„Weimarer Verhältnisse“ in Griechenland
Nach der Ermordung von zwei Aktivisten der rechtsextremistischen Partei Chrysi Avgi (ChA) durch unbekannte Attentäter am letzten Freitag droht die innenpolitische Situation in Griechenland in eine neue Dimension zu eskalieren. In der griechischen Öffentlichkeit wird seit einiger Zeit der Vergleich mit den „Weimarer Verhältnissen“ gezogen. Das war bislang eine relativ abgehobene „Historikerdebatte“. Jetzt wird die Angst real. „Zwölf Kugeln gegen die Demokratie“ titelt die Athener Tageszeitung Ta Nea. In anderen Blättern werden alle möglichen Theorien über die Täter erörtert, die sich meist an der cui bono-Frage orientieren. Jedoch ist es zunächst durchaus unklar, ob die Neonazis von der Tatsache profitieren werden, dass sie jetzt ihre eigenen „Opfer“ vorweisen können.
Die erste Reaktion aller Parteien und politischen Kräfte war eine einhellige Verurteilung der Mordtat, gespeist aus dem Erschrecken über die möglichen Folgen.
Hier eine Analyse, die lange vor dem Anschlag vom Freitag begonnen wurde. Sie will aufzeigen, was das Phänomen der Neonazi-Partei für die griechische Politik bedeutet, und vor welchen Problemen und Dilemmata sich die Regierung – und die Oppositionsparteien – bei ihrem viel zu spät erklärten Kampf gegen die ChA stehen. Von Niels Kadritzke
Der viel zu späte und zögerliche Kampf gegen den griechischen Rechtsextremismus
Die Entscheidung der griechischen Justizbehörden, eine strafrechtliche Verfolgung der griechischen Neonazis in die Wege zu leiten, war längst überfällig. Aber mit der Untersuchungshaft, die gegen führende Kader der Partei namens „Goldene Morgenröte“ (griechisch: Chrysi Avgi, abgekürzt: ChA) angeordnet wurde, hat die Auseinandersetzung mit dem griechischen Rechtsextremismus erst begonnen.
Dieser Kampf wird nicht leicht zu gewinnen sein, weder juristisch noch politisch. Auf juristische Ebene besteht die Gefahr, dass ein fehlerhaftes und überhastetes Verfahren den Neonazis am Ende in die Hände spielt. Und auf politischer Ebene ist durchaus offen, ob die strafrechtliche Verfolgung der Parteiführer – und die inzwischen beschlossene Unterbrechung der finanziellen Zuschüsse aus der Staatskasse – die Anziehungskraft des ChA auf die Wählerinnen und Wähler entscheidend schwächen kann. Die ersten Meinungsumfragen nach dem Schlag gegen die Partei wecken in dieser Hinsicht starke Zweifel. Zudem stellt sich die Frage, welche Partei die ChA-Wähler, die nach dem Mord womöglich abgeschreckt werden, für sich gewinnen kann und was das für die künftige Regierbarkeit des Landes bedeuten würde.
Fragen zur politischen Bedeutung und der Besonderheiten der griechischen Neonazis
Im Folgenden will ich versuchen, die politische Situation, die in Griechenland seit der Ermordung des linken Aktivisten Fissas durch ein ChA-Mitglied entstanden ist, entlang einiger systematischer Fragen darzustellen. Über die politische Bedeutung und die Besonderheiten der „Goldenen Morgenröte“ werde ich im jeweiligen Kontext eingehen. Vorweg sei nur gesagt, dass eine jederzeit gewaltbereite Neonazi-Bewegung in einem Land, das die Okkupation durch die deutschen Nazis in ihrer bittersten Form erlebt hat, nur bedingt mit rechtsradikalen bzw. rechtspopulistischen Partei in anderen Krisenländern (wie Frankreich, Niederlande, Österreich) zu vergleichen ist.
