Arabischer Winter – Wenn „Demokratie“ zum Kampfbegriff wird
Demokratie ist für die westliche Politik nur dann erstrebenswert, wenn bei Wahlen die „Richtigen“ gewinnen. Der Muslimbruder Mohammed Mursi gehörte nicht dazu. Daher haben die Regierungen der westlichen Welt offenbar auch kein großes Problem damit, dass der demokratisch gewählte Präsident Ägyptens durch eine Junta aus dem Amt geputscht wurde. Erst als die neuen Machthaber in zahlreichen Massakern tausende Demonstranten abschlachteten, machte sich in Berlin, London und Washington leises Unbehagen breit. Ägypten steuert mit voller Fahrt zurück zur Militärdiktatur. Aus dem arabischen Frühling ist ein arabischer Winter geworden – währenddessen lügt man sich im Westen in die eigene Tasche und phantasiert immer noch von einem „Transformationsprozess“. Der Westen wünscht sich keine Demokratie, sondern Stabilität. Und wenn man dafür die Demokraten niederschießen muss, dann sei dem so. Von Jens Berger
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Die Ägypter haben im arabischen Frühling des Jahres 2011 ihren Diktator Husni Mubarak aus dem Amt gejagt und sich das Recht auf freie Wahlen erkämpft. Im Juni 2012 wurde der Muslimbruder Mohammed Mursi als erster ägyptischer Präsident in freien Wahlen vom Volk mit einer – wenn auch knappen – Mehrheit von 52% gewählt. Ein Jahr später setzte das Militär Mursi ab und inhaftierte neben ihm auch noch die einflussreichsten Parteikader der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“, die 46% der Delegierten des ägyptischen Repräsentantenhauses stellt. Kurze Zeit später entließen die neuen Machthaber den gestürzten Mubarak aus der Haft und richteten in zahlreichen Massakern tausende der demonstrierenden Parteigängers Mursis auf offener Straße hin. Die Eine Million Dollar Frage lautet: Wie bezeichnet man einen solchen Vorgang?
In der Erkenntnistheorie gibt es ein schönes Sprichwort [1]: „Wenn ich einen Vogel sehe, der wie eine Ente geht und wie eine Ente schwimmt und wie eine Ente quakt, nenne ich diesen Vogel eine Ente“. Was sich am 3. Juli in Kairo abspielte, sah nicht nur so aus wie ein Putsch, sondern erfüllte auch alle andere Definitionen an einen Putsch. Doch weder Guido Westerwelle noch seine Kollegen sind bereit, diesen Putsch einen Putsch zu nennen. Barack Obama spricht stattdessen noch heute lieber von einem „Schritt zur Wiederherstellung der Demokratie“. Was für unsere Ohren wie ein schlechter Witz klingt, muss für die Millionen Ägypter, die Mohammed Mursi gewählt haben, und vor allem für die Angehörigen der Opfer wie Hohn klingen.
Von welcher Demokratie spricht Obama? Vom demokratisch gewählten iranischen Präsidenten Mossadegh, der mit Hilfe der CIA aus dem Amt geputscht und durch den Diktator Reza Schah Pahlavi ersetz wurde? Oder von dem Wahlerfolg der Islamischen Heilsfront in Algerien, die 1992 noch während der ersten freien Parlamentswahlen verboten wurde, während das Militär die Wahlen abbrach? Oder spricht Obama von der Hamas, die in freien Wahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten stärkste Kraft wurde und vom Westen schlicht nicht anerkannt wird? Oder spricht Obama vielleicht von der Demokratie in Saudi-Arabien und Bahrein? Treuen Verbündeten des Westens, die auch mit einer Überdosis schröderscher Realitätsverdrängung nur als lupenreine Diktaturen bezeichnet werden können.
Realitätsverdrehung ist auch in Mode, wenn es um Ägypten geht. Der ehemalige britische Premier Tony Blair ist beispielsweise davon überzeugt, dass die Junta das Land „zurück auf einen Pfad in Richtung freier Wahlen“ schickt und bezeichnet die Massaker der letzten Wochen als „einige sehr harte, vielleicht sogar unpopuläre Entscheidungen“. Der Putsch, der keiner sein darf, ist für Blair gerechtfertigt, da eine „effiziente Regierung manchmal erstrebenswerter [sei] als eine demokratisch gewählte Regierung“.
