Wahlkampf: Faule Zahlenspiele mit atypischen Jobs
Lauter gute Nachrichten gehen derzeit durch die Mainstream-Medien. Zuletzt jubelte SPIEGEL Online darüber, dass die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse seit Jahren erstmals zurückgehe. Sind wir also endlich am Ende der Krise angekommen? Hat die Bundesregierung womöglich doch einen guten Job gemacht? Wohl kaum, auch wenn es sich so anhört. Von Jörg Wellbrock.
Die Rezession in Europa ist beendet. So steht es zumindest in der WELT und auf der Internetseite der Tagesschau. Der Focus spricht in seinem Aktienteil (den ja mindestens 50 Millionen Deutsche täglich ganz aufgeregt verfolgen) gleich von einer Heldentat und titelt: „Eurozone beendet Rezession“. Jetzt hat die Eurozone die Sache also offenbar selbst in die Hand genommen. Und da die Deutschen davon ausgehen, dass die europäische Politik zu einem Großteil durch „Mutti“ Merkel gesteuert wird, kann das doch wohl nur bedeuten, dass die CDU/FDP-Koalition für diesen Erfolg verantwortlich sein muss. Angela Merkel braucht keinen Wahlkampf zu machen, das erledigen die ihr wohlgesonnenen Medien ganz alleine. Die Berichterstattung über den Rückgang der atypischen Arbeitsverhältnisse zeigt das eindrucksvoll, denn der Tenor fast aller Zeitungen ist nahezu gleichlautend, beinahe wie vorformuliert. Allerdings fehlt dabei unter anderem der Blick auf die Lohnentwicklung bei den Vollzeitstellen. Der würde der Meldung den Spaß verderben.
Reguläre Jobs versus atypische Beschäftigungsverhältnisse
Mit den sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen sind befristete Jobs gemeint. Außerdem die der geringfügig Beschäftigten, Zeitarbeitsangestellten und jene von Menschen, die 20 Stunden oder weniger pro Woche arbeiten. Die Zahl dieser Stellen hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Doch (unter anderem) SPIEGEL Online gab am 28. August 2013 Entwarnung. Atypische Beschäftigungsverhältnisse seien laut Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2012 „erstmals deutlich rückläufig“ gewesen. Nun kann man darüber streiten, ob die Absenkung von 146.000 atypischen Jobs ausreicht, um sie als „deutlich rückläufig“ einzuordnen. Aber selbst wenn man das täte, bliebe doch die Frage, wie dieser Wert zustande kommt. Natürlich klingt es besser, von regulären als von atypischen Jobs zu sprechen. Aber erstens blendet die Zahl einen wichtigen Faktor aus. Und zweitens bedeutet eine Vollzeitstelle noch lange nicht, dass man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
Lohndrücker Werkvertrag
Dass ausgerechnet Werkverträge, die nach gesetzlichen Regelungen bei der Zeitarbeit als Schlupfloch für unterirdische Bezahlung eingesetzt werden, nicht in der Statistik des Bundesamtes berücksichtigt werden, ist nicht nur nicht nachvollziehbar. Es zeichnet ein falsches Bild. Denn über diese Art des Arbeitsverhältnisses wird Lohndumping auf einer anderen Ebene betrieben. Arbeitnehmer, die Werkverträge unterschreiben, gibt es fast überall – auf Werften, im Supermarkt oder auf der Baustelle. Das Prinzip ist einfach und billig: Ein Unternehmen heuert entweder über eine externe andere Firma einen Arbeiter an oder lässt ihn gleich auf selbständiger Basis arbeiten. Mindestlohn oder Tarifzuschläge? Fehlanzeige! Die Stundenlöhne bewegen sich im unteren Bereich. Somit sind in den meisten Fällen Arbeitsverhältnisse, die auf Werkverträgen beruhen, atypische Beschäftigungsverhältnisse. Wären diese bei der Erhebung eingeflochten worden, hätte das ein gänzlich anderes Bild ergeben. Interessant bei der medialen Berichterstattung ist der Umstand, dass die Kanzlerin erst kürzlich künstliche Betroffenheit signalisiert und angekündigt hatte, etwas gegen diese Form der Ausbeutung zu unternehmen. Das Handelsblatt hatte darüber berichtet. Doch es ist offenbar einfacher, die gelieferten Zahlen des Bundesamtes für Statistik ungeprüft zu übernehmen und so weiter Sonnenscheinatmosphäre verbreiten zu können. Insbesondere, wenn man damit die Kanzlerin indirekt bei ihrem Wahlkampf unterstützen kann.
Schöne neue Niedriglohnwelt
Wenn man davon ausgeht, dass die im „Spiegel“ zur Schau gestellten Zahlen des Statistischen Bundesamtes gleichfalls jene Beschäftigungsverhältnisse nicht mit einbeziehen, die zwar über 20 Arbeitsstunden pro Woche, jedoch unter dem Wert einer Vollzeitstelle liegen, ergibt sich abermals ein neues Bild. Wer also beispielsweise 25 oder 30 Stunden arbeitet, steckt offiziell nicht in einem atypischen Arbeitsverhältnis. Faktisch aber in der Klemme, denn von solch einem Job kann niemand leben.
Doch auch die so begehrte Vollzeitstelle ist keineswegs ein Garant für gutes Auskommen. Untersuchungen des DGB – durchgeführt im September 2012 und bezogen auf das Jahr 2010 – ergaben, dass damals bereits 4,66 Millionen Beschäftigte in Vollzeitstellen unter der Last des Niedriglohns ächzten. Somit zählten – Auszubildende nicht mitgerechnet – 22,8 Prozent der mit Vollzeitstellen ausgestatteten Arbeitnehmer zu der Gruppe der Geringverdiener. Tendenz: steigend.
Vier harte Wochen
Es ist davon auszugehen, dass die nächsten Wochen bis zur Bundestagswahl sowohl von der Bundesregierung als auch durch die ihr nahestehenden Medien weiterhin für Gute-Laune-Stimmung genutzt werden. Das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung funktioniert dabei zwar nicht, denn auch wenn man noch so oft herunter betet, dass alles gut ist, wird das nicht zwangsläufig der Fall sein. Wirkungslos bleibt diese aufdringliche Praxis aber dennoch nicht, denn inzwischen glauben viele Menschen daran, dass es uns gut geht, besonders mit Blick auf die europäischen Länder, die unter den wirtschaftlichen Folgen des Neoliberalismus (noch) viel stärker leiden als wir.
Nach der Wahl wird es dann weitergehen. Weiter auf dem Weg der Arbeitsmarktpolitik ohne Perspektive, weil immer weniger Menschen von ihren Jobs leben können. Weder mit noch ohne geschönte Zahlen durch das Statistischen Bundesamt.