Koalitionsverhandlungen für die Wirtschaft oder für eine wirtschaftliche Wende?
Liebe Koalitionäre oder solche, die es noch werden wollen: Haltet ein! Fangt nicht sofort an zu verhandeln, sondern denkt erst einmal nach. Zieht euch für eine Woche in ein schönes Hotel zurück und tut nichts anderes als die Frage zu diskutieren, wie Deutschland wieder ein normaler Handelspartner in dieser Welt werden kann, ohne Überschüsse in der Leistungsbilanz, ja sogar mit Defiziten, weil die Schuldner ja ihre Schulden zurückzahlen sollen und wollen. Dann kommt die Frage, wie die deutschen Unternehmen wieder zu Schuldnern und Investoren gemacht werden können, und schließlich, welche Rolle der Staat bei der notwendigen Verschuldung spielen soll … Von Heiner Flassbeck.
Uns geht es ja gut. Das könnte das übergreifende Motto der Koalitionsverhandlungen sein, die sicher in wenigen Tagen beginnen werden. Dementsprechend bringen sich auch schon die ersten verdienten Funktionäre der SPD in Stellung, um Ministerposten zu ergattern. Welche das sein müssen, wissen sie auch schon. Karsten Schneider oder Thomas Oppermann müssen Finanzminister werden, weil das der wichtigste Posten ist. Klaus Wiesehügel will Arbeitsminister werden, weil er das als Gewerkschafter besonders gut kann. Sicher will Frank-Steinmeier Außenminister werden und Sigmar Gabriel Superminister für Wirtschaft, Energie und Umwelt.
Jetzt kommt wieder zusammen, was zusammengehört, könnte man sagen. Denn es ist abzusehen, dass sich in einer großen Koalition die vielen Agenda-2010-Anhänger in der SPD mit den Agenda-2010-Anhängern in der CDU zusammenschließen und man sich gemeinsam eine Agenda 2020 ausdenkt, damit es Deutschland weiterhin gut geht. Angesichts der geistigen Ausgangslage in beiden Parteien kann das nur auf eine Stärkung des Standorts Deutschland hinauslaufen, die angesichts stagnierender Außenhandelsüberschüsse aus Sicht der führenden Köpfe dieser Parteien dringend geboten ist. Im ersten Halbjahr 2013 hat Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss von “nur” 91 Milliarden Euro zustande gebracht, was zwar eine kleine Steigerung gegenüber den 87 Milliarden im gleichen Zeitraum des Vorjahres ist, aber doch nicht ausreicht, der deutschen Konjunktur die richtige Zugkraft zu gegeben und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Tonlage, auf die man sich zwischen SPD und CDU vermutlich einigen kann, hat dieser Tage schon Dennis Snower vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel vorgegeben. In der FAZ schrieb er: „Intern muss sich Deutschland durch eine umfassende Reform des Wohlfahrtsstaates wettbewerbsfähiger machen. Der Aufstieg Deutschlands vom „kranken Mann“ zur „Lokomotive Europas“ geht nicht allein auf die Reformen der Agenda 2010 zurück, sondern vor allem auf die moderate Lohnentwicklung. Diese Phase ist nun vorbei. Nur durch Flexibilität und hohe Beschäftigungsraten kann Deutschland im weltweiten Wettbewerb bestehen“. Da ist sie wieder, die berühmte Flexibilität auf den Arbeitsmärkten, die wie nichts anderes das Mantra der Neoliberalen in den vergangenen Jahrzehnten war. Bevor nicht der letzte Schutz für die Arbeitnehmer im Arbeitsprozess gefallen ist, gibt es einfach keine ausreichende „Flexibilität“, und genau so lange kann die deutsche Industrie keine Ruhe geben.
Das muss man sich vorstellen: Ein Land, das durch Lohnmoderation in einer Währungsunion seine Nachbarn schon fast bis zum politischen Zusammenbruch in die Enge getrieben hat, wird jetzt aufgefordert, eine zweite Stufe der Reformen zu zünden, um noch wettbewerbsfähiger zu werden, statt seinen Handelspartnern eine Chance zu geben. Das ist eine Botschaft, ausgerechnet vom „Institut für Weltwirtschaft“, die an Zynismus und Chauvinismus kaum noch zu überbieten ist. Das Gebräu, das der frühere Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement mit der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) unter dem Namen „Chance 2020“ zusammengemixt hat, geht genau in die gleiche Richtung.
Auf keinen Fall wird aus den Koalitionsverhandlungen der großen CDU und der kleinen SPD etwas herauskommen, was auch nur im Entferntesten nach einer Änderung des „Erfolgskonzeptes“ der letzten Jahre aussieht. Der Garant dafür ist die deutsche Wirtschaft mit ihren unzähligen Verbänden und Unterverbänden, die jeden Buchstaben zu Atomen zerhacken würden, der sich kritisch mit der deutschen Rolle in der Welt auseinandersetzte.
Damit kann man heute schon sagen, dass das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zu dem wichtigsten aller Themen schweigen wird, nämlich zu der Frage, wie die neuen Ersparnisse der Deutschen, die auch in diesem Jahr wieder in ihrer vollen Höhe von 180 Milliarden, also zu einhundert Prozent, dem Ausland als Kredit zum Kauf deutscher Güter gegeben werden, in Zukunft verwendet werden sollen.
Dieses Thema entscheidet über viele andere: Über das Schicksal des Euro und Europas, über Deutschlands Rolle in der Welt, über die Ungleichheit und die Gerechtigkeit in der Gesellschaft, über die Steuern für Unternehmen und Begüterte, über die Rente, über die Investitionen für die Zukunft, über die Arbeitslosigkeit und über die Frage, ob man eine ökologische Wende bei erträglichen wirtschaftlichen Bedingungen hinbekommt. Ja, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass ohne eine vernünftige Behandlung dieses Themas fast alles andere, was man im Bereich Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik diskutiert, nicht zu einer sinnvollen Lösung gebracht werden kann – das berühmte Betreuungsgeld vielleicht ausgenommen.