Das „Phänomen Chrysi Avgi“ kann man nur zu verstehen, wenn man drei spezifisch griechische Faktoren in Betracht zieht. Erstens die Auswirkungen der Austeritätspolitik und der tiefen ökonomischen Krise auf die Gesellschaft. Zweitens der Zustrom von Migranten über die türkisch-griechische Grenze, die aufgrund der Asylpolitik der EU („Dublin 2“-Regelungen) in Griechenland „hängenbleiben“ und zu einer Slumbildung in den Stadtzentren beitragen, die der fremdenfeindlichen und rassistischen Agitation der Neonazis in die Hände spielt. Ein dritter wichtiger Faktor ist die historische „Färbung“ der politischen Kultur – und damit des Alltagsbewusstseins breiter Schichten – durch einen ausgeprägten griechischen „Nationalismus“, der sich in der Rhetorik und Praxis der ChA-Protagonisten allerdings auf besonders extreme Weise äußert.
Vorweg noch eine Leseempfehlung: Detaillierte Informationen über Aktivitäten und Rhetorik des ChA bieten die Berichte des griechischen Journalisten Jiannis Papadopoulos, die in der deutschen Ausgabe der Le Monde diplomatique (Juli 2912 und Juni 2013) erschienen sind.
Frage 1: Was war der Anlass zu dem Schlag der griechischen Behörden gegen die Führungsgruppe der Neonazi-Partei Chrysi Avgi?
Der unmittelbare Auslöser war die Ermordung des linken Aktivisten und Musikers Pavlos Fissas. Der bekannte Rapper wurde am späten Abend des 17. September in einem Stadtteil von Piräus von einem ChA- Mitglied erstochen. Zuvor war er vor einem Lokal von einer etwa 15-köpfigen Gruppe von „Schwarzhemden“ attackiert worden. Die zu dem Lokal beorderten Polizisten griffen nicht ein, weil „die Angreifer zu zahlreich waren“, wie sie zu ihrer Verteidigung anführten.
Der geständige Täter, der LKW-Gahrer Giorgos Roupakiás, wurde noch am Tatort festgenommen. Die von ihm zunächst geleugnete Mitgliedschaft in der Neonazi-Partei steht inzwischen außer Zweifel. Die Auswertung der Mobile-Verbindungen am fraglichen Abend – die auf Anordnung der Staatsanwaltschaft ermöglicht wurde – ergab starke Indizien dafür, dass Roupakiás zusammen mit anderen ChA-Anhängern über die lokale Parteiorganisation für die Aktion gegen Fissas mobilisiert wurde. Auch der Verteidiger von Roupakiás hat inzwischen bestätigt, dass sein Mandat unmittelbar vor der Tat mit dem Leiter der örtlichen „Zelle“ telefoniert hat. (Kathimerini vom 15. Oktober).
Diese mutmaßliche „Befehlskette“ ist zweifellos ein hinreichender Grund, auch führende ChA-Funktionäre der Unterorganisation von Nikaia (dem betreffenden Stadtviertel) zu verhaften. Sie reichte aber nicht als juristische Begründung für den überraschenden Schlag gegen die nationale Parteiführung, den die Generalstaatsanwaltschaft zehn Tage nach dem Tod von Fissas angeordnet hat. Am Morgen des 28. September wurden 32 Funktionäre der ChA, vorweg „Generalsekretär“ Nikos Michaloliákos und sein Stellvertreter Christos Pappás verhaftet, die beide auch im griechischen Parlament, der Vouli sitzen. Insgesamt wurden sechs Abgeordnete festgenommen, die ein Drittel der ChA-Fraktion ausmachen; drei von ihnen wurden allerdings vier Tage später – unter Auflagen – aus der Untersuchungshaft entlassen. Begründet waren die Haftbefehle mit Artikel 187 des griechischen Strafgesetzbuches, der sich auf die Gründung und Betätigung in einer „kriminellen Vereinigung“ bezieht.
