Unkonventionelle oder dogmatische Geldpolitik – In der Europäischen Währungsunion kommt es darüber zu einer Zerreißprobe
Die einen bemühen sich, die geänderte Welt zu verstehen, die anderen beharren auf alten Rezepten, von denen sie glauben, sie seien für immer und ewig gültig. Die Rede ist von Notenbankern, die allgemein als konservativ gelten, sich aber doch unter den derzeitigen Umständen deutlich unterscheiden.
In der ganzen industrialisierten Welt erleben wir dieser Tage eine Zeitenwende in der Geldpolitik. Von Heiner Flassbeck.
Ben Bernanke, der eigentlich als konservativ eingestufte und von den Republikanern berufene Vorsitzende der Fed (des Federal Reserve Systems) hat schon in den vergangenen Jahren Geldpolitik weit jenseits der normalen geldpolitischen Horizonte betrieben, indem er „forward guidance“ gab, also eine gewisse Stabilität der niedrigen Zinsen auch für die Zukunft versprach. Die Bank von Japan hat ein ähnliches Versprechen abgegeben und in England haben sie in diesem Sommer einen Mann zum Notenbankpräsidenten gemacht (obwohl der gar kein Engländer ist), der als einer der Pioniere der forward guidance gilt: Mark Carney, der vorher die Bank of Canada geleitet hatte.
Nun sagen manche in Kontinentaleuropa, die auf legalistischen Positionen bestehen, das sei ja auch kein Wunder, weil diese Notenbanken ein anderes Mandat haben als die Deutsche Bundesbank früher und die Europäische Zentralbank (EZB) jetzt. Das ist aber von vorneherein ein unsinniges Argument, denn wenn die Welt sich wirklich geändert hat, nützt es ja nichts, auf überkommenen Regeln zu beharren. Die können nämlich nicht mehr funktionieren. Stattdessen muss man die Regeln anpassen oder zumindest flexibel auslegen.
Letzteres hat sogar die EZB getan, die sich ebenfalls jüngst (wie in dem verlinkten Interview von Peter Praet, dem Chefvolkswirt) entschlossen hat, solche „forward guidance“ zu geben, wohl weil man dort – trotz eines engen Mandats – begonnen hat zu verstehen, dass mit den alten, von der Deutschen Bundesbank geerbten Rezepten in der neuen Welt nach der Finanzkrise kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist. Vielleicht hat man in der EZB auch verstanden, dass die Eurozone eine große geschlossene Volkswirtschaft ist, in der die in der alten Bundesrepublik angewandten Regeln ohnehin obsolet sind, weil die eine relativ kleine und relativ offene Volkswirtschaft war.
Die alte Schule der deutschen Notenbanker (die aber, wie man an Jens Weidmann sieht, nichts mit dem Alter zu tun hat) hält jedoch tapfer dagegen. So sagte Otmar Issing der forward guidance ebenso den Kampf an wie Jürgen Stark, der schon immer versuchte, der härteste aller harten Falken zu sein. Wenn man sich allerdings die Argumente der Falken anschaut, dann sind die mehr als dünn. (Quelle: Flassbeck-Economics)
Worum geht es ganz konkret? Nun, dass die alten Regeln der Geldpolitik nicht mehr gelten, kann man unschwer daran erkennen, dass die ganze Welt es auch im Jahre fünf nach der großen Krise nicht geschafft hat, einen Aufschwung in Gang zu setzen, der den Namen verdient. In fast allen Industrieländern verharrt die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau und eine Konsum- und Investitionstätigkeit, die sich selbst trägt, also ohne weitere Anregungen durch die Zentralbank auskommt, ist weit und breit nicht in Sicht. Ausdruck dieser Schwäche ist ein deflationärer Bias in der Weltwirtschaft, den die anderen Notenbanken mit großer Besorgnis zur Kenntnis nehmen, weil sie aus der japanischen Erfahrung gelernt haben, wie schwer es ist, eine einmal ins System eingedrungene Deflation zu bekämpfen. Warum es diesen deflationären Bias gibt, haben wir hier mehrfach im Detail erklärt. Es ist das Paradox, dass die Arbeitslosigkeit im Zuge der Finanzkrise bei der niedrigsten Lohnquote, die die Welt seit vielen Jahrzehnten gesehen hat, deutlich angestiegen ist. Die Notenbanken, die den neuen Weg gehen, ahnen wohl, dass am Arbeitsmarkt etwas nicht stimmt, sie sagen es aber nicht klar und deutlich, sondern beschränken sich auf den Hinweis, wie die Financial Times es ausdrückte (ist allerdings kostenpflichtig), dass man das, was am Arbeitsmarkt vor sich gehe, noch nicht vollständig verstehe.
