.
Die SPD-Programmkommission hat am 3. Dezember den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms unter dem Titel „Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert“ verabschiedet. Im Herbst 2007 soll es auf einem ordentlichen Parteitag beschlossen und das Berliner Programm aus dem Jahre 1989 ablösen.
Ein Grundsatzprogramm einer Partei ist keine wissenschaftliche Analyse oder eine philosophische Abhandlung. Es soll in einfacher und markanter Sprache “eine klare, immer wieder erneuerte Analyse der Zeit“ liefern und aufzeigen, welche Ziele eine Partei anstrebt und mit welchen politischen Schritten, sie den bestehenden Zustand im Interesse der Mehrheit der Menschen verändern will, wenn sie an die politische Macht kommt oder Einfluss auf die politische Macht nimmt. Das Ganze muss dann in Sprache und Zuspitzung werblich dargestellt werden – für die Mitglieder einer Partei selbst und für eine möglichst große Zahl von Menschen, die diese Partei erreichen möchte. Insofern, darf man an das neue Grundsatzprogramm der SPD nicht beckmesserisch herangehen.
Die Zustandsbeschreibung bietet auffallend viele der Schröderschen Allgemeinplätze, so dass man sich fragt, ob die Autoren des Programm von Schröders politischer Biografie abgeschrieben haben oder ob umgekehrt Uwe-Karsten Heye der Ghostwriter des früheren Kanzlers den Programmentwurf abgekupfert hat. Jedenfalls liest man in beiden Texten die Phrasen von der „gewachsenen Verantwortung Deutschlands“, von der „Zeit umfassenden Wandels“, von den „konsequenten Reformen“, davon, dass sich „die Welt, Europa, unser eigenes Land … in schnellem Tempo“ verändern usw. usf. Da starrt die SPD wie das Kaninchen auf die Schlange auf die „demografische Entwicklung“. Fast wörtlich findet man bei Schröder wie im Programm die Behauptung: „Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und nach der Deutschen Einheit erleben wir den tiefsten geschichtlichen Umbruch seit der industriellen Revolution – politisch und wirtschaftlich, sozial und kulturell.“ Was hat der Zusammenbruch des Kommunismus und die Deutsche Einheit für wirtschaftliche, politische oder soziale Umbrüche gebracht, wird auch im Grundsatzprogramm nicht näher erläutert. Die angeblich „erneuerte Analyse der Zeit“ ist genauso flach, so leerformelhaft und ohne Bezug zur Wirklichkeit wie im Kanzlerbuch.
Wie Schröder sollte sich auch die SPD nicht wundern, wenn sie bei einer so oberflächlichen und wenig überzeugenden Zustandsbeschreibung, das gleiche Vermittlungsproblem für ihre politischen Ziele bekommt, wie das schon bei der alten Bundesregierung der Fall war.
Wie sollte es gelingen, die Menschen mitzunehmen, wenn ihre Wirklichkeitswahrnehmung eine völlig andere ist, als die, die dem Parteiprogramm zugrunde liegt?
Zwar spricht das Grundsatzprogramm davon, „dass wir die Ergebnisse unserer Politik unermüdlich überprüfen müssen“, eine solche Überprüfung findet aber an keiner Stelle des 65-seitigen Textes statt, im besten Fall – so dass es nicht auffällt – unter der Hand. Statt auch nur an einer Stelle darüber nachzudenken, warum die SPD seit der Regierungsübernahme von Rot-Grün (bis auf Rheinland-Pfalz) nur noch dramatisch verloren hat (in NRW sogar mit dem schlechtesten seit 50 Jahren), warum die SPD gerade mal noch fünf Ministerpräsidenten stellt (darunter drei mit einer Großen Koalition), warum die SPD in den letzten Jahren nahezu vierzig Prozent ihrer Mitglieder verloren hat und demnächst sogar von der CDU als mitgliederstärkste Partei überholt werden dürfte, dass die von der SPD mitgetragene Agenda-Politik nicht nur mit ihren Versprechen an der Wirklichkeit sondern auch an der Mehrheit der Wähler gescheitert ist, über alle diese Tatsachen findet sich im neuen Grundsatzprogramm kein einziger selbstprüfender Satz. Die SPD verweigert also nach wie vor eine kritische Aufarbeitung ihres Niedergangs. Wie soll da ein Neuanfang möglich werden?
