Wahlkrampf

Jens Berger
Ein Artikel von:

Nahezu täglich tauschen die bekannten Gesichter der fünfeinhalb großen Parteien in aufgesetzt wirkenden TV-Duellen ihre auswendig gelernten Phrasen aus. Drei Wochen vor dem großen Urnengang scheint das Land endlich aus seiner politischen Lethargie erwacht zu sein. Doch der Schein trügt. Man kennt das Spiel ja. Die Union stellt Deutschland als schwarz-rot-goldenes Schlaraffenland dar, während Brüderles FDP sich redlich Mühe gibt, ihren Ruf als Comedy-Truppe zu verteidigen. SPD und Grüne werfen sich derweil das Oppositionsmäntelchen über und sogar Peer Steinbrück entdeckt in letzter Sekunde seine sozialdemokratischen Wurzeln. Grotesk! Gibt es eigentlich irgendjemanden – außer Jakob Augstein -, der dieses Schmierentheater nicht durchschaut? Von Jens Berger.

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Manchmal erinnert die Oppositionsarbeit der SPD ein wenig an Randsportarten, die alle vier Jahre bei den Olympischen Spielen ins öffentliche Interesse gelangen. Doch dieser Vergleich hinkt, da die Randsportarten auch abseits der Olympischen Spiele existieren, aufmerksamkeitsökonomisch jedoch keine nennenswerte Rolle spielen. Die Oppositionsarbeit der SPD ist da anders. In den letzten vier Jahren fand sie de facto gar nicht statt und dies rächt sich natürlich im Wahlkampf. Auch ein Sportler hat bei Olympischen Spielen keine Chance, wenn er nur alle vier Jahre zu einem Wettkampf antritt.

Selbst wenn der potentielle SPD-Wähler die Argumente der wahlkämpfenden Parteigranden offen und unvoreingenommen reflektiert, wird er schnell auf Widersprüche stoßen. Peer Steinbrück und die SPD sind natürlich nicht dumm. Sie haben zu Recht erkannt, dass das Thema „soziale Sicherheit“ wohl das einzige Thema ist, bei dem sie im Wahlkampf gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung punkten können. Dummerweise hat sich die SPD weder in ihrer Regierungszeit von 1998 bis 2009 noch in ihrer Oppositionszeit von 2009 bis heute als Sprachrohr sozialer Politik hervorgetan. Wer nimmt der SPD ab, dass sie drei Wochen vor den Wahlen plötzlich entdeckt hat, dass sie in den letzten fünfzehn Jahren eine falsche Politik propagiert hat?

Kanzlerkandidat Steinbrück wird als Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit, prekäre Arbeit und mangelnde Chancengleichheit inszeniert. Wäre es nicht traurig, müsste man als politisch Interessierter an dieser Stelle schallend lachen. Der „arme“ Steinbrück muss nicht nur Wahlkampf gegen die Kanzlerin, sondern auch gegen sich selbst machen. Schließlich war es Steinbrück, der vor allem auf diesen Politikfeldern jahrein jahraus genau die Politik verteidigt hat, die er nun anprangert. Wie glaubwürdig kann ein Politiker sein, der gegen seine eigenen Überzeugungen zu Feld zieht? Wie glaubwürdig ist ein SPD-Politiker, der gegen soziale Ungerechtigkeit, prekäre Arbeit und mangelnde Chancengleichheit ins Feld zieht und gleichzeitig die „Erfolge der Agenda 2010“ lobt?

Ganz klar, die SPD setzt nicht auf politisch Interessierte, sondern auf die amorphe Masse der Desinteressierten und Politikmüden, die derlei Widersprüchlichkeiten nicht auf den ersten Blick erkennen. Aber auch diese potentiellen Wähler lesen Zeitung und schauen sich zumindest die Nachrichten im Fernsehen an. Und hier rächt sich natürlich die politische Agonie, in die sich die SPD in den letzten Jahren geflüchtet hat. Wie soll die Partei beispielsweise glaubwürdig gegen den merkeltelistischen Wettbewerbswahn argumentieren, wenn sie selbst doch bis vor wenigen Wochen den Tenor im Chor der
Ahnungslosen gegeben hat? Drei Wochen Wahlkampf-PR können die Versäumnisse von vier Jahren nicht wettmachen.

Für die CDU sieht die Lage deutlich besser aus. Ihr ist die Unlust auf den Wahlkampf deutlich anzumerken. Das ist verständlich, führt man in den Meinungsumfragen doch meilenweit. Von allen Parteien ist die CDU die mit großem Abstand unpolitischste. Ihre Botschaft ist „weiter so, macht Euch keine Gedanken, Mutti schaukelt das schon“. So unbefriedigend diese Kampfansage an den mündigen Wähler ist, so erfolgversprechend ist sie. Wichtiger noch – diese Strategie fällt auf fruchtbaren Boden, der über Jahre hinweg von den PR-Strategen und willfährigen Journalisten geebnet wurde. Deutschland geht es gut? Was sich für den kritischen Beobachter wie Hohn anhört, wird dem Publikum nun schon seit Beginn der letzten Legislaturperiode eingetrichtert. Und wenn sich die großen Parteien lange Zeit nur noch darum stritten, wem denn nun dieser große Erfolg zu verdanken sei, der rot-grünen Agenda oder Angela Merkels Schlafwagenpolitik, dann kapituliert auch irgendwann der Wähler. Jede Lüge, und sei sie noch so absurd, wird geglaubt, wenn man sie nur oft genug wiederholt.

Im schönen neuen Deutschland, in dem die Eigenverantwortung die Solidarität verdrängt hat, ist nun einmal jeder seines eigenen Glückes Schmied und selbst Schuld, wenn er nicht am rosaroten Traum des „Uns geht es doch allen gut“ teilnehmen kann. Auch dieser zynische Unsinn wird mittlerweile von sehr vielen Menschen, denen es eben nicht gut geht, geglaubt. Dass die Teflon-Kanzlerin zahlreiche Angriffsflächen bietet, wissen Leser der NachDenkSeiten nur zu genau. Leser von BILD, SPIEGEL und Co. ahnen davon jedoch nichts. Und daran kann auch ein dreiwöchiger Wahlkampf nichts ändern.

Also „weiter so“? Vermutlich. Politische Alternativen wie die Linke oder die Piratenpartei werden medial kaum wahrgenommen und da die SPD sich aufgrund ihrer Ausschließeritis jeder Option auf einen Machtwechsel selbst beraubt, hat der Wähler schlussendlich realistisch betrachtet ohnehin nur die Wahl, wer demnächst an Merkels Seite den Juniorpartner geben darf. Das ist erbärmlich und deprimierend. Deprimierend für politisch Uninteressierte und mehr noch für politisch Interessierte. Demokratie lebt von der Alternative. Wenn es keine realistische Alternative gibt, krankt die Demokratie.

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