Es geht also um die Ersparnisse und damit anders herum gesehen um die Schulden. Und genau genommen um die Frage, wer diese Schulden machen soll. Das muss und will ich hier nicht im Einzelnen erläutern, weil das unser ceterum censeo von Anfang an ist. Es läuft auf die Frage hinaus, wie man die Unternehmen dazu bekommt, ihre Rolle als Investor und Schuldner wieder so zu spielen, wie sie sie zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders gespielt haben. Das ist politisch eine extrem schwierige Frage, weil in den vergangenen Jahrzehnten fast alle Parteien für richtig befunden haben, die Unternehmen in jeder Hinsicht hätscheln zu müssen, damit sie ihre Rolle als Investoren und Arbeitsplatzschaffer spielen. In diesem Klima genau das Gegenteil zu fordern, ist scheinbar absurd. Und jeder, der es tun würde, wäre sofort im Abseits, weil er oder sie die gesamte Wirtschaft gegen sich aufbrächte.
In der Tat muss man natürlich, um wirklich Erfolg zu haben, viele, die man im ersten Schritt gegen sich aufgebracht hat, im zweiten Schritt für sich und vor allem für eine bessere Politik gewinnen. Das wohlverstandene Interesse der Wirtschaft kann es nicht sein, mit einer Fortsetzung der Unterbietungs- und Exportüberschussstrategie die politische und wirtschaftliche Instabilität der Europäischen Union weiter zu verschärfen. Das “Gegen-sich-Aufbringen” ist kein Ziel an sich, sondern eher ein Mittel zum Wachrütteln. Und deswegen muss ich immer über das wunderbare Zitat herzlich lachen, das deutsche Journalisten lieben, dass nämlich nach 1998 Claus Noé und ich als Staatssekretäre das Finanzministerium und die ganze Welt gegen uns aufgebracht hätten. Gerade hat es wieder einer Oskar Lafontaine vorgehalten (in der SZ vom 27. September, Seite 22) mit dem Unterton dessen, der genau weiß, dass man auf keinen Fall die ganze Welt gegen sich aufbringen darf, weil man dann automatisch Unrecht hat. Wäre die Welt nach 1998 prima gelaufen, ohne Verwerfungen und Krisen, hätte er vermutlich Recht. Aber so war es leider nicht, und deswegen ist es dumm, wenn einer meint, das Gegen-sich-Aufbringen sei schon ein Fehler an sich.
Wir haben vor einigen Tagen hier gezeigt, dass das ganze Gerede vom „uns geht’s doch gut“ Mumpitz ist, weil man dabei (bewusst oder unbewusst) nur an der Oberfläche der Wirklichkeit kratzt statt zu versuchen, ihre Zusammenhänge und Strukturen zu verstehen. Besonders klar sieht man das an der Lohnentwicklung, vergleicht man die deutsche etwa mit der französischen. Der Reallohn pro Stunde (hier mit mehreren Deflatoren berechnet) lag zu Beginn der Währungsunion, also vor der deutschen Lohnsenkungsstrategie, fast genau gleichauf mit Frankreich bei etwa 24 Euro. Im Jahre 2013 liegt der Lohn in Frankreich bei 28 Euro, in Deutschland leicht über 25 Euro. Und das bei einer fast genau übereinstimmenden Produktivitätsentwicklung in beiden Ländern.
Dieses Bild müsste in den Koalitionsverhandlungen hin- und hergewendet werden, bis die Politiker verstanden haben, dass es einem Land nicht gut geht, das erst seine Löhne im Vergleich zu seinen Handelspartnern senkt, um diese nieder zu konkurrieren, und dann den gleichen Handelspartnern alle seine Ersparnisse anvertraut, weil die sonst seine Güter gar nicht kaufen können. Wenn das gleiche Land dann auch noch darüber klagt, dass es seine Nachbarn unterstützen muss, weil die nicht mehr automatisch Kredite am Kapitalmarkt zu günstigen Zinsen bekommen, steht die Welt Kopf. Mit einer Kopf stehenden Welt kann man aber kein einziges Problem lösen.
Deshalb, liebe Koalitionäre oder solche, die es noch werden wollen: Haltet ein! Fangt nicht sofort an zu verhandeln, sondern denkt erst einmal nach. Zieht euch für eine Woche in ein schönes Hotel zurück und tut nichts anderes als die Frage zu diskutieren, wie Deutschland wieder ein normaler Handelspartner in dieser Welt werden kann, ohne Überschüsse in der Leistungsbilanz, ja sogar mit Defiziten, weil die Schuldner ja ihre Schulden zurückzahlen sollen und wollen. Dann kommt die Frage, wie die deutschen Unternehmen wieder zu Schuldnern und Investoren gemacht werden können, und schließlich, welche Rolle der Staat bei der notwendigen Verschuldung spielen soll, eine aktive durch eigene Verschuldung oder eine passive, indem er die Unternehmen in die Verschuldung drängt. Wenn diese Fragen geklärt sind, dann erklärt den Menschen draußen, dass Deutschland jetzt endlich verstanden hat, worum es geht. Wenn die Medien euch dann vorwerfen, dass ihr die Wirtschaft gegen euch aufbringt, dann sagt, dass es genau das ist, was eine neue Regierung tun muss: Sie muss diejenigen wachrütteln, die an den Fehlern der Vergangenheit prächtig verdient haben und an der Fortsetzung des Wahnsinns interessiert sind.