Nur alter Wein in neuen Schläuchen – Die großkoalitionären Rentenpläne auf dem Prüfstand
Auf keinem anderen Politikfeld hat die bloß noch geschäftsführend amtierende Koalitionsregierung von CDU, CSU und FDP ähnlich eklatant versagt wie in der Rentenpolitik und bei der Bekämpfung von Altersarmut: Weder wurde eine sog. Zuschuss- bzw. Lebensleistungsrente für „fleißige Geringverdiener“ (Ursula von der Leyen) eingeführt noch die äußerst reformbedürftige Erwerbsminderungs- oder die „Mütterrente“ für vor 1992 geborene Kinder aus Gerechtigkeitsgründen nachgebessert.
Umso notwendiger wäre ein renten- und sozialpolitischer Paradigmawechsel der Bundesregierung. Der vorläufige Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD bietet dafür allerdings keine Anhaltspunkte. Vielmehr wird das Thema „Armut“ in dem „Deutschlands Zukunft gestalten“ überschriebenen Dokument geradezu stiefmütterlich behandelt. Man gewinnt beim Lesen den Eindruck, als existiere Armut zwar in der sog. Dritten Welt, nicht aber in einem reichen Land wie der Bundesrepublik. Wenn doch, so wird suggeriert, hätten sie „Armutsmigranten“ – gemeint sind zuwandernde Bulgaren und Rumänen – importiert. (Künftig drohende) Altersarmut soll verhindert, die bestehende aber nicht energisch bekämpft, verringert oder beseitigt werden. Von Christoph Butterwegge.
Wie üblich werden Globalisierung und demografischer Wandel – die zwei Großen Erzählungen unserer Zeit – im Koalitionsvertrag als quasinatürliche Begründung für die vermeintliche Notwendigkeit herangezogen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, die Regelaltersgrenze zu erhöhen und die Altersrenten zu kürzen. Im schönsten Unternehmensberaterstil konstatieren CDU, CSU und SPD: „Unser Ziel ist eine moderne und wettbewerbsfähige Gesellschaft des langen Lebens und Arbeitens.“ (S. 71) Keine der früheren Entscheidungen unterschiedlicher Regierungskoalitionen, die das Rentenniveau gesenkt und Altersarmut hervorgebracht haben, wird in Frage gestellt.
Klientelpolitik, aber kein Rentenkonzept
Jeder Koalitionspartner bedient seine Wählerklientel, die Union mit der „Mütterrente“ ältere Frauen und die SPD meist gewerkschaftlich organisierte männliche Arbeitnehmer der Großbetriebe. Ein geschlossenes und in sich schlüssiges Rentenkonzept ist aber nicht zu erkennen. Wie an vielen anderen Stellen klingt der Koalitionsvertrag immer dann vage und verwaschen, wenn es um die Finanzierung der geplanten Reformmaßnahmen geht.
CDU und CSU haben sich mit ihrem Konzept einer verbesserten „Mütterrente“ für Frauen durchgesetzt, die vor dem 1. Januar 1992 Kinder geboren haben und bisher dafür nur je einen Entgeltpunkt (statt drei Entgeltpunkte für ab diesem Stichtag geborene Kinder) angerechnet erhielten. Die geplante Anrechnung eines zweiten Entgeltpunktes ab 1. Juli 2014, von der hauptsächlich ältere Frauen – größtenteils Unionswählerinnen – profitieren, kostet zunächst jährlich über 6,5 Mrd. Euro. Von der FAZ bis zur taz wird der Großen Koalition unterstellt, damit die jüngere Generation zu benachteiligen sowie die Rentenkasse „plündern“ und den Beitragszahlern (Versicherten und Arbeitgebern) „in die Tasche greifen“ zu wollen. In Wirklichkeit würde die Steuerfinanzierung von Rentenreformen gar nicht zu mehr, sondern zu weniger Verteilungsgerechtigkeit führen. Kritiker der Beitragsfinanzierung übersehen nämlich, dass die Arbeitgeber – also auch Selbstständige mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sowie indirekt Beamte und Freiberufler, die Aktionäre sind, noch immer annähernd 50 Prozent der Rentenversicherungsbeiträge zahlen, während ihr Anteil am Gesamtsteueraufkommen sehr viel geringer ist. Wer – zu Recht – bemängelt, dass Sozialversicherungsbeiträge degressiv wirken, also Besserverdienende weniger stark belasten als Geringverdiener, muss sich statt für den Einsatz von Steuermitteln für die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze einsetzen.