2. Was macht die Neonazi-Partei für die Staatsanwaltschaft zu einer „kriminellen Vereinigung“?
In dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft waren außer dem Mord an Fissas noch weitere zehn Fälle angeführt, in denen ChA-Mitglieder verurteilt wurden oder noch vor Gericht stehen (wegen Mord, Mordversuch, Bandendiebstahl, Attacken mit Explosivstoffen und anderen Vergehen). Über diese gerichtsbekannten Fälle hinaus verweist das Dokument auf weitere 21 Aktionen, mit denen die „kriminelle Vereinigung“ gezeigt habe, dass sie ihre Ziele mit gewaltsamen Methoden durchsetzen will. Ein weiterer Schlüsselsatz ist die Feststellung, die physische Gewalt gegen alle als „Untermenschen“ definierten Personengruppen sei für die Partei nicht Mittel zum Zweck, sondern der Inhalt ihrer „Botschaft“.
Entscheidend für die Zurechnung der angeführten Straftaten zu der Gesamtorganisation Chrysi Avgi bzw. zu deren exekutiver Spitze ist in den Augen der Staatsanwaltschaft das Statut der Partei, das dem „Generalsekretär“ Michaloliakos „gemäß des Hitler’schen Führerprinzips“ die absolute Macht zuschreibt. Ob diese zentrale Begründungsfigur von den Gerichten als beweiskräftig akzeptiert wird, ist allerdings zweifelhaft. Juristische Experten gehen davon aus, dass das Funktionieren des Führerprinzips jeweils im Einzelfall nachzuweisen wäre. Das dürfte etwa im Fall Fissas schwierig werden. Hier ist eine Befehlskette bis zum „Führer“ Michaloliakos bislang nicht belegbar; alle Telefonverbindungen „nach oben“ kamen erst nach dem Zeitpunkt der Mordtat zustande.
3. Wenn die Serie der kriminellen Handlungen von ChA-Aktivisten die „prinzipielle Gewalttätigkeit“ der Partei belegt, die diese zu einer „kriminellen Vereinigung“ macht, warum wurde die Partei nicht schon früher strafrechtlich verfolgt?
Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir uns eines klarmachen: Es gibt in Griechenland kein Verfahren für ein Parteiverbot, wie es in Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorgesehen ist. Ebenso wenig gibt es ein Pendant zum Bundesverfassungsgericht, das nach dem Grundgesetz über die „Verfassungsfeindlichkeit“ einer Partei zu befinden hat (§ 13 in Verbindung mit § 43ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Mehr noch: Der Begriff „verfassungsfeindlich“ ist in Griechenland politisch irrelevant, weshalb zum Beispiel nicht als anstößig gilt, wenn Abgeordnete der orthodoxen Kommunisten (KKE) im Parlament erklären, dass sie die griechische Verfassung einer bürgerlichen parlamentarischen Demokratie nicht als „die ihre“ ansehen, weil sie die Diktatur des Proletariats anstreben.
Das heißt für den Fall der Chrys Avgi: Deren offen rassistischen Bekundungen und Aktionen, die in Deutschland für ein Dutzend Parteiverbotsverfahren ausgereicht hätten, können nach griechischem Recht im Grunde nur Einzeltätern zugerechnet und als Einzeldelikte verfolgt werden. Eine verbotsähnliche Wirkung ist juristisch also nur zu erzielen, indem man die Führung einer verfassungsfeindlichen Partei zur „kriminellen Vereinigung“ erklärt.
Warum das nicht schon viel früher geschehen ist, wird in der griechischen Öffentlichkeit seit dem 28. September intensiv und kontrovers diskutiert. Zumal man inzwischen weiß, dass die Aktivitäten der Neonazis vom griechischen Geheimdienst EYP seit langem beobachtet und dokumentiert werden. Nach Presseberichten hat der EYP bereits 2010 eine eigene Abteilung für die Beobachtung des ChA eingerichtet, die auch das Material über die illegalen Aktivitäten von Parteimitgliedern (die Rede ist von Waffenhandel, Schutzgelderpressungen und anderen „Unterwelt“- Aktivitäten) gesammelt hat, das jetzt den Anklageverfahren zugrunde gelegt wird.
