Giftgaseinsatz in Syrien – gibt es wirklich keine Zweifel?

Jens Berger
Ein Artikel von:

Während die UN-Inspektoren noch bis Montag Zeit haben, den vermeintlichen Giftgaseinsatz vom 21. August in den Vororten der syrischen Hauptstadt Damaskus zu untersuchen, ist für die USA und die NATO bereits jetzt alles klar. Für US-Vizepräsident Biden gibt es „keine Zweifel“ daran, dass es sich um einen Giftgaseinsatz handelte und das dieser völkerrechtswidrige Angriff vom syrischen Regime ausgeführt wurde. Auch Großbritannien und Frankreich sind sich ihrer Sache sicher und warten nur noch auf den Startschuss zum lange geplanten Militäreinsatz in Syrien. Zweifel an der US-Version werden auch in den deutschen Massenmedien nicht geäußert. Gibt es denn wirklich keine Zweifel? Doch, wenn man sich abseits der Massenmedien informiert, stößt man unweigerlich auf eine ganze Schar von Indizien, die gegen die „offizielle“ US-Version sprechen. Man fühlt sich dabei unweigerlich an die Propaganda im Vorfeld des Kosovo- und des Irakkrieges erinnert. Von Jens Berger.

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Wer hatte ein Motiv?

In jedem mehr oder weniger guten Krimi fragen sich die Ermittler immer als Erstes, wer denn ein Motiv für das aufzuklärende Verbrechen hatte. Welches Motiv sollte beispielsweise der syrische Diktator Bashar al-Assad haben, in der letzten Woche, fast exakt ein Jahr nachdem US-Präsident Obama den Einsatz von chemischen Waffen als „rote Linie“ festgelegt hat, diese „rote Linie“ zu überschreiten? Militärisch sah die Situation für die Regierungstruppen im nunmehr zweieinhalb Jahre andauernden syrischen Bürgerkrieg noch nie so gut aus wie heute. Nachdem die Regierungstruppen im Juni einen strategisch wichtigen Sieg bei Kusseir erzielen konnten, befinden sich die Rebellen landesweit in der Defensive. Ein Einsatz von Giftgas würde den Regierungstruppen in einer solchen Situation keinen militärischen Vorteil bringen – erst recht nicht in den Vororten von Damaskus, in denen die Rebellen ohnehin auf zunehmend verlorenen Posten standen und offenbar bereits Kapitulationsverhandlungen im Gange waren.

Auch auf der politischen Ebene ist kein Motiv für einen Giftgaseinsatz der Regierungstruppen auszumachen. Hinter den Kulissen soll es in den letzten Monaten zu ernsthaften Spannungen zwischen Saudi-Arabien und den USA gekommen sein, da die USA immer stärkere Zweifel daran haben, ob eine Unterstützung der islamistischen Rebellen tatsächlich in ihrem Interesse sein kann. Al-Assad weiß, dass ein solches Kriegsverbrechen die NATO-Mächte und die arabischen Staaten nur enger zusammenschweißen würde, seinen eigenen Verbündeten Russland in die Defensive bringt und womöglich sogar einen Militärschlag der NATO provoziert.

Hinzu kommt, dass der vermeintliche Giftgaseinsatz in unmittelbare Nähe des Aufenthaltsortes der UN-Inspektoren ausgeübt wurde, die erst wenige Tage zuvor in Syrien ankamen. Warum sollte al-Assad seine – momentan nicht gerade unbequeme – Position aufs Spiel setzen, indem er sich die Weltöffentlichkeit durch ein Massaker zum Feind macht?
Egal wie man es dreht und wendet, man findet kein überzeugendes Motiv, das einen Giftgaseinsatz durch Regierungstruppen erklären würde. Im Gegenteil. Dafür findet man jedoch ohne große Mühe zahlreiche Motive, die einen Giftgaseinsatz durch die Rebellen erklären würden. Nicht nur der Schulterschluss der Unterstützermächte, sondern auch der angekündigte Militäreinsatz der westlichen und arabischen Staaten spielen voll und ganz den Rebellen in die Hände.

Zu den Hintergründen: Zu Syrien und weit darüber hinaus – Günther Meyer im Interview mit den NachDenkSeiten

Waren es die Rebellen selbst?

US-Vizepräsident Biden meint zu wissen, dass „das [syrische] Regime als einziges über Chemiewaffen [verfügt]“. An dieser Aussage gibt es jedoch begründete Zweifel. Nach Aussagen des Mainzer Nahost-Experten Günther Meyer deutete beim Giftgasangriff auf die Ortschaft Khan al-Assal vielmehr „alles darauf hin, dass die Aufständischen Giftgas eingesetzt haben, um die Regierung für dieses Verbrechen verantwortlich zu machen, und dadurch den Druck auf das Regime zu erhöhen“. In einem aktuellen Interview mit der Basler Zeitung präzisiert Meyer seinen Vorwurf:

„Für den ersten Chemiewaffeneinsatz in Khan al-Assal nahe Aleppo, bei dem 29 Menschen ums Leben kamen, waren die Jihadisten unter den Aufständischen verantwortlich. Auch damals beschuldigten die Oppositionellen die Regierungsarmee. Nach Recherchen der britischen Zeitung «Guardian» wurde die Giftgasgranate von einem Ort nahe der türkischen Grenze abgefeuert, der sich unter der Kontrolle der al-Qaida nahen Al-Nusra-Front befand. Mit Khan al-Assal griffen die Jihadisten einen Ort an, der von den Assad-Truppen kontrolliert wird und dessen schiitische Bevölkerung hinter dem Regime steht. Ein paar Wochen nach dem Chemiewaffeneinsatz in Khan al-Assal verhafteten türkische Polizisten eine Gruppe von syrischen Jihadisten, die einen Behälter mit Giftgas bei sich trugen. Damit ist nachgewiesen, dass die Jihadisten die Möglichkeit haben, an Chemiewaffen zu kommen.“