Wer die Richtigkeit und den Erfolg der Agendapolitik in Frage stellt, wird mit dem Vorwurf des Populismus mundtot gemacht: „Die Populisten leugnen veränderte Realitäten und klammern sich an überkommene nationalstaatliche Instrumente. Sie gaukeln den Menschen vor, ein Ausstieg aus der Wirklichkeit unserer Zeit sei möglich – verbauen ihnen aber gerade dadurch die Zukunft.“
Jeder Versuch einer Rückgewinnung der zur WASG oder zur Linkspartei abgewanderten Wähler unterbleibt. „Wir überlassen die Resignation anderen“, heißt es ziemlich überheblich, statt besser einmal darüber nachzudenken, wie man die Resignierten wieder erreichen könnte. Wie die SPD mit einer derart schroffen Ausgrenzung nach „links“ und damit sowohl gegenüber vielen ihrer ehedem engagiertesten Mitglieder als auch gegenüber denjenigen, die Opfer der Agendapolitik waren und sind, eine eigene Mehrheit zurückgewinnen will oder sich als „linke Volkspartei“ etablieren will, bleibt ihr Geheimnis.
Das neue Grundsatzprogramm bedient sich der Methode Kurt Becks. Wie in den programmatischen Aussagen des neuen SPD-Vorsitzenden, lässt es bei jeder Aussage, die gemacht wird, ein oder manchmal sogar mehrere Hintertürchen offen, um wieder entwischen zu können, sobald man sich darauf einlässt. Die Widersprüche, die das Programm enthält, ergeben sich wohl auch daraus, dass die verschiedenen Programmteile erkennbar aus ganz unterschiedlichen Federn stammen.
Da werden etwa einleitend in typisch Schröderscher Manier die Zwänge der Globalisierung beschworen: „Der Wettbewerb wird unter den Bedingungen der Globalisierung schärfer, das Tempo der Innovationen steigt und die Vielfalt der Beschäftigungsformen nimmt zu.“ Etwas weiter scheint dann im Gegensatz dazu der „Theoretiker“ der Partei, Thomas Meyer, zu Wort zu kommen: „Das Zeitalter der Globalisierung ist Ergebnis menschlichen Handelns und es kann von Bürgerinnen und Bürgern in sozialer Verantwortung gestaltet werden.“
Gut gebrüllt Löwe, möchte man zurufen, doch wenn man dann danach sucht, wie und was an der Globalisierung gestaltet werden soll, dann wird die Verantwortung auf Europa verlagert: „Die Europäische Union ist unsere Antwort auf die Globalisierung. Freiheit und Demokratie, Wohlstand und Gerechtigkeit in Deutschland können wir im globalen Zeitalter nur in der Gemeinschaft mit unseren europäischen Partnern sichern. Auf europäischer und auf internationaler Ebene bündeln wir die Kräfte, um den globalen Märkten Regeln für mehr Gerechtigkeit, für soziale und ökologische Standards zu setzen.“
Was dann noch an zaghaften Aussagen folgt, kann man angesichts der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU getrost als auf die lange Bank geschoben betrachten. „Entscheidungen in internationalen Institutionen und Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation müssen transparenter (?) werden.“ (Liegen nicht die Konsequenzen der marktradikalen Politik dieser Institutionen etwa in Südamerika offen zu Tage?)