Die Regierung und ihre Sicherheitsapparate wussten also über die Tätigkeiten – und die Gefährlichkeit – der Neonazis umfänglich Bescheid. Schließlich war ja vielfach, auch in den meisten Medien dokumentiert, dass die Partei eine paramilitärisch uniformierte Truppe (Militärstiefel und schwarze Blusen mit Aufschrift Chrysi Avgi) unterhält, die nicht nur nach der SA benannt ist (griechisch: tágmata efódou), sondern auch nach Art ihres historischen Vorbilds operiert. Auf das Konto dieser Stoßtrupps gingen zahlreiche Angriffe auf „Feinde“ wie etwa linke Gewerkschafter und Migranten, Überfälle auf Läden von Ausländern, oder auch die Besetzung der Ambulanz eines Krankenhauses mit dem Ziel, die Behandlung von „Ausländern ohne Papiere“ zu verhindern.
In mehreren Fällen maßte sich diese griechische SA in aller Öffentlichkeit sogar Hoheitsfunktionen an: In Rafina und in Messolonghi kontrollierten die Schwarzhemden – angeführt von drei Parlamentsabgeordneten – die Ausweispapiere von schwarzen Migranten, die sich in Griechenland als Straßenhändler durchschlagen. Wenn einer von ihnen keine Gewerbelizenz vorzeigen konnte oder wollte, wurde er verprügelt und sein Verkaufsstand demoliert. Die Polizei griff bei diesen demonstrativen Aktionen nicht ein. Diese generelle Zurückhaltung der Ordnungskräfte erzeugte bei den Neonazis das Gefühl der Unantastbarkeit, was wiederum ihre Machtphantasien beflügelte
In einigen Fällen, die jetzt von der Staatsanwaltschaft als Beleg für den kriminellen Charakter der ChA-Führer angeführt werden, ist es nicht einmal zu einer Anklageerhebung gekommen. Der gut vernetzte Journalist Giorgos Papachristou erhielt von einer hochrangigen EYP-Quelle auf seine Frage, warum der Staat trotz seiner umfassenden „Erkenntnisse“ nicht schon früher gegen die griechischen Neonazis tätig wurde, eine doppelte Antwort: „Weil sie zu einer legalen Partei gehören, und weil wir keine entsprechenden Anweisungen bekamen.“ (Ta Nea vom 30. September).
An dieser Auskunft sind beide Punkte interessant. Der „legale“ Status der Partei war sehr viel schwerer in Frage zu stellen, nachdem diese im Mai 2012 ins griechische Parlament eingezogen war. Seitdem genossen 21 bzw. (nach den Wahlen vom Juni 2012) 18 ChA-Abgeordnete nicht nur alle Privilegien (samt der stattlichen Gehälter) von „Volksvertretern“, sondern auch eine parlamentarische Immunität, die nach griechischer „Tradition“ nur in extremen Ausnahmefällen aufgehoben wird. Dadurch fühlte sich die gesamte Parteispitze, die sich hinter ihrem „Führer“ Michaloliakos die besten Listenplätze gesichert hatte, bei ihren propagandistischen Reden im Parlament wie bei ihren provokatorischen Aktionen auf der Straße unverwundbar gegenüber rechtlichen Sanktionen. Auf der anderen Seite hatten die staatlichen “Sicherheitsorgane“, die seit 2010 die Neonazis observiert und ihre Telefone abgehört hatten, den Parteibossen jetzt die Leibwächter zu stellen. In der Presse wurde ein EYP-Vertreter mit dem Satz zitiert: „Bis jetzt haben wir sie überwacht, jetzt müssen wir sie bewachen.“ (Ta Nea vom 1. Oktober)
Der neue parlamentarische Status der Parteispitze ist aber nur der eine Teil der Erklärung, der wichtigere zweite Teil lautet: Es gab keine Anweisungen an die Sicherheitsorgane. Dies ist, wie der britische Griechenland-Beobachter Kevin Featherstone zu Recht bemerkt, „die verstörendste Facette an dem ganzen Vorgang“. Für Featherstone ist es ein unerklärliches Paradox, dass die Behörden „viel Material“ gegen die Neonazis angesammelt haben, ohne „etwas damit zu unternehmen“. (Kathimerini vom 8. Oktober).
4. Warum zeigte die Regierung an der Verfolgung der Neonazis lange Zeit kein Interesse? Welche Rolle spielten dabei die demoskopischen Umfragen, die der ChA ein wachsendes Wählerpotential (von bis zu 15 Prozent) bescheinigt haben?