CDU und CSU haben mit ihrer Argumentation recht: Wenn die Erziehung von Kindern als späteren Beitragszahlern seit Konrad Adenauers umfassender Rentenreform 1957 ein Stützpfeiler der umlagefinanzierten Sozialversicherung ist, wie auch die SPD meint, handelt es sich bei der sog. Mütterrente keineswegs um eine „versicherungsfremde Leistung“, die aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren wäre. Dasselbe gilt wegen des für jeden Sozialversicherungszweig konstitutiven Solidarprinzips übrigens auch für die Aufstockung von Minirenten der Geringverdiener. Die gesetzliche Rentenversicherung ist nun einmal keine Privatversicherung, in der das Äquivalenzprinzip, wonach jeder Prämien- bzw. Beitragszahlung eines Versicherungsnehmers die entsprechende Leistung folgt, unbegrenzt gilt.
Auf Drängen der SPD können wird die Vertrauensschutzregelung zur Anhebung der Regelaltersgrenze erweitert: Besonders lang Versicherte (45 Beitragsjahre einschließlich Zeiten der Arbeitslosigkeit) können ab 1. Juli 2014 schon nach Vollendung des 63. Lebensjahres abschlagsfrei in Rente gehen. Es handelt sich dabei freilich um ein Danaergeschenk, denn das Zugangsalter, mit dem der abschlagsfreie Rentenzugang möglich ist, steigt parellel zur Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Renteneintrittsalters auf das vollendete 65. Lebensjahr. Dies bedeutet, dass spätestens im Jahr 2029 als Privileg für verhältnismäßig gut gestellte Rentenanwärter mit extrem langjähriger Versicherungsbiografie gilt, was bisher für alle möglich war: mit 65 eine Altersrente zu beziehen.
Reform der Erwerbsminderungsrente und solidarische Lebensleistungsrente für Geringverdiener
Bisher können Erwerbsgeminderte frühestens mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen. Für jeden Monat, den sie davor in den Ruhestand wechseln, wird ihnen seither die Rente um 0,3 Prozent pro Monat (maximal 10,8 Prozent) gekürzt. Wer vor dem 60. Lebensjahr eine Erwerbsminderungsrente in Anspruch nimmt, erhält dafür bestimmte Zeiten gutgeschrieben. Diese Zurechnungszeit richtet sich nach dem Durchschnitt der Beiträge, die man vorher eingezahlt hat. Es wird mithin so getan, als hätten die Betroffenen bis 60 weitergearbeitet. CDU, CSU und SPD wollen die Zurechnungszeit zum 1. Juli 2014 um zwei (von 60 auf 62) Jahre anheben, was zu einer geringfügigen Anhebung der Erwerbsminderungsrenten, ihre Bezieher in der Regel aber kaum aus der Armut führen würde. Denn auch für Erwerbsgeminderte steigt die Regelaltersgrenze schrittweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr. Um den Schutz bei Erwerbsminderung umfassend zu verbessern, müssten die Abschläge gestrichen und die Zurechnungszeit entsprechend verlängert werden.
Die in der Nacht vom 4. auf den 5. November 2012 im schwarz-gelben Koalitionsausschuss verabredete, aber nie realisierte „Lebensleistungsrente“ und die am 24. November 2012 vom SPD-Parteikonvent beschlossene „Solidarrente“ sind zur „solidarischen Lebensleistungsrente“ vereinigt worden. Das einzig Gute an der „solidarischen Lebensleistungsrente“, die voraussichtlich ab 2017 erhalten soll, wer 40 Jahre lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt und weniger als 30 Rentenentgeltpunkte erreicht hat, ist der Name. Denn in Zeiten diskontinuierlicher Erwerbsbiografien kommen nur wenig Geringverdiener/innen in den Genuss dieses Rentenzuschusses. Wer ihn erhält, wird angesichts der avisierten Höhe von ca. 850 Euro brutto jedoch nach offiziellen EU-Kriterien (die Armutsrisikoschwelle liegt für einen Alleinstehenden in Deutschland bei 980 Euro netto) weiterhin armutsgefährdet sein. Altersarmut ist jedoch kein Lohn für Lebensleistung, sondern eine bedrückende Zeiterscheinung, die bald zum Massenphänomen wird, wenn ihr die Bundesregierung nicht konsequenter entgegenwirkt.
