„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland? Teil 3
In meiner Darstellung der Situation, die nach dem Mord an zwei Mitgliedern der neonazistischen Chrysi Avgi entstanden ist (NachdenkSeiten vom 4. November und 12. November) , mussten zwei Fragen offen bleiben. Zum einen gab es noch kein Bekennerschreiben, mit dem sich die Täter sichtbar gemacht hätten. Zum anderen gab es noch keine demoskopischen Umfragen, die erkennen ließen, ob die Partei aus ihrer „Opferrolle“ politisches Kapital schlagen kann. Von Niels Kadritzke.
Auf beide Fragen gibt es seit letztem Sonntag zumindest Elemente einer Antwort. Am 17. November wurde den Medien über eine Website (zougla.gr) ein 18-seitiges Bekennerschreiben zugespielt, in dem eine Gruppe namens „Machomenes Laikes Epanastatikes Dynamis“ (Kämpferische Revolutionäre Kräfte des Volkes) die Verantwortung für die bewaffnete Attacke auf das ChA-Büro im Athener Stadtteil Neo Heraklion übernimmt.
An dieser Erklärung sind vier Dinge auffällig.
Erstens benutzt die Gruppe einen ähnlichen Namen wie jene Organisation, die sich zu den Schüssen auf die Parteizentrale der Nea Dimokratia vom 14. Januar dieses Jahres bekannt hatte. Die damalige Aktion war allerdings eher symbolischer Art: Die Attacke auf das ND-Büro erfolgte in den frühen Morgenstunden, konnte also keine Menschenleben in Gefahr bringen. Auch deshalb hatte es im Januar Zweifel gegeben, ob es sich tatsächlich um eine „linksterroritische“ Aktion handelte – oder vielleicht um eine „Provokation“, die Sympathie für die Regierung Samaras erzeugen sollte.
Zweitens spielt die Erklärung der „Volksrevolutionäre“ mit allen Symbolen früherer terroristischer Gruppen, die fast schon klischeehaft anmuten: Die Veröffentlichung wurde auf den 17. November gelegt, das Datum des Athener Studentenaufstandsgegen die Junta-Herrschaft im Jahre 1973. Dieses Datum hatte sich auch die erste linksterroristische Gruppe zu eigen machte, die sie sich „Revolutionäre Organisation 17. September“ nannte und von 1975 bis zu ihrer Zerschlagung 2002 zahlreiche Attentate mit ingesamt 23 Todesopfern verübt hat. Deponiert wurde die Erklärung (auf einem USB-Stick) auf dem Gelände des alten Schießplatzes von Kaiseriani, also an dem Ort, an dem die deutsche Besatzungsmacht zahlreiche griechische Widerstandskämpfer exekutiert hat. Damit stellt sich die Gruppe in zwei Traditionslinien: die des Widerstands gegen die Militärjunta, und die des Widerstands gegen die Nazi-Okkupation Griechenlands (1941-1944).
Drittens ist die Erklärung eine Ansammlung aller erdenklichen linksterroristischen Begriffe und Slogans, die überaus authentisch klingt, aber auch ohne weiteres von einem mäßig intelligenten Kopf aus früheren „revolutionären“ Erklärungen ähnlicher Gruppen kompiliert sein könnte. Besonders auffällig ist die Berufung auf Symbole und Ereignisse des griechischen Bürgerkriegs. Dazu zwei Beispiele: Die „Chrysiavgites“ werden als „Nachkommen“ der alten Nazi-Kollaborateure charakterisiert, die man „ausrotten und in die neuen Brunnen des Typs Meligala werfen“ werde (über Meligala siehe meinen Beitrag vom 12. November). Eine weitere Anknüpfung an die Rhetorik der 1940er-Jahre ist die fast wörtliche Übernahme eines kommunistischen Slogans aus dem griechischen Bürgerkrieg, als die Kommunisten das Symbol von Hammer und Sichel rhetorisch zu konkreten Waffen umgeschmiedet haben. Jetzt heißt es in dem Text der „Volksrevolutionäre“ in einer fast genüsslich brutalen Sprache: „Öffnen wir ihnen (den Neonazis und ihren Helfern) die Köpfe mit dem Hammer, schneiden wir ihnen zur exemplarischen Bestrafung die Hände mit der Sichel ab.“ Wiederholt ist in der Eklärung auch vom „Abschaum der Chrysi Avgi“ die Rede, was derselbe Ausdruck (apovrasmata) ist, den die Neonazis regelmäßig für ihre linken Gegner benutzen. Das ist bezeichnend für die durchgehend „revanchistische“ Tonlage des Textes, der offen nach dem Muster „Auge um Auge“ argumentiert und demonstrativ die „historische“ Konfrontation des griechischen Bürgerkriegs fortschreibt.
Viertens ist auffällig, dass in dem Schreiben nicht ein einziges Detail erwähnt wird, das auf die Attacke von Neo Heraklion Bezug nimmt. In den meisten früheren Bekennerschreiben griechischer Terrorgruppen wurden solche Details erwähnt, um die „Glaubwürdigkeit“ der Verfasser zu unterstreichen.
Besonders der dritte und der vierte Punkt lassen Spielraum für den Verdacht, dass es sich bei dem Schreiben nicht unbedingt um ein „authentisches“ Dokument handeln muss. Manche Beobachter schließen nicht aus, dass die Erklärung von rhetorischen Trittbrettfahrern stammen könnte. Damit wäre allerdings noch nichts über die Täter gesagt, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in linksterroritischen Kreisen zu finden sind. Wobei offen ist, ob es sich um die Reste oder um eine neue Kombination von Gruppen handelt, die sich als zweite oder dritte Generation des originale „17. November“ begreifen. Aber die Öffentlichkeit wird nach diesem Bekennerschreiben noch aufmerksamer als zuvor beobachten, was die offiziellen Untersuchungen über den Fall ergeben.
Was die Wirkung der Mordtaten betrifft, so lassen die drei ersten Umfragen, die das Meinungsbild nach dem 1. November erfassen, eine beunruhigende Tendenz erkennen: Die Neonazis sind wieder im Aufwind. Währens sie unmittelbar nach dem Mord an dem linken Rapper Fissas, als der Täter ein ChA-Mitglied war, an Zustimmung eingebüßt hatten, legten sie im November wieder deutlich zu, ohne allerdings schon die Spitzenwerte vom September 2013 (zwischen 12 und 15 Prozent) zu erreichen. In zwei der Umfragen liegen sie knapp über, in einer knapp unter 10 Prozent.
In jedem Fall gehen die Wahlforscher – und die übrigen Parteien – davon aus, dass die Neonazis trotz ihrer Verfolgung als „kriminelle Vereinigung“ bei möglichen Wahlen mehr als zehn Prozent der Stimmen und damit deutlich über 20 Parlamentssitze gewinnen können. Dabei muss bis auf weiteres offen bleiben, ob dieser Trend durch die neu gewonnene „Opferrolle“ der Chrysi Avgi zu erklären ist, oder aber durch die Tatsache, dass die Parteiführung und die ChA-Parlamentarier seit dem Fissas-Mord „Kreide gefressen“ haben und offensichtlich auch ihre Gefolgschaft von provokatorischen Auftritten abhalten.