Wenn es darum geht, den Militärputsch in Ägypten umzudeuten, zeigt jedoch nicht nur der Westen eine erstaunliche intellektuelle Flexibilität. Die „Nationale Heilsfront“, ein Bündnis aus „liberalen“ Parteien, das rund ein Fünftel der Delegierten des Repräsentantenhauses stellt, hat ebenfalls vollstes Verständnis für den Putsch und die blutige Niederschlagung der Demonstrationen. Die Muslimbrüder seien selbst schuld, dass sie abgeschlachtet wurden, „sie [hätten ihre Protestcamps] ja freiwillig räumen können [und] da sie das nicht getan hätten, trügen sie die Verantwortung für die Todesfälle“, so ein offizielles Statement der „Liberalen“.
Interessant ist auch die Rechtfertigung der ebenfalls als „liberal“ geltenden außerparlamentarischen Tamarod-Bewegung – dort sei man „glücklich darüber, wie [die Sicherheitskräfte] ihre Rolle bei der Beantwortung der Gewalt und des Terrorismus der Muslimbrüder wahrgenommen haben“. Von einem Putsch könne man auch nicht reden, da die Armee […] doch nur den Willen des Volkes umgesetzt habe“. Diese Sichtweise ist auch in der taz salonfähig und wird zwischen den Zeilen auch vom US-Präsidenten Obama geteilt. Diese abenteuerliche Rechtfertigung würde, wenn man sie zu Ende denkt, auch dem Militär jedes EU-Staates das „Recht“ geben, zu putschen, wenn die amtierende Regierung in Meinungsumfragen deutlich unter die 50%-Hürde fällt. Ist das Demokratie?
Die ägyptische Junta hat die Zeichen der Zeit erkannt. Seit dem Blutbad vom 14. August, bei dem je nach Quelle zwischen 638 und mehr als viertausend Demonstranten zu Tode kamen, blenden sämtliche ägyptischen TV-Kanäle das Dauerlogo „Ägypten kämpft gegen den Terror“ in ihre laufendes Programm ein. Von Bush und Blair lernen, heißt siegen lernen. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, dass die „Terroristen“ rund 70% [2] der Abgeordneten im Repräsentantenhaus stellen. Eine bis an die Zähne bewaffnete Minderheit aus Militärs und „Liberalen“ erklärt demnach die Mehrheit des Volkes zu „Terroristen“ und damit für vogelfrei. Was würde der Westen sagen, wenn dies nicht in Ägypten, sondern in Russland, Syrien oder Iran geschehen würde?
Wenn es um Ägypten geht, hält der Westen die Füße lieber still. Der Wille des ägyptischen Volkes spielt bei der politischen Einschätzung des Westens – wenn überhaupt – nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ägypten hat auf dem Schachbrett der Weltpolitik für den Westen drei Funktionen: Es soll den privilegierten Zugang zum Suez-Kanal gewährleisten, religiöse Fundamentalisten unter Kontrolle halten und Israels Sicherheit garantieren. Alle diese Funktionen hat die Diktatur Mubaraks vortrefflich erfüllt und es ist davon auszugehen, dass auch Ägyptens neuer „Pharao“ al-Sisi die Wünsche des Westens in diesen drei Punkten erfüllt. Die demokratisch gewählten Vertreter der Muslimbruderschaft sind im Vergleich dazu unsichere Kantonisten. Dem Westen geht es nicht um Demokratie, sondern um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Ziele. Und wenn die Demokratie diesen Zielen im Wege steht, schaut der Westen auch mit einer Krokodilsträne im Knopfloch zu, wie die Demokratie niedergeprügelt wird.
Man kann vortrefflich darüber streiten, ob die Muslimbruderschaft eine islamistische Klientelpartei ist, die die Minderheiten nicht ausreichend schützt, oder ob sie eine sozialkonservative Bewegung von unten darstellt, die gegen die alten Eliten und den „tiefen Staat“ vorgeht. Wer Demokrat ist, muss jedoch den Willen des ägyptischen Volkes respektieren und auch aus unerfreulichen Wahlergebnissen das Beste machen. Unsere Demokraten singen das Hohelied auf die Demokratie jedoch nur, wenn es darum geht, mittels Demokratie die eigenen Ziele zu verwirklichen. Dadurch wird aus der Demokratie ein hohler Kampfbegriff und diejenigen, die ihre Ziele schon immer lieber mit der Kugel (bullet) als an der Wahlurne (ballot) durchsetzen wollten, sind die Gewinner während die Demokratie der Verlierer ist.