Oder: „Die Kernarbeitsnormen der ILO (der Internationalen Arbeitsorganisation) müssen bei Entscheidungen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, der Welthandelsorganisation und der Vereinten Nationen stärker berücksichtigt und anerkannt werden.“ (Wer, wenn nicht der frühere Superminister Clement, hätte denn dazu bisher die Möglichkeit gehabt?)
An anderer Stelle: „Das Ziel der Sozialdemokratie ist eine faire Globalisierung, die den Menschen Wohlstand und Entwicklung bringt. Dazu bedarf es fairer und wirksamer Regeln für die Finanz-, Rohstoff- und Warenmärkte sowie sozialer und ökologischer Standards für einen funktionierenden Wettbewerb. Wir brauchen bei den Vereinten Nationen einen Globalen Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik, in dem alle Regionen und auch die internationalen Handels- und Finanzinstitutionen hochrangig vertreten sind. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit im Welthandel.“
Ja, das brauchen wir, nur, wo findet sich in Deutschland, in Europa oder in der SPD irgend eine ernst zu nehmende politische Kraft, die diese hehren Ziele verfolgen würde?
Widersprüchlich und unvergoren sind auch die Aussagen zum „demografischen Wandel“, der doch den „sozialen Bundesstaat“ angeblich „unter erheblichen Erneuerungsdruck“ setzt:
„In vielen Teilen der Welt, auch in Deutschland, leben die Menschen länger. Seit den 60er Jahren ist die Lebenserwartung bei uns um zehn Jahre gestiegen“, heißt es im Programm. Dass die Lebenserwartung im letzten Jahrhundert um mehr als dreißig Jahre gestiegen ist und dass für die nächsten fünfzig Jahre die Experten des Statistischen Bundesamtes eine Alterung von nur noch sechs Jahren annehmen (Bosbach) wird allerdings nicht erwähnt. Schließlich braucht man die Angst davor, dass „mehr Menschen … im hohen Alter auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen“ seien und sich „gleichzeitig „immer weniger Männer und Frauen ihren Kinderwunsch“ erfüllten, um zu begründen, dass die demografische Entwicklung „zu drastischen Veränderungen in allen Bereichen des Alltagslebens, von der Arbeitswelt über die Sozialsysteme bis zur Leistungsfähigkeit ganzer Regionen“ führe und deshalb eben „Strukturreformen“ oder „konsequente Reformen“ unumgänglich seien. Dass die gegenwärtigen Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherungssysteme und schon gar nicht die Massenarbeitslosigkeit, von einer demografischen Entwicklung ausgelöst sind, wird schlicht ignoriert. Warum gerade die so genannten Strukturreformen oder konsequenten Reformen das von den SPD-Programmatikern an die Wand gemalte demografische Problem lösen sollten, wird auch im Grundsatzprogramm nicht erläutert. Da soll das Schüren von Zukunftsängsten die fehlenden ursächlichen Zusammenhänge überdecken.
Immerhin wird selbstkritisch eingestanden: „Die Gründe für die anhaltend niedrige Geburtenrate in Deutschland liegen in gesellschaftlicher Rückständigkeit und in politischen Versäumnissen.“ Und ganz im Gegensatz zu den Zwangsläufigkeiten, die „drastische Veränderungen“ verlangten, heißt es an anderer Stelle plötzlich: „Der demografische Wandel ist gestaltbar. Eine höhere Beschäftigungsquote von Frauen, aber auch von Älteren trägt dazu bei, dass sich die Einnahmebasis von Steuern und Sozialversicherungen verbessert. Steigender Wohlstand aufgrund eines Anstiegs der Produktivität und des Bruttoinlandsproduktes kann einen Beitrag zur Bewältigung der demographischen Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme leisten.“
Ist der demografische Alarmismus, also doch nur ein Fehlalarm, der die Menschen in die Irre führen soll, um etwa die Rente mit 67 zu akzeptieren?
Den Entwurf des Grundsatzprogramms darf man nicht in Bausch und Bogen kritisieren.