Nach dem übereinstimmenden Befund vieler Journalisten (aus unterschiedlichen politischen Lagern) erklärt sich die „Beißhemmung“ der Regierung aus dem politischen Dilemma der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) und der Taktik, die Regierungschef Samaras und seine Berater angesichts dieser Klemme einschlugen. Seit der Regierungsbildung im Juni 2012 – und verstärkt seit der Reduzierung der Koalition auf das Duo von ND und Pasok durch das Ausscheiden der linkssozialdemokratischen Dimar im Gefolge der ERT-Krise (siehe dazu meine Darstellung vom 19. Juni und 21. Juni) – stand die ND-Führung vor einem großen Problem: Die Umfragen zeigten, dass ihr Wählerpotential in der Mitte des politischen Spektrums ausgeschöpft ist, während am rechten Rand die Chrysi Avgi immer stärker wurde. Das bedeutete, dass die ND sich keinen entscheidenden Vorsprung vor der linken Syriza verschaffen konnte, mit dem sie sich seit Sommer 2012 ein demoskopisches „Kopf-an-Kopf-Rennen“ lieferte.
Aber selbst wenn die ND sich als stärkste Partei behaupten sollte, könnte sie es niemals schaffen, den nach dem griechischen Wahlrecht erforderlichen Prozentsatz für eine eigenständige Parlamentsmehrheit zu erringen – es sei denn, sie würde einen wesentlichen Teil der Wähler zurückgewinnen, die nach Auskunft der Demoskopen in wachsenden Scharen zu der rechtsextremistischen Protestpartei abgewandert waren. Folglich galt es, diese zu den Neonazis übergelaufenen Wähler schonend zu behandeln. So setzte sich in den Diskussionen über die Frage, ob man die rechtsextremistische „Konkurrenz“ politisch oder juristisch bekämpfen solle, in den Beraterzirkeln von Samaras die Einschätzung durch, die von einem gut informierten Journalisten so beschrieben wird: „Eine frontale Konfrontation würde uns jene Wähler total entfremden, die ChA gewählt haben und die wir zur ND zurückholen wollen“. (Giorgos Terzis in der Kathimerini vom 6. Oktober). Dieser Ansicht, dass man die alten Wähler nicht zurückholen kann, wenn man sie als Anhänger einer kriminellen Bande „denunziert“, neigte auch Justizminister Charalambos Athanassiou zu. Kein Wunder, dass die (weisungsgebundene) Generalstaatsanwaltschaft nicht auf die Idee kam, aus den strafbaren Einzelaktivitäten der Neonazis den Anfangsverdacht auf eine „kriminelle Vereinigung“ zu begründen.
5. Gibt es in Griechenland keinen strafrechtlichen Tatbestand wie „rassistische Hetze“, der ein Vorgehen gegen die Neonazis, einschließlich ihrer Parlamentsabgeordneten, ermöglicht hätte?
Anders als die meisten deutschen Medien melden, gibt es ein griechisches Anti-Rassismus-Gesetz bereits seit 1978. Und der Schutz vor rassistischer Verfolgung ist sogar in Artikel 5 der griechischen Verfassung verankert. Demnach genießen nicht nur griechische Staatsbürger, sondern alle Personen, die sich im Lande aufhalten, „ohne Unterschied der Nationalität, der Rasse oder Sprache und religiösen oder politischen Anschauungen den unbedingten Schutz ihres Lebens, ihrer Ehre und ihrer Freiheit“. Gegen diesen Verfassungsartikel hat die ChA seit ihrer Gründung systematisch und ständig verstoßen, sowohl verbal in ihrer Propaganda, auch im Parlament, als auch in ihren täglichen Aktionen auf den Straßen.