Die „solidarische Lebensleistungsrente“ stellt eine Grundsicherung de luxe dar, errichtet eine Zwei-Klassen-Gesellschaft älterer Transferleistungsbezieher/innen und löst das Problem der Altersarmut insbesondere für Frauen, die an den Zugangsvoraussetzungen scheitern, keineswegs. Vielmehr hält eine Bedürftigkeitsprüfung und damit zum ersten Mal seit dem Niedergang der Weimarer Republik ein Element staatlicher Fürsorge wieder Einzug in das Sozialversicherungssystem. Damals trug dies – sicher unter anderen ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen als heute – zusammen mit der Kürzung von staatlichen Transferleistungen für Bedürftige und der „Aussteuerung“ von Arbeitslosen zur Zerschlagung des Sozialstaates wie der Demokratie bei.
Aus dem Desaster der rot-grünen Riester-Reform, die Banken, Versicherungskonzernen und Finanzdienstleistern hohe Profite bzw. Provisionen gebracht, die Altersvorsorge der abhängig Beschäftigten jedoch nicht sicherer, sondern teurer gemacht und verkompliziert hat, ziehen CDU, CSU und SPD keine Lehren. Indem sie die private Altersvorsorge zu einer Voraussetzung des späteren Bezugs ihrer „solidarischen Lebensleistungsrente“ erklären, machen sie das „Riestern“ für langjährige Geringverdiener/innen sogar durch die Hintertür zu einer Pflicht und eröffnen der Assekuranz damit ein weiteres Geschäftsfeld. Außerdem kündigt der Koalitionsvertrag an, dass die betriebliche, gleichfalls „kapitalgedeckte“ (genauer: vom Kapitalmarkt abhängige) Altersvorsorge gestärkt, d.h. womöglich gar wie die Riester-Verträge aus Steuermitteln gefördert werden soll. Das erhöht die Rendite von Geschäftemachern, Großaktionären und Millionären, nicht die Rente von Millionen abhängig Beschäftigten. Besser wäre es, die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken, ihr Leistungsniveau zu stabilisieren und die sog. Dämpfungs- bzw. Kürzungsfaktoren (Riester-, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) aus der Rentenanpassungsformel zu entfernen.
Das eigentliche Kardinalproblem im Bereich der Altersrenten packt die Große Koalition überhaupt nicht an: Seit der Jahrtausendwende ist das Rentenniveau vor Steuern von 53 Prozent des entsprechenden Arbeitseinkommens auf unter 50 Prozent gesunken und fällt weiter auf 43 Prozent im Jahr 2030, wenn diesem Trend nicht entgegengetreten wird. Auch zur schrittweisen Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre, welche die SPD im Bundestagswahlkampf auszusetzen versprach, findet sich im Koalitionsvertrag kein Wort. Da weniger als ein Drittel der Über-59-Jährigen und nur ein Zehntel der 64-Jährigen noch sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist, grenzt folgender Satz der Koalitionsvereinbarung an Zynismus: „Die Erfolgsgeschichte der steigenden Beteiligung Älterer am Erwerbsleben in Folge der Rentenreformen wollen wir fortschreiben.“ (S. 10) Für den Sozialstaat, die sog. Kleinen Leute und ihre Alterssicherung verheißt die 3. Große Koalition insgesamt also wenig Gutes.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt hat er das Buch „Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“ bei Campus herausgegeben. Gerade erscheint die 5., aktualisierte Auflage seines Standardwerkes „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ bei Springer VS.
Anmerkung: Der Artikel wurde auf Wunsch des Autors gegen eine überarbeitete Version ausgetauscht. Die Kommentare von Albrecht Müller und Jens Berger, die unter der alten Version standen, sind damit hinfällig.