Die modernen Notenbanker haben aber immerhin verstanden, dass die Geldpolitik weit mehr tun muss als in der Vergangenheit, um die Wirtschaft anzukurbeln. Mit der forward guidance verlassen auch sie nicht prinzipiell das Dogma, dass die Notenbank primär für die Inflationsbekämpfung zuständig ist. Sie knüpfen den Fortbestand niedriger Zinsen an klare Bedingungen, wie die, dass im Verlauf des Prozesses die Inflationsrate nicht ansteigt und verkünden Schwellen der Unterbeschäftigung (im Falle Englands eine Arbeitslosenrate von 7 Prozent), ab der sie ihre Politik überprüfen wollen. Wichtig bei dieser Politik ist auch, dass die Notenbanken die extrem nervösen Finanzmärkte im Blick haben und hoffen, über ihre Ankündigung positive Vermögenseffekte (also höhere Aktienkurse oder steigende Immobilienpreise) auszulösen, die in den Augen der Anleger so nachhaltig sind, dass sie dann zu einem Anstieg der Ausgaben und einer Belebung der Konjunktur führen. Auch sinkende Devisenkurse der eigenen Währungen könnten zum Zielkatalog gehören, obwohl das niemand so offen sagt.
Das schafft aber, wie wir hier vor einigen Monaten schon gesagt haben, ein neues Problem. In einer Welt, in der die Mehrzahl der Akteure nur daran denkt, wie die anderen Akteure an den Asset-Märkten die Politik der Zentralbank aufnehmen, gerät die Geldpolitik schnell in ein Dilemma. Will sie vorsichtig sein und die Märkte nicht über Nacht mit einer brutalen Wende überraschen, muss sie sehr frühzeitig ankündigen, dass ein Ende der Expansionsstrategie in Sicht ist. Das ist womöglich viel zu früh für die reale Wirtschaft. Ganz gleich wie vorsichtig sie nämlich ihre Ankündigung formuliert, der erste Hauch der Kälte lässt alle „Investoren“ an den Finanzmärkten zusammenzucken und kann gewaltige negative Kettenreaktionen auslösen, also Reaktionen, bei denen genau das „Vermögen“ in kurzer Zeit wieder vernichtet wird, das die Zentralbanken schaffen wollten, um die Wirtschaft über die Aufschwungsschwelle zu heben. Weil es viele Aktienmärkte zugleich trifft, die wichtigsten Rohstoffmärkte, die Devisenmärkte und die Bondmärkte (also die Märkte, an denen sich die Staaten refinanzieren), können die Zentralbanken nicht einfach die Augen vor den Wirkungen verschließen, die sie auf all diesen Märkten zugleich auslösen.
Die Schwäche auch dieses Ansatzes ist nicht zu übersehen. Positive Vermögenseffekte am bestehenden Vermögen auslösen zu wollen wird in der Regel nicht ausreichend sein, um eine Investitionsdynamik in Gang zu setzen, die neues Vermögen, Einkommen und Arbeitsplätze schafft. Die Menschen, deren Vermögen bei Assetblasen aufgewertet wird, sind nicht entscheidend als Käufer neuer Produkte, die Unternehmen in großer Menge erzeugen müssen, um die Konjunktur anzuregen. Wenn die Masse der Bürger wegen der hohen Arbeitslosigkeit und einer allgemeinen Gürtel-enger-Schnallen-Ideologie negative Einkommenserwartungen hat, kann sich die Geldpolitik auf den Kopf stellen und es wird ihr trotzdem nur in Ausnahmefällen gelingen, den Durchbruch zu einer neuen Investitionsdynamik zu erreichen. Dennoch ist es richtig, auch diese unkonventionellen Wege zu gehen.
