Die kläglichen Fundamente der Austeritätspolitik

Ein Artikel von Günther Grunert

Wenngleich große Teile der deutschen Medien in der letzten Woche die Nachricht feierten, dass das BIP im Euroraum im zweiten Quartal 2013 im Vergleich zum Vorquartal um 0,3 Prozent gestiegen ist („Es geht wieder bergauf“; „Ende der Rezession: Europa berappelt sich“ etc.), bleibt die wirtschaftliche Lage in den Euro-Krisenländern (Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, Irland, Zypern) trostlos, wie ein Blick auf die neuen, von Eurostat veröffentlichten Daten zeigt (Eurostat 2013a). So fiel in Spanien, Italien und Zypern das BIP im zweiten Quartal 2013 abermals gegenüber dem Vorquartal, wenn auch in geringerem Maße als noch zu Beginn des Jahres (für Griechenland und Irland liegen noch keine Daten für einen solchen Vorquartals-Vergleich vor). Damit ist die Wirtschaftsleistung in Spanien seit nunmehr sieben Quartalen, in Zypern und Italien gar seit acht Quartalen in Folge geschrumpft. Von den Krisenländern verzeichnet allein Portugal im zweiten Quartal 2013 einen Anstieg des BIP gegenüber dem Vorquartal (von 1,1 Prozent), wobei aber zu berücksichtigen ist, dass die portugiesische Wirtschaft zuvor zehn Quartale hintereinander geschrumpft war. Ein Gastartikel[1] von Günther Grunert.

So ging dann auch in Portugal das BIP im zweiten Quartal 2013 gegenüber dem gleichen Quartal des Vorjahres um 2 Prozent zurück, in Spanien um 1,7 Prozent, in Italien um 2 Prozent, in Griechenland um 4,6 Prozent und in Zypern gar um 5,2 Prozent (für Irland sind entsprechende Daten noch nicht verfügbar).

Die Lage ist also unverändert dramatisch, was auch die jüngst von Eurostat veröffentlichten Arbeitslosenzahlen für den Euroraum belegen (Eurostat 2013b), die in den deutschen Medien weit weniger Beachtung gefunden haben als die Wachstumsraten des BIP. Danach lag im Juni 2013 die saisonbereinigte Arbeitslosenquote in den Euro-Krisenländern zwischen 12,1 Prozent (Italien) und 26,3 Prozent (Spanien) resp. 26,9 Prozent (Griechenland, April 2013) und die Jugendarbeitslosenquote bewegte sich zwischen 26,5 Prozent (Irland) und 56,1 Prozent (Spanien) bzw. 58,7 Prozent (Griechenland, April 2013).

„Over the era of successful capitalism, mainstream economic theory lost touch with reality. When the economic theory that inspires economic policy becomes irrelevant, then the economy is on ‘The Road to Disaster’”(Hyman P. Minsky 1992, S. 6).

Eigentlich kann angesichts dieser Zahlen kein vernünftiger Mensch mehr daran zweifeln, dass die Austeritätspolitik im Euroraum gescheitert ist. Natürlich kommt jeder wirtschaftliche Absturz irgendwann zum Stillstand und deshalb werden alle Euro-Krisenländer schließlich auch wieder wachsen. Aber die ökonomische Verwüstung, die bis dahin in diesen Ländern angerichtet sein wird, dürfte dort noch Jahrzehnte nachwirken.

Über einen Punkt zumindest wird Einigkeit bestehen: Eine Politik, die so drastische soziale Einschnitte vornimmt und damit die Lebensbedingungen der betroffenen Menschen so dramatisch verschlechtert, sollte theoretisch gut begründet sein. Aber ist sie das wirklich? Dieser Frage soll im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden. In Abschnitt 1 wird gezeigt, dass die Austeritätspolitik auf einem obskuren ökonomischen Modell basiert, nämlich der sog. „ricardianischen Äquivalenztheorie“, die hier vorgestellt und einer kritischen Überprüfung unterzogen wird. In Abschnitt 2 soll auf eine weitere Schwachstelle der theoretischen Begründung der Austeritätspolitik eingegangen werden, nämlich die gänzliche Vernachlässigung saldenmechanischer Zusammenhänge in der Volkswirtschaft. Nur wer die volkswirtschaftliche Saldenmechanik komplett ignoriert, kann zu Schlussfolgerungen kommen wie der, dass Deutschland ein Vorbild für die anderen Euroländer darstelle, da hierzulande einfach „solider gewirtschaftet“ werde als in den Krisenländern; ganz so, als ob die Höhe der Staatsdefizite allein vom Willen der Regierungen abhinge und alle Eurostaaten die gleichen Möglichkeiten hätten, ihre Budgetdefizite zu verringern. In Abschnitt 3 wird anschließend das mysteriöse Wettbewerbs-Konzept analysiert, das vor allem deutsche Politiker(innen) gern zur Rechtfertigung der Austeritätspolitik anführen. Abschnitt 4 beendet mit einem kurzen Fazit die Untersuchung.

