Prof. Sinn hält den skandinavischen Weg für einen „Schwindel“
Im Norden regelt nicht der Markt die Nachfrage, sondern der Staat hält die Bevölkerung in Lohn und Brot. Kein Modell für Deutschland, meint Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Dazu schreibt uns Karl Mai.
„Skandinavischer Schwindel“ – entdeckt von Prof. Sinn
Von Karl Mai
Dem abgrundtiefen Misstrauen der Marktfundamentalisten gegenüber der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Länder des „Skandinavischen Modells“ entsprang jetzt die neueste Bekundung von Prof. Sinn in der „Welt“ vom 8. November unter der ausgesprochen verketzernden Überschrift „Skandinavischer Schwindel“ – den natürlich der „hoch geehrte Ökonom Deutschlands“ nun schwungvoll entlarven muss.
Prof. Sinn bemerkt empört:
„In Deutschland, Europas größter Volkswirtschaft, beträgt der Anteil des Staates an der abhängigen Beschäftigung gerade einmal 12,2 %“. “Im Durchschnitt aller vier skandinavischen Länder beträgt der Anteil 32,7 %…“, liegt also 2,7mal höher als in Deutschland.
Dieser Fakt basiert auf einem – wie Prof. Sinn meint – „skandinavischen Buchhaltungstrick“, der Arbeitslose einfach dadurch wegzaubert, dass er sie in den Staatsdienst übernimmt. Das sieht nach seiner Meinung praktisch so aus, dass die „Skandinavier ihren Arbeitslosen zusätzlich einen Schreibtisch“(!) geben. Nur deshalb sei dort eine niedrigere Arbeitslosigkeit zu verzeichnen.
Aber schlimmer noch, ein wahres Sakrileg begehen die Skandinavier an der Ökonomie, indem die Arbeitsvergütungen der zusätzlichen Staatsdiener ganz regulär als „Wertschöpfung des Staates“ in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ausgewiesen werden, und somit das dortige BIP kräftig erhöhen und einen entsprechend höheren Wohlstand ihrer Länder eben nur durch einen „Taschenspielertrick“ (Prof. Sinn) vorgaukeln. Aus einer derart höheren Wertschöpfung resultieren natürlich auch höhere Steuern und Sozialabgaben – die also aus keinem ehrlich erzeugten Wohlstand entspringen können, sondern eben nur herbeigezaubert würden.
Länder, die derart mit „Buchhaltungstricks“ und „Taschenspielertricks“ der übrigen Welt ihre Erfolge nur vorgaukelten, seien deshalb zweitklassig, ja sogar verabscheuungswürdig und jedenfalls nicht geeignet, für Deutschland als Modellfall zu dienen.
Weil es so gar nicht ins Weltbild von Prof. Sinn passt, wird dann auch unterschlagen, dass in der EU ganz allgemein die Staatsangestellten gemäß ihrer Arbeitseinkommen in die „Wertschöpfung nach VGR“ einbezogen werden. Nein, die Skandinavier hätten niemals für Arbeitnehmer oder gar für Arbeitslose „einen zusätzlichen Schreibtisch“ bereitstellen dürfen, denn dies verfälscht ja die an neoliberalen Kriterien gemessenen Vergleiche zwischen den Ländern. Das muss einem Vorkämpfer der reinen Marktgesellschaft ganz sauer aufstoßen, ja so sehr reizen, dass er sogar seine intellektuelle Redlichkeit aufgibt.
Prof. Sinns Seitenhiebe auf die demgemäß hohen Anteile des Staates an der Beschäftigung in Skandinavien bleiben deshalb ohne jegliche differenzierte Analyse der konkreten öffentlichen Aufgaben und Leistungen des dort staatlich beschäftigten Personals. Eine solche Analyse hätte nämlich erhebliche Unterschiede in der Struktur der öffentlichen Dienstleistungen zwischen den Skandinaviern und Deutschland aufgedeckt, nicht zuletzt auch im Bereich medizinischer und sozialer Dienstleistungen und im gesamten Bildungs- und Wissensbereich. Gerade weil solche Leistungen der Daseinsvorsorge dort in erheblichem Maße staatlich erbracht werden, sind die dortigen Staatsausgabenquoten ca. 7,5 %-Punkte höher als in Deutschland.