Das Versagen des Arbeitsmarktes können und wollen die altmodischen geldpolitischen Dogmatiker vom Schlage Weidmann, Issing und Stark natürlich erst recht nicht zur Kenntnis nehmen. Sie glauben aber sogar, dass der moderne Ansatz der Geldpolitik unmittelbar Inflationsgefahren mit sich bringt. Issing wird in dem oben verlinkten Artikel mit der Frage zitiert, „wie man geldpolitisch reagiere, wenn es auf den Märkten zu Schocks kommt oder sich die Arbeitslosigkeit überraschend stark verändert“. Das ist die typische Art und Weise, wie man scheinbar wichtige Bedenken in die Debatte wirft, ohne zu sagen, was man wirklich meint. Welcher Art sollten die Schocks sein? Um gefährlich für die Preisstabilität zu sein, müsste es sich ja um positive Nachfrageschocks oder negative Angebotsschocks handeln. Erstere aber gibt es außerhalb massiver staatlicher Anregung für die Konjunktur praktisch nicht und, selbst wenn der Staat das planen sollte, wüsste es die Notenbank. Was aber ist, wenn der Ölpreis plötzlich um 50 Prozent steigt? Ist dann die Preisstabilität gefährdet? Nein, weil jeder vernünftige Mensch weiß, dass das nur ein Einmaleffekt ist, der nur dann gefährlich für die Preisstabilität wird, wenn er zu dauerhaft steigenden Löhnen führt, was man aber ausschließen kann, so lange die Arbeitslosigkeit hoch ist.
Noch absurder ist das Beispiel der Arbeitslosigkeit. Kann die Arbeitslosigkeit in kurzer Zeit so stark zurückgehen, dass die Notenbank unfähig ist zu reagieren? Jede Erfahrung, die es auf dieser Welt gibt, zeigt, dass es ungemein schwer ist, eine einmal entstandene Arbeitslosigkeit wieder abzubauen, und dass die Zeiträume, um die es beim Abbau hoher Arbeitslosigkeit geht, eher in Jahrzehnten als in Jahren zu messen sind. Zu sagen, die Arbeitslosigkeit könne sich so stark „verändern“, dass eine geldpolitische Reaktion schwierig würde, ist vollkommen absurd.
Doch machen wir uns nichts vor. Hier bildet sich ein schwerer Konflikt in der Europäischen Währungsunion heraus. Je mehr die EZB den Weg unkonventioneller moderner Geldpolitik geht, umso mächtiger wird das Fäusteballen bei den deutschen (und einigen anderen nordischen) Dogmatikern und in ihrem politischen Umfeld. Bleiben in Deutschland CDU und FDP an der Macht, finden die Dogmatiker unter den deutschen Ökonomen innerhalb und außerhalb der Bundesbank ein fruchtbares politisches Feld für das Schüren von Zweifeln über die Solidität und Verlässlichkeit der EZB. Solche Zweifel werden die deutsche Politik veranlassen, in den übrigen Politikbereichen (Fiskal- und Arbeitsmarktpolitik) noch dogmatischer zu werden als sie ohnehin schon sind. Das wiederum erschwert das Geschäft der EZB, weil es auch bei unkonventioneller Geldpolitik einen Aufschwung unwahrscheinlicher macht. Dann kann man leicht argumentieren, die ganze Experimentiererei mit neuen Methoden der Geldpolitik habe nichts gebracht und man müsse zurück zum Dogmatismus. Das Ergebnis wird eine Beschleunigung der Zerfallserscheinungen in der Europäischen Währungsunion sein.
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