Auffallend ist wie häufig und an wie vielen Stellen die Gleichstellung der Geschlechter im Programmentwurf auftaucht. Die Frauen in der Programmkommission haben offenbar den Text gründlich nach gleichstellungspolitischen Aspekten durchgeackert.
Das wäre durchaus in Ordnung, wenn es nicht an einigen Stellen geradezu aufgesetzt wirkte.
Um das an einem Beispiel zu demonstrieren: Da heißt es beim Thema Gerechtigkeit: „Gerechte Politik garantiert gleiche Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen Gütern, Chancengleichheit, faire Einkommens- und Vermögensverteilung. Wenn dennoch Nachteile des einen oder anderen Geschlechtes vorhanden sind, muss der Staat seiner Verpflichtung nachkommen, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.“ Das hört sich geradezu so an als läge das Hauptproblem in Sachen Gerechtigkeit auf den (unbestreitbar auch vorhandenen) Defiziten bei der Gleichberechtigung und nicht etwa bei der geschlechterübergreifenden sozialen Ungerechtigkeit.
Die Passagen zur Entwicklungs-, zur Familien- oder Gleichstellungspolitik, vor allem das Kapitel zur Bildungspolitik (von der Vorschulerziehung bis zur Hochschule) enthalten viele richtige und zukunftsweisende Vorschläge. Die Emphase und die Euphorie, die die SPD neuerdings (wieder) in den Fluchtpunkt Bildung als Ausweg aus der wenig zufrieden stellenden Gegenwart investiert, stehen allerdings in der Gefahr, dass sie eine ´Lebenslüge` überdecken: nämlich dass mangelnde Bildung eben nicht (nur) Ursache für soziale und materielle Ungerechtigkeit und mangelnder Teilhabe sind, sondern gerade umgekehrt die Folge von Armut und sozialer Ungerechtigkeit.
Die unzureichenden Erfolge bei der Verwirklichung von Chancengleichheit, waren schon in der Hochphase sozialdemokratischen Bildungsreformpolitik in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Wesentlichen der Ursache geschuldet, dass die sozialökonomischen Voraussetzungen für die gerechte Wahrnehmung von Bildungschancen außer acht gelassen wurden, ja noch mehr, dass man umgekehrt sogar hoffte, die materielle Ungleichheit über die Bildungspolitik kompensieren zu können.
Das Ergebnis kennen wir: Es gibt nach fast vierzig Jahren Bildungsreform kaum ein sozial selektiveres Bildungssystem als das deutsche. Und da schaffen eben nicht nur ein (sogar noch umstrittenes) „längeres gemeinsames Lernen über die Grundschule hinaus“ oder die Ganztagsschule Abhilfe.
Als ein ähnlicher Befreiungsschlag aus dem gescheiterten „Umbau“ des Sozialstaates der Schröder-Ära ist wohl auch das neue Schlagwort vom „vorsorgenden Sozialstaat“ gedacht. In allen Passagen über die „soziale Demokratie“ oder über den „Sozialstaat“ ist kein Wort darüber zu lesen, welchen Vertrauensverlust in die sozialen Sicherungssysteme die zahllosen Rentenreformen bis zur Rente mit 67 oder die Arbeitsmarktreformen, vor allem mit Hartz IV bei den aktuell und potentiell Betroffenen ausgelöst haben.
Auch noch so markig ausgesprochene Kernsätze wie „ohne die Sozialversicherungen ist kein leistungsfähiger Sozialstaat in Deutschland denkbar“, können nicht überdecken, dass für die SPD die „bestehenden“ – genauer müsste man sagen, die inzwischen von Sozialdemokraten reformierten – sozialen Sicherungssysteme nur noch für „ihre existentiellen Aufgaben“ zur Verfügung stehen sollen.