Dass die Skandinavier ihren Leuten mittels Steuerfinanzierung tatsächlich etwas fürs Geld der Steuerzahler bieten, wonach sich Deutsche die Finger lecken würden, ist Prof. Sinn keiner Erwähnung wert.
Der Vorwurf Sinns an die skandinavischen Hüter des Sozialstaats lautet: „Doch zögern die Länder den Preis der menschlichen Arbeit entsprechend absinken zu lassen.“
Dies gelte vor allem für „den Gleichgewichtspreis ungelernter Arbeit in der gesamten westlichen Welt“. Es sei eben besser, „dem Markt die Entscheidung zu überlassen, welche Leistungen der geringer qualifizierte und weniger motivierte Teil der Erwerbsbevölkerung erbringen sollte“, urteilt Sinn – ohne das weiter zu begründen.
Ja, wie kann man sich bloß – so wie in Skandinavien – gegen die globalen Marktgesetze stemmen und dem „berechtigten“ Fall der Löhne entgegenwirken, wo dann nur noch „der Staat die Bevölkerung in Lohn und Brot“ hält?
Da muss doch etwas faul sein in den ökonomisch „fehlgesteuerten“ skandinavischen Ländern!
„Mit einem durchschnittlichen jährlichen BIP-Wachstum von 2,3 % in den Jahren 1995 bis 2005 lagen die skandinavischen Länder unter den anderen Ländern der alten EU, die im Schnitt um 2,8 % wuchsen“, versucht Prof. Sinn seinen Standpunkt zu erhärten. Nach dem Motto „Was nicht sein kann, das nicht sein darf“, stört sich Sinn nicht daran, dass etwa der Sachverständigenrat (SVR) in seinem jüngsten Jahresgutachten für die drei in der EU befindlichen skandinavischen Staaten von 1999 bis 2006 mit Wachstumsraten von immerhin 2,5 % ausweist, während die deutschen Wachstumsraten dagegen bei 1,2 % und die der übrigen deutschen EU-Nachbarn bei 1,9 % (Punkt 468, Tabelle 39) lagen.
Wie beim SVR gleichfalls nachzulesen, liegen auch die Bildungsausgaben der drei skandinavischen Länder für 2002 mit 6,5 % des nominellen BIP weit über den deutschen (mit 4,4 %). Dasselbe gilt auch für die öffentlichen Investitionen, wo die Skandinavier im Jahre 2006 mit 2,5 % ebenfalls fast doppelt so hoch liegen, wie die Deutschen (mit 1,3 %).
Vielleicht sind das ja gerade Gründe, warum die Skandinavier sich „zusätzliche Schreibtische für Arbeitslose“ im Staatsapparat leisten können, Herr Prof. Sinn!
Aber nein für ihn ist „der skandinavische Weg … mehr als ein Taschenspielertrick“ und jedenfalls für Deutschlands Weg in der Globalisierung nicht zu empfehlen, resümiert Prof. Sinn abfällig.
Warum eigentlich nicht?
Weil nach Sinns reiner Lehre, der Weg nur sein kann: Erhöhung des Niedriglohnanteils, prekäre Arbeitsverhältnisse bei Teilzeit, Druck auf die Effektivlöhne, Sozialabbau als Mittel zur Senkung von Lohnnebenkosten und der Staatsquote.
Und wer diese Spirale nach unten nicht mitmacht und gegen dieses Dogma verstößt, der kann nach Prof. Sinn eben nur mit „Taschenspielertricks“ arbeiten.
Und wenn es dabei den Menschen gut geht und sie ganz zufrieden sind, dann steht es nach Prof. Sinn eben umso schlimmer um diese Wirklichkeit, je weniger sie seiner Theorie entspricht.