Christoph Butterwegge zieht eine traurige Zwischenbilanz nach einem Jahr Große Koalition.
„Ungenützte Chancen“ (Sachverständigenrat), „weder im Guten noch im Schlechten Entscheidendes bewegt“ (FTD), „Erwartungen enttäuscht“(Volksstimme), „Trippelschritte und Kompromisse“ (Berliner Zeitung), so oder so ähnlich lauten die meisten Schlagzeilen zur Jahresbilanz der Großen Koalition. Nahezu alle diese negativen oder Enttäuschung ausdrückende Urteile legen die Mainstream-Meßlatte an, dass „die Reformen“ schneller und weiter vorangetrieben werden müssten.
Dass aber Stagnation keineswegs das Kennzeichen des ersten Jahres von Schwarz-Rot waren, belegt der Beitrag den Christoph Butterwegge uns zur Verfügung gestellt hat: Im Bereich der Renten, des Arbeitsmarktes und des Gesundheitswesens wurde die rot-grüne „Reformpolitik“ erheblich verschärft.
Ein Jahr große Koalition – kein Grund zum Feiern!
Triste Zwischenbilanz der schwarz-roten Sozialpolitik
Von Christoph Butterwegge
Nach dem Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates durch die rot-grüne Koalition, für den die beiden Kunstworte „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ stehen, hätte sich eine sozialpolitische Besinnungspause oder eine Kurskorrektur angeboten. Stattdessen bildeten CDU, CSU und SPD im November 2005 eine große Koalition. Die schwarz-rote Sozialpolitik erscheint weniger spektakulär und hat stärker Stückwerkcharakter, verfolgt aber dieselben Ziele und stellt keine Alternative zu den Reformprojekten ihrer Vorgängerin dar.
Am 30. November 2005 gab Angela Merkel im Bundestag ihre Regierungserklärung ab. Ein berühmtes Wort von Willy Brandt abwandelnd sagte Merkel: „Lasst uns mehr Freiheit wagen!“ und fügte erläuternd hinzu: „Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen.“ Merkel erklärte, sowohl ein Herz für die Schwachen (Kranke, Kinder, Alte) wie für Leistung zu haben, und versprach, bei der Überarbeitung von Hartz IV für „mehr Gerechtigkeit und weniger Missbrauch“ zu sorgen.
Die von der Großen Koalition vorgenommenen „Korrekturen“ an der rot-grünen Arbeitsmarktreform liefen trotz einzelner Verbesserungen für die Langzeitarbeitslosen (Anhebung des Regelsatzes in Ostdeutschland von 331 auf 345 EUR wie in Westdeutschland) größtenteils auf eine Kürzung des Leistungsumfangs sowie eine Verschärfung der Kontrollmaßnahmen hinaus. Die beschlossenen Regelungen, mit denen jährlich mehrere Mrd. EUR eingespart werden sollen, kann man durchaus als „Hartz V“ bezeichnen, stellen sie doch eine Fortsetzung und massive Verschärfung des Drucks auf Arbeitsuchende dar. Betroffen waren vor allem Heranwachsende und junge Erwachsene, die von zu Hause auszogen und als Arbeitsuchende mittels der Grundsicherung nach dem SGB II lieber eine eigene Bedarfsgemeinschaft gründeten, als im Haushalt ihrer Eltern zu verbleiben.
Auch die Älteren gehören zu den Verlierern der schwarz-roten Sozialpolitik. Gleich zu Beginn machte die Große Koalition deutlich, dass mit Rentenerhöhungen vorläufig nicht zu rechnen sei, sondern in den nächsten Jahren mehrere „Nullrunden“ anstünden. Rentenkürzungen schließt der Koalitionsvertrag zwar für die ganze Legislaturperiode aus, der „Nachholfaktor“ ermöglicht aber, dass Kürzungen, auf die zunächst verzichtet wurde, in Erhöhungsphasen letztlich doch noch – weniger spektakulär – wirksam werden. Auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre) bedeutet letztlich eine Rentenkürzung, zwingt sie doch noch mehr Beschäftigte, vor Erreichen der Regelaltersgrenze – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen.
Stagnation auf allen Gebieten gilt vielen Beobachtern zu Unrecht als Kennzeichen der Großen Koalition. Denn diese hat etwa im Bereich der Renten, des Arbeitsmarktes und des Gesundheitswesens die rot-grüne Reformpolitik zum Teil sogar noch verschärft. Dass die Vorschusslorbeeren, mit denen man Angela Merkel bei ihrem Amtsantritt als Bundeskanzlerin und nach ihren ersten öffentlichen Auftritten vor allem auf diplomatischem Parkett bedachte, schnell welkten und die Große Koalition ihren Kredit bei einer überwiegenden Bevölkerungsmehrheit geradezu im Rekordtempo verspielt hat, dürfte nicht zuletzt mit den Brüchen und Widersprüchen der schwarz-roten Sozialpolitik zu tun haben.
Da sucht man mit den Sozialversicherungsbeiträgen die Lohnnebenkosten zu senken, kompensiert aber die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 durch eine nur unwesentlich geringere Erhöhung der Rentenversicherungs- und Krankenkassenbeiträge. Man will „versicherungsfremde Leistungen“ wie die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder stärker über Steuern finanzieren, streicht den Krankenkassen aber gleichzeitig bisher gewährte Zuschüsse aus der Tabaksteuer und erhöht ihre laufenden Kosten durch die Anhebung der Mehrwertsteuer. Um die große Zahl der aufstockenden Geringverdiener/innen einzudämmen, sollen die Zuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II sinken. Die entsprechenden Freibeträge waren jedoch erst zum 1. Oktober 2005 angehoben worden, um Langzeitarbeitslosen größere finanzielle Anreize zur Arbeitsaufnahme zu geben.
Angela Merkel ist nicht fehlende Führungskraft, sondern eine falsche Politik vorzuwerfen, die ihrer persönlichen Beliebtheit, aber auch der ihrer Regierung geschadet hat. Symptomatisch dafür, wie großzügig und kleinkariert die Bundesregierung ist, erscheint die Steuerpolitik: Die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent am 1. Januar 2007 ist nicht nur Gift für die Konjunktur, sondern auch für Familien, besonders solche, die einen Großteil ihres Einkommens in den Alltagskonsum stecken (müssen). Deshalb trifft sie die Mehrwertsteuererhöhung viel stärker als Besserverdienende (ohne Kinder). Außerdem haben sich CDU, CSU und darauf verständigt, dass Kinder von Familienunternehmern unter bestimmten Voraussetzungen (Fortführung des Betriebes über zehn Jahre und Erhalt der Firmensubstanz) ab 1. Januar 2007 keine betriebliche Erbschaftsteuer mehr zahlen müssen. Während die Große Koalition Geringverdiener samt ihrem Nachwuchs stärker zur Kasse bittet, macht sie den Kindern von Millionären, Multimillionären und Milliardären weitere Steuergeschenke. Deutlicher könnte nicht werden, dass man den unsozialen Kurs der rot-grünen Koalition fortsetzt und noch zuspitzt.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Soeben ist im VS – Verlag für Sozialwissenschaften die 3., um ein Kapitel zur Großen Koalition erweiterte Auflage seines Buches „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ erschienen.