Wie völlig selbstverständlich ist für die SPD die Rentenversicherung für eine künftige Sicherung des Lebensstandards im Alter nicht mehr ausreichend, sondern sie muss „durch Einkünfte aus betrieblicher Alterssicherung sowie freiwilliger, aber staatlich geförderter privater Vorsorge ergänzt werden.“ Von einer Revision der faktischen Rentenkürzung durch die Rente mit 67 und damit einem weiteren Abtragen der „tragenden Säule“ gesetzliche Rentenversicherung liest man im ganzen Text eher das Gegenteil, nämlich dass „der demografische Wandel ein verändertes Bild des Alters“ brauche. Der triviale Satz, dass „die Beitragsbezogenheit der Rente …(wenigstens) durch das Ziel der Armutsvermeidung ergänzt werden“ müsse, hat keine Mehrheit in der Programmkommission gefunden.
In der Rentenpolitik, wird somit der Agenda-Kurs konsequent fortgesetzt, wer keine betriebliche oder private Altersvorsorge hat oder sie sich nicht leisten kann, wird nur noch auf eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung hoffen können, also bedürftig sein. Es findet an keiner einzigen Stelle eine kritische Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile von Umlagefinanzierung und Kapitaldeckungsverfahren statt. Es wird einfach unterstellt, dass die privat (und eben nicht paritätisch) finanzierte Vorsorge, der Rettungsanker wäre. Und es wird selbstverständlich unterstellt, dass es sinnvoll sei, die mit dem großartigen Etikett „Eigenverantwortung“ propagierte Privatvorsorge zu subventionieren. Überall sollen Subventionen gestrichen werden, aber hier werden neue, milliardenschwere Subventionen eingeführt, um den Finanzdienstleistern ein milliardenschweres neues Geschäftsfeld zu erschließen.
Über die momentane Massenarbeitslosigkeit flüchtet sich die Leitidee des „vorsorgenden Sozialstaates“ hinweg, indem in einer fernen Zukunft Arbeitslosigkeit etwa durch „Qualifikation“ „bereits im Ansatz…verhindert“ werden soll. Von dieser Hoffnung in ferner Zukunft, können sich diejenigen, die heute auf den (nachsorgenden) Sozialstaat angewiesen sind, sprichwörtlich aber auch gar nichts kaufen.
Das „Leitbild“ vom vorsorgenden Sozialstaat verfolge „drei zentrale Ziele: Emanzipation, Teilhabe und Sicherheit.“ Dieser Sozialstaat wolle die Bürger nicht „bevormunden“.
Wollte der bisherige Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung die Bürger etwas anderes als die Absicherung der Risiken vor einem Verlust an Emanzipation und Teilhabe? Wollte der Sozialstaat vor seinem „Umbau“ wirklich bevormunden?
Ging der Sozialstaat, so wie er erkämpft wurde, nicht in viel stärkerem Maße von einer „Eigenverantwortlichkeit“ aus, als die Erfindung vom „vorsorgender Sozialstaat“. Dieser begreift sich ja als „aktivierender“ Sozialstaat, der von seinen Bürgern eine permanente Anpassung an den „Wandel“, die ständige Weiterqualifikation oder stete Bereitschaft zur Flexibilität verlangt. Und falls dann doch jemand aus dem Arbeitsprozess verdrängt wird, setzt dieser „aktivierende“ Sozialstaat eben einen die schiere Existenz sichernden ökonomischen Zwang zur Ausübung auch unzumutbarer Arbeit ein und wer das dann immer noch nicht schafft, den gibt er der Bedürftigkeit anheim. Wie weit ist dieser „vorsorgende Sozialstaat“ entfernt etwa von einem sozialen Bürgerrecht skandinavischer Prägung?