Umgesetzt werden sollte die Schutzgarantie der Verfassung durch ein Anti-Rassismus-Gesetz, das allerdings kaum angewendet wurde. Das lag vor allem an der Passivität der Justizorgane, aber auch an schwammigen Formulierungen des Gesetzestextes. Auf die Untätigkeit der Justiz haben griechische NGOs (organisiert im „Netzwerk für die Dokumentation rassistischer Gewaltakte“) seit langem aufmerksam gemacht. Wobei das Netzwerk bei jedem vierten Angriff auf Ausländer eine direkte Beteiligung des ChA nachweisen kann. Auch im jüngsten Jahresbericht des staatlichen Ombudsmanns vom 25. September 2013 wurden für das vergangene Jahr 154 rassistische Übergriffe dokumentiert. In diesem Bericht wird explizit kritisiert, dass die Polizei, die Justiz und die Regierung nicht entschieden genug gegen solche Verbrechen vorgingen. Damit würden „der soziale Zusammenhalt, die Werte und die Fundamente des Rechtsstaates“ untergraben.
Nach Bildung der Drei-Parteien-Koalition unter ND-Parteichef Samaras im Juni 2012 hat vor allem Justizminister Roumpakiotis, der von der linkssozialdemokratischen Dimar nominiert worden war, auf eine Novellierung des Antirassismus- Gesetzes gedrängt. Die Intention wurde auch von der Pasok unterstützt, die beiden kleinen Koalitionspartner scheiterten aber an der harten Linie der ND-Führung, die aus taktischen Gründen (die ich oben dargestellt habe) keine schärferen Kurs gegen die Rassisten fahren wollte.
Roumpakiotis hat deshalb im Mai 2013 aus Protest sein Ministeramt aufgegeben (noch bevor die Dimar die Koalition verließ) und ist heute der Kronzeuge für das fatale Zögern der Samaras-Regierung. In dem Roumpakiotis-Entwurf war unter anderem vorgesehen:
- den Straftatbestand der rassistischen Hetze zu erweitern und zu präzisieren, sodass er auch die bloße „Aufforderung“ zu Gewalttaten gegen Gruppen oder Menschen umfasst, die „nach ihrer Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder sexuellen Orientierung bestimmt werden“;
- besondere Bestimmungen für führende Parteipolitiker nach wiederholten Verurteilungen auch die staatliche Finanzierung ihrer Partei entzogen werden soll;
- Abgeordnete, die im Parlament zu Gewalttaten gegen bestimmte Gruppen oder Personen ermuntern oder aufrufen, oder die faschistische Symbole (also zum Beispiel den „Hitlergruß“ zeigen) oder Nazi-Kriegsverbrechen verherrlichen, sollten automatisch die parlamentarische Immunität verlieren; sollten sie anschließend von einem ordentlichen Gericht verurteilt werden, hätten sie das Recht verloren, sich erneut für einen Parlamentssitz zu bewerben;
- die Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust unter Strafe zu stellen.
Diese und andere Bestimmungen eines verschärften Rassismus-Gesetzes wären unmittelbar auf ChA-Abgeordnete anwendbar gewesen, die in der Vouli zum Beispiel den Arm zum Hitlergruß erhoben, oder die muslimischen Abgeordneten beleidigten oder Migranten als „Untermenschen“ bezeichneten.
Das Scheitern seines Vorhabens erklärte Roumpakiotis gegenüber dem TV-Sender Skai wie folgt: Die ND und Samaras hätten die politische Atmosphäre nicht „polarisieren wollen“, um den ChA-Wählern den Rückweg ins konservative Lager „offen zu halten“.
Es ist von makabrer Ironie, dass die Regierung nach dem Fissas-Mord einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der fast alle wichtigen Punkte des Roumpakiotis-Vorschlags übernahm (Kathimerini vom 1. November). Das Gesetz soll vom neuen Justizminister Athanassiou noch diese Woche dem Parlament zugeleitet und zügig verabschiedet werden. Roumpakiotis hat diesen Gesinnungswandel mit der bitteren Bemerkung kommentiert, es habe wohl erst ein Grieche ermordet werden müssen, ehe die ND-Führung sich zu Aktionen gegen den Rassismus aufraffe (das erste Todesopfer der Neonazi-Gewalt war nebenbei bemerkt im August 2012 ein Iraner).