Quelle: Basler Zeitung

Eine spannende Frage ist, woher die in der Türkei festgenommenen Al-Nusra-Jihadisten, die von Saudi Arabien und Katar gesponsert werden, das Sarin hatten. Nach Angaben der libanesischen Zeitung al-Akhbar stammte das Sarin offenbar aus Katar. Genauso spannend ist es freilich, warum diese Story es nie in die Schlagzeilen westlicher Medien geschafft hat. Islamistische Jihadisten (also Terroristen), die in Besitz von Sarin sind. Ist das etwa keine Meldung wert? Es gibt auch noch zahlreiche – nicht ausreichend belegbare – Meldungen, nach denen islamistische Kämpfer in Syrien auch im Besitz von Giftgas aus dem Arsenal des ehemaligen lybischen Diktators Gaddafi sein sollen.

Dass die Rebellen nicht nur Giftgas besitzen, sondern auch eingesetzt haben, ist zumindest für die UN-Ermittlerin und frühere Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes Carla del Ponte klar. In einem TV-Interview beantwortete del Ponte die Frage, wer hinter den Giftgasanschlägen im April 2013 steckte unmissverständlich: „Das waren die Rebellen, nicht die Regierungsvertreter.” Später milderte ihre Aussage leicht ab und sprach von „einem starken, konkreten Verdacht, aber keinen unwiderlegbaren Beweis, dass Saringas eingesetzt wurde – und dies von Seiten der Opposition, nicht der Regierung.“

All dies sind klare Indizien (aber keine Beweise) dafür, dass die USA mit ihrer Aussage, „nur das syrische Regime“ würde über Giftgas verfügen, falsch liegen. Aber wen wundert das? Auch beim Massaker von Khan al-Assal vertraten die USA die – nicht haltbare – Version, dass nicht die Rebellen, sondern die Regierungstruppen verantwortlich seien. Der frühere UNO-Waffeninspektor Heiner Staub bezeichnet die Arbeit der US-Geheimdienste in einem Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger.

„Die Amerikaner haben schon x-mal behauptet, sie wüssten genau, was passiert sei. 2003 ja auch im Irak, und am Ende war es nicht wahr. Die angeblichen Informationen, auf die Kerry und Biden verwiesen haben, basieren wohl auf Geheimdienstinformationen, und die sind zweifelhaft. Aufgrund meiner Erfahrung traue ich den US-Experten wenig zu“

Heiner Staub

Massaker-Marketing

Die Rebellen haben also mehr als nur ein Motiv und verfügen offenbar auch über Sarin. Bereits in der Vergangenheit haben die Rebellen mehrfach eigene Massaker gegen die Zivilbevölkerung als Massaker der syrischen Regierungstruppe verkauft und so im Westen Punkte gemacht. Jürgen Todenhöfer hat für diese Form der Propaganda den passenden Begriff „Massaker-Marketing-Strategie“ geprägt. Ein Beispiel für diese Strategie ist das Massaker von Hula, das den Westen dazu brachte, die Sanktionen gegen Syrien zu verschärfen.

In diesem Zusammenhang ist auch der Granateneinschlag auf türkisches Gebiet von Interesse, der zur Stationierung der deutschen Patriot-Einheiten geführt hat. Informationen aus österreichischen Militärkreisen weisen darauf hin, dass es sich bei der Granate um ein Modell aus NATO-Beständen handelte. Ein Angriff unter falscher Flagge? Im Krieg stirbt als erstes die Wahrheit – und dies trifft auch auf den Bürgerkrieg in Syrien zu, in dem von beiden Seiten gelogen wird, dass sich die Balken biegen.

Rote Linien und scheinheilige Phrasen

Momentan deutet zwar alles darauf hin, dass es in Syrien zu einem Giftgaseinsatz gekommen ist. Vollkommen offen ist jedoch, wer für diesen völkerrechtswidrigen Angriff verantwortlich zeichnet. Alle Indizien sprechen dafür, dass der Angriff nicht von den Regierungstruppen, sondern von den Rebellen ausgeübt wurde. Ob es jemals einen Beweis geben wird, wer die Verantwortung für den Angriff trägt, ist eher unwahrscheinlich. Die UN-Inspektoren, die momentan vor Ort die Beweise sichten, haben kein Mandat, die Verantwortlichen beim Namen zu nennen. Und schlussendlich spielt es wohl ohnehin keine Rolle, was die Inspektoren finden. Dazu noch einmal Heiner Staub im Tagesanzeiger:

„Gemäss dem, was durchsickert, scheint ein Angriff eine beschlossene Sache zu sein. Was die Inspektoren finden oder nicht finden, spielt keine Rolle. Die Amerikaner haben ohnehin schon behauptet, dass es einen Chemiewaffenangriff gegeben hat, und sie sagen auch, wer dafür verantwortlich ist. Deshalb ist die Kommunikation so schwierig.“

Heiner Staub

P.s.: Zeitgleich zum vermeintlichen Giftgaseinsatz in Syrien veröffentlicht das Fachmagazin „Foreign Policy“ Beweise, die belegen, dass die CIA Saddam Hussein dabei half, im ersten Golfkrieg völkerrechtswidrig chemische Waffen gegen den Kriegsgegner Iran einzusetzen. Und auch nach den Giftgasangriffen gegen die Kurden und Schiiten im eigenen Land, konnte Saddam Hussein noch lange auf seinen treuen Verbündeten USA zählen. So viel zum Thema „rote Linien“.

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