Auf die „nachsorgend“ zu bekämpfende Massenarbeitslosigkeit der Jetztzeit gibt das Grundsatzprogramm nur wenig Antworten, und wenn, dann die Angebote der vorherrschenden ökonomischen Lehre. Die wirtschaftspolitische Programmatik des Entwurfs lässt sich etwa so zusammenfassen: Wirtschaftspolitik besteht in Exportförderung, und deshalb in der Senkung der Lohnnebenkosten durch stärkere Steuerfinanzierung der Sozialkosten, sie sorgt sich um den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit, sie setzt industrie- und wissenschaftspolitische Prioritäten, sie stärkt industrielle Kerne und regionale Cluster und – vor allem – wartet und hofft sie auf den Wachstumsschub durch weltweites Wachstum.
Nach dem alten Goethe-Vers „wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ wird zwar fabuliert: „Aus Erfahrung wissen wir, dass Marktwirtschaften aus sich selbst heraus konjunkturelle Krisen nur langsam überwinden. Deshalb muss die Finanz- und Geldpolitik in Deutschland und Europa dabei helfen, die Konjunktur zu festigen und ein stetiges, kräftiges Wachstum zu fördern.“ Ja, die Autoren des Programms möchten sogar die „makroökonomische Koordinierung“ stärken (allerdings vor allem auf europäischer Ebene), doch nach einer makroökonomisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik, geschweige denn nach einer aktiven Konjunkturpolitik (die diesen Namen verdiente) sucht man vergebens. Da heißt es nur „Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik klammert sich nicht an die Erhaltung von Strukturen, die den veränderten Bedingungen nicht mehr gerecht werden“ und diese Wirtschaftspolitik kulminiert in dem uralten Satz aus dem Godesberger Programm vom Jahre 1959: „So viel Markt wie möglich, so viel politische Regulierung wie nötig.“
Sätze wie die folgenden hören sich gut an: „Eine hohe Binnennachfrage ist die Voraussetzung für mehr Beschäftigung. Wir setzen uns für Lohnsteigerungen ein, die sich an der Produktivität orientieren. Im unteren Einkommensbereich brauchen wir Mindestlöhne.“ Aber kaum irgendwo findet man eine substanzielle Aussage, wie man darüber hinaus die Hauptursache für das mangelnde Wachstum, nämlich die schwache Binnennachfrage angehen könnte.
Man könnte Zeile für Zeile dieses Grundsatzprogramms durchdeklinieren, jeder findet irgendeinen Satz an dem er sich festhalten kann. Die Linke in der SPD, wie die Netzwerker oder der Seeheimer Kreis, die Regierungsmitglieder genauso wie die Jusos. Alle können sie zufrieden sein, alles ist gut. Die Regierungsmitglieder können weiter machen, was sie für nötig halten, die Frauen dürfen sich über ihre gleichstellungspolitischen Formulierungen freuen und Andrea Nahles, darüber dass den Investmentfonds nicht – wie das Steinbrück wollte – auch noch eine positive Rolle für die wirtschaftliche Dynamik zugeschrieben wurde.
Über das neue Grundsatzprogramm sind alle sind froh, jeder in der SPD, wo er auch stehen mag, kann seine Versatzstücke aus dem Programm für seine Sonntagsreden holen. Das Programm wurde in der Presse fast einhellig gelobt. Selbst die Wadenbeißer von CDU und CSU konnten nicht ihre Beißerchen zeigen und sogar Westerwelle sieht Annäherungen der SPD zur FDP.
Es ist eben ein Grundsatzprogramm mit beliebig vielen Grundsätzen, aber eine sozialdemokratische Linie ist nicht erkennbar – „soziale Demokratie“ als Bauchladen der für jeden etwas bietet. Was die SPD außer Vertröstungen in die Zukunft politisch anpacken will, welche Projekte sie sich vornimmt, darüber erfährt man in diesem Grundsatzprogramm viel zu wenig. Die SPD wird mit diesem Programm noch weniger greifbar sein, von dem Programmentwurf ging nicht der geringste Anstoß für eine öffentliche Debatte aus. Er ist schlicht uninteressant – kein Wunder, dass die SPD in den Umfragen immer weiter absackt.