6. Was ist von der Behauptung zu halten, die vor dem Fissas-Mord zuweilen aus linken Kreisen zu hören war: Dass Samaras und die ND die Neonazis deshalb geschont hätten, weil bei einem ungünstigen Ausgang der nächsten Wahlen der Fall eintreten könnte, dass eine Linksregierung nur noch durch eine Koalition mit der ChA zu verhindern wäre.
Diese Vermutung ist weder durch Fakten noch durch Äußerungen aus maßgeblichen ND-Kreisen zu belegen. Sie ist auch inhaltlich ziemlich abwegig. Einzig der ND-Abgeordnete und ehemalige Innenminister Vyron Polydoras hat diese Idee im Juli in einem Rundfunkinterview vorgebracht, als er mit Hinweis auf die „eine Million Wähler“, die er der ChA zutraute, eine „Zusammenarbeit“ im Rahmen einer „nationalen Verteidigungsfront“ befürwortete. Aber Polydoras steht mit dieser Meinung allein. Kein verantwortlicher ND-Politiker – und sei er noch so rechts und nationalistisch – könnte im Ernst auf eine Bündnisstrategie setzen, die das Land innerhalb der EU und der internationalen Gemeinschaft völlig isolieren würde. Zudem gäbe es für eine solche „Allianz“ bei beiden mutmaßlichen Partnern keinerlei Basis: Die ND kooperiert seit der Regierung Samaras mit der Troika und ist damit auf das „Memorandum“ (Sparprogramm) festgelegt; die Neonazis bekämpfen diese Politik als „nationalen Ausverkauf“ und machen der ND genau mit dieser Politik einen Teil ihrer Wähler abspenstig. Für die ND ist die EU-Zugehörigkeit des Landes eine Selbstverständlichkeit, der Verbleib in der Eurozone ein zentrales Ziel; für ChA ist beides ein Verrat am höchsten Wert der „nationalen Souveränität“.
Im Übrigen geht der Verdacht, die ND bereite sich auf eine „heimliche Allianz“ mit den Neonazis vor, nicht gut mit dem zentralen Vorwurf zusammen, den die griechische Linke gegen die ND-Führung vorbringt. Sowohl die Syriza als auch die KKE beschuldigen Samaras und vor allem dessen „Vordenker“ Lazaridis, eine „Theorie der beiden Extreme“ zu propagieren. Damit werde versucht, die Linke mit der extremen Rechten gleichzusetzen und aus dem sogenannten „Verfassungsbogen“ der demokratischen Kräfte auszugrenzen. Diese „Theorie der beiden Extreme“ – die innerhalb der ND übrigens sehr umstritten ist – schützt die konservative Partei nachgerade vor dem Verdacht, sie werde am Ende mit den einen Extremisten koalieren, um die „Machtergreifung“ der anderen Extremisten zu verhindern.
7. Was war für die Regierung der ausschlaggebende Grund, ihre „Schontaktik“ gegenüber den Neonazis aufzugeben? Gab es außer dem Mord an Fissas noch andere Ereignisse, die den Staat und die Regierung Samaras zum Handeln veranlasst haben?
Nach übereinstimmenden Medienberichten (Vima, Ta Nea, Kathimerini, Efimerida ton Syntakton) sorgten schon vor dem Fissas-Mord zwei Ereignisse in der Regierung für höchste Unruhe und veranlassten Innenminister Nikos Déndias, auf eine härtere Gangart gegen die Neonazis zu drängen. Das erste Ereignis war der Überfall eines ChA-Rollkommandos auf eine Gruppe von KKE-Mitgliedern in Perama (nördlich von Piräus) am 12. September.
An dem Überfall in Perama waren etwa 50 Neonazis beteiligt. Sie attackierten eine Gruppe von Aktivisten der kommunistischen Gewerkschaft PAME, die nachts Streikaufrufe an Hauswände klebten, mit Holzlatten und Eisenstangen. Sechs der Gewerkschafter wurden zum Teil schwer verletzt. Laut Zeugenaussagen rief der ChA-Anführer: „Wir sind von Chrysi Avgi, hier haben wir das Kommando.“ Dann drohte er den linken Gewerkschaftern, dass man in Piräus noch „historische Rechnungen“ offen habe. Das ist als Hinweis auf den griechischen Bürgerkrieg zu verstehen (1944 bis 1949), der mit der Niederlage der griechischen Kommunisten endete (von denen viele ins Exil in den Ostblockländern gingen, aus dem KKE-Mitglieder erst Anfang der 1980er-Jahre wieder nach Griechenland zurückkehren durften).
