Europa, die Marktwirtschaft und der Wettbewerb
Eine Zusammenfassung wesentlicher Aussagen eines Berichts von Jean-Louis Andreani in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 26.5.2005
Ist nun die europäische Verfassung in ihrem Kapitel Wirtschaft ausgesprochen liberal oder nicht?
Wirtschaftliches Ziel des 1957 abgeschlossenen, römischen Vertrages war die freie Zirkulation von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb Europas.
Für die beiden französischen EU-Gründungsväter, Robert Schuman und Jean Monnet, war zwar klar, dass eine europäische Nachkriegswirtschaft auf marktwirtschaftlicher Grundlage aufzubauen sei, aber das war damals nicht ihre Hauptsorge. Sie wollten zuallererst eine Annäherung der durch den Krieg verfeindeten und traumatisierten europäischen Völker über eine solidarische wirtschaftliche Entwicklung erreichen und gleichzeitig eine Verschärfung vorhandener Rivalitäten durch nationalstaatliches Sozial- oder Fiskaldumping verhindern. Der römische Vertrag war ein Kompromiss zwischen dem wirtschaftlich-liberalen Deutschland und dem eher protektionistisch denkenden Frankreich.
Jean Monnet notierte aus seinen Gesprächen mit dem deutschen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard: „Da wo wir Franzosen durch Absprachen und Kompromisse europäische Solidarität üben und organisieren wollten, sah Erhard eher einen entwicklungshemmenden Protektionismus“.
Für Robert Schuman war die wichtigste Aufgabe der Europapolitik eine abgestimmte Koordination zwischen den Partnerländern, denn „wir konnten nicht gleichzeitig von allen Sektoren der europäischen Volkswirtschaften wirtschaftliche und technische Spitzenleistungen erwarten“.
In den 1970-er und 1980-er Jahren wurden die Karten neu gemischt, schon mit einer starken Dosis neoliberaler Ideologie, die auch in die Brüsseler Kommission einzog. Die Kommission favorisierte bald den Wettbewerb, die Deregulierung der Märkte und den Rückzug des Staates auf unerlässliche Minimalaufgaben. Staatliche Überbrückungshilfen an notleidende Unternehmen wurden drastisch eingeschränkt und der Formel der freien Konkurrenz geopfert, die allein eine effiziente Ressourcenallokation garantiere. Auf gesamteuropäischer Ebene wurde diese Wettbewerbs-Glaubensformel erstmals im Maastricht-Vertrag von 1992 kodifiziert.
Das Modell der auf freiem Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft bekommt in der jetzt vorgeschlagenen Verfassung endgültig Verfassungsrang und wird im Verfassungstext gleich dreimal ausdrücklich hervorgehoben (in den Artikeln III-177 und III-178)!
Diese ideologische Festlegung ist klar und eindeutig und behauptet – als verabsolutiertes Dogma – die Überlegenheit des Modells der freien Konkurrenz für die effiziente Ressourcenallokation eines ganzen Kontinents!
Woher kommt der ideologische Wunderglaube? Er beruht auf den Vorstellungen der „unsichtbaren Hand“ des schottischen Ökonomen Adam Smith, der seine Theorie im 18. Jahrhundert entwickelte (ihre Grundaussagen wurden in mathematischen Gleichungen und Formeln immer wieder variiert). Die Smithsche Theorie der freien Konkurrenz auf vollständigen Märkten ist jedoch lediglich eine Denkfigur und die praktische Erfahrung zeigte,
- dass Märkte aus sich heraus keine stabile gesamtwirtschaftliche Dynamik erzeugen können
- dass sich selbst überlassene Märkte ohne konkrete Wettbewerbsregeln und – kontrollen wirtschaftlich ineffizient arbeiten und
- dass Märkte ohne soziale Korrekturen (Tarifverträge, solidarische Sozialsysteme, ein an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientiertes Steuersystem) unsoziale Verteilungsergebnisse produzieren.
Bis in die 1980er- Jahre vertrat noch die Mehrheit der Ökonomen die Meinung, dass die aus dem Modell der vollständigen Konkurrenz deduzierten Schlussfolgerungen keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, dass grundsätzlich von unvollständiger Konkurrenz auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten auszugehen ist und dass die konjunkturellen Schwankungen durch eine antizyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik stabilisiert und durch eine solche Konjunkturpolitik gleichzeitig Wachstumsimpulse ausgelöst werden müssen.
Dies war die Sicht der Wirtschaftswissenschaften bis sich seit Mitte der 1980er- Jahre der Friedmansche Neoliberalismus breit machte und das Modell der auf freiem Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft (bei gleichzeitigem Rückzug des Staates) zum ideologischen Dogma erhoben wurde.
Unsere Wähler sind darüber besorgt, dass das von den Franzosen immer akzeptierte, demokratische und soziale Europa mit der Annahme der neuen EU-Verfassung irreversibel ausgehebelt werden könnte. Seit 1986 wehrt man sich hierzulande gegen die – ausgerechnet von Laurent Fabius als Ministerpräsident – verfügte Möglichkeit der Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen und Versorgungseinrichtungen. Die Mehrheit der Franzosen schenkt heute der Mitteilung des damaligen Parlament-Berichterstatters Lipkowski keinen Glauben mehr, dass ein einmal eingeleiteter Liberalisierungsprozess keiner französischen Regierung die Hände binde und ihr weiter alle Gestaltungsmöglichkeiten offen lasse.
Die Franzosen sind in ihrer überwältigenden Mehrheit weiterhin für ein vereintes Europa – aber für eine demokratisches und soziales Europa seiner Bürger.