Das zweite Ereignis war das demonstrative und provokative Auftreten einer großen Abordnung paramilitärischer ChA-Gefolgsleute bei einer offiziellen Gedenkfeier an ein Massaker der kommunistische dominierten Widerstandsorganisation EAM-ELAS an vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateuren mit den deutschen Besatzern am 15. September in Meligala, nur zwei Tage vor dem Mord an Fissas.
In beiden Fällen wurde nicht nur die zunehmende Aggressivität der Neonazis deutlich, sondern auch das Versagen bzw. stillschweigende Wegschauen der polizeilichen Organe.
Die Gedenkfeier war stets ein Treffpunkt der „Rechten“, die auf der Peloponnes schon immer sehr stark war. Aber es war eine „staatliche“ und kommunale Veranstaltung, die vor allem von den Familien der Opfer gewünscht und auch gestaltet wurde. Dieses Jahr aber hatten die Neonazis schon im Vorfeld ihre „Truppen“ mobilisiert, mit dem erklärten Ziel, die Veranstaltung zu „übernehmen“. Ihre Ankündigungen hatten Innenminister Dendias derart alarmiert, dass er zwei Bataillone der Bereitschaftspolizei entsandte, um die „Würde der Feier“ zu schützen.
Am Abend jenes Tages konnte der Innenminister im Fernsehen betrachten, wie die Neonazis zu Hunderten aufmarschierten waren, um die Veranstaltung zu ihrer Kundgebung zu machen. Dem Bürgermeister wurde das Mikrofon weggenommen, die Chrysi Avgi-Parolen übertönten alles andere – und die Polizei griff nicht ein. Diese „paramilitärische Machtdemonstration“ macht der schockierten griechischen Öffentlichkeit klar, was Nikos Konstandaras in der Kathimerini (19. September) so beschrieben hat: „Die Ironie besteht darin, dass die laxe Haltung der staatlichen Institutionen die Chrysi Avgi- Leute in Sicherheit gewiegt hat, sodass sie ihre empörende Arroganz und Gewaltsamkeit ganz offen zur Schau stellten – und das gilt für die Parteiführer im Parlament bis zu ihren Straßenkämpfern. Sie glaubten einfach, sie könnten sich jetzt Alles erlauben.“
Die Provokation von Meligala war für die ND-Führung ein doppelter Schock. Sie machte klar, dass die Neonazis auf ihrem erhofften Weg zur Macht als erstes die ND als dominierende Kraft der Rechten ablösen wollen. An diesem Tag muss Samaras und seinen Leuten die Idee, den Rechtsextremismus durch die alte patriotische Rechte zu absorbieren, ziemlich naiv oder gar schamlos vorgekommen sein. Denn die Neonazis sehen es ja genau umgekehrt, und haben dabei weniger Skrupel: Am Wallfahrtsort der alten Bürgerkriegs-Nostalgiker wollten sie zeigen, dass sie die „wahre“ patriotische Rechte sind: „Das war Sinn und Zweck ihres Auftretens in Melgala, wo sie einen Teil ihrer Rhetorik tatsächlich in die Praxis umsetzten“, kommentierte Angelos Stangos in der Kathimerini (29. September).
Es war aber nicht nur die Erkenntnis: „Die meinen ja, was sie sagen“. Der zweite Schock war das „Versagen“ der Polizei. Spätestens an diesem Tag muss Innenminister Dendias klar geworden sein, dass eine gründliche „Isolierung“ der Polizei- und Sicherheitskräfte vom Einfluss der Neonazis ohne eine Illegalisierung der Rassisten nicht möglich ist. Auf die Rolle der Polizei bezieht sich eine weitere Frage, mit der ich diesen Bericht über neonazistische Entwicklungen in Griechenland demnächst fortsetzen werde.