  1. Die ricardianische Äquivalenz

    Häufig werden von Ökonomen und Politikern in der Öffentlichkeit prägnante Thesen vertreten, die auf Modellen basieren, die man lieber nicht genauer erklärt. Würde man dies nämlich tun, wäre sehr schnell klar, welche abstrusen Annahmen diesen theoretischen Modellen zugrunde liegen und kaum jemand nähme die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen noch ernst.

    Ein klassisches Beispiel dafür ist die Behauptung, dass staatliche Defizite immer kontraproduktiv seien und daher ein Abbau dieser Defizite – selbst inmitten einer Rezession – nicht nur keinen Schaden anrichte, sondern ganz im Gegenteil gut für die Wirtschaft sei. Diese Behauptung stützt sich auf das Theorem der „ricardianischen Äquivalenz“, das bereits im Jahr 1821 von David Ricardo entwickelt wurde und auf das im Folgenden näher eingegangen wird.

    So kritisiert beispielsweise Fabre (2012) die frühere Entscheidung der französischen Regierung, ihr Staatsdefizit nur langsam und moderat zu verringern, heftig, da dies das Wachstumspotenzial der Wirtschaft Frankreichs belaste. Unter expliziter Berufung auf die „ricardianischen Effekte“ behauptet er: „Eine rigorose Ausgabenkürzung hätte, ceteris paribus, steigende Wachstumsraten zur Folge. Wie Kanada, Schweden oder Dänemark hat auch Deutschland gezeigt, dass eine Politik der Reduktion der Staatsverschuldung günstige Voraussetzungen dafür schafft, dass es zu einer wettbewerbsfähigen und kreativen Vermehrung von Arbeitsplätzen kommt“ (Fabre 2012, S. 12).

    Was aber ist nun das Theorem der „ricardianischen Äquivalenz“? Die Idee stammt – wie bereits erwähnt – von David Ricardo und wurde 1974 vom Harvard-Ökonomen Robert Barro wiederbelebt und mathematisch erweitert. Danach ist es für einen Staat gleichwertig (daher der Begriff der „ricardianischen Äquivalenz“), ob er seine Ausgaben durch Steuern finanziert oder durch Anleihen. Denn die Defizite von heute seien die Steuern von morgen. Ein Budgetdefizit ist nach Barro nichts anderes als eine implizite Verpflichtung des Staates, in der Zukunft die Steuern zu erhöhen, um die Schulden (Kapital und Zinsen) zurückzahlen zu können. Wie reagieren also die Konsumenten und Unternehmen darauf? In Erwartung einer größeren zukünftigen Steuerbelastung erhöhten sie ihre gegenwärtige Ersparnis, um sicherzustellen, dass sie ihren zukünftigen Steuerverpflichtungen nachkommen könnten. Oder etwas genauer: Da sie wüssten, dass der gegenwärtige, schuldenfinanzierte Staatshaushalt zwangsläufig zu Steuererhöhungen in der Zukunft führe, aus denen der Staat dann die zusätzlichen Schulden zurückzahlen müsse, reagierten die privaten Akteure auf die erhöhten Staatsausgaben sofort mit zusätzlichem Sparen, um auf die zu erwartenden höheren Steuern vorbereitet zu sein. Jede Erhöhung der Staatsausgaben führe damit unmittelbar zu einem Rückgang der Ausgaben für Waren und Dienstleistungen im Privatsektor.

    Übertragen auf den Euroraum bedeutet dies: Unternähme die Regierung eines Eurolandes den Versuch, mit einem kreditfinanzierten Ausgabenprogramm zusätzliche Nachfrage und damit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, wäre dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Denn der ricardianische Äquivalenzeffekt würde bei den Steuerzahlern sofort einen Anstieg des Sparens aus ihrem laufenden Einkommen auslösen, mit dem Ergebnis, dass die private Nachfrage in exakt gleichem Umfang sänke, wie die staatliche Nachfrage als Folge des Stimulierungsprogramms zunähme. Gestiegene staatliche Ausgaben würden mithin durch verringerte private Ausgaben ausgeglichen: es gäbe gewissermaßen ein Patt.

    Staatsausgaben haben folglich nach Barro keinen realen Effekt auf Produktion und Beschäftigung, ganz egal, ob sie durch Steuern oder durch Verschuldung finanziert werden. Wenn dagegen – so die Folgerung der Ricardo-Anhänger – die Regierungen Austeritätsmaßnahmen ankündigten, nähmen die Privatausgaben sofort zu und das Wirtschaftswachstum ziehe wieder an, da sich die allgemeine Erwartung durchsetze, dass die zukünftigen Steuerbelastungen niedriger sein würden.

    Man könnte jetzt annehmen, dass die „ricardianische Äquivalenz“ eine von vielen theoretischen Spielereien ist, deren praktische Relevanz jedoch gegen Null geht. Dem ist leider nicht so: Barros ricardianische Äquivalenztheorie ist nicht nur die offizielle Position der Europäischen Kommission in Brüssel, sondern wird auch von Reinhart/Rogoff (2010, S. 6) verwendet, um zu erklären, warum hohe Schuldenstände mit niedrigen Wachstumsraten einhergehen. Zur Erinnerung: Die Studie „Growth in a Time of Debt“ von Reinhart/Rogoff hatte – so Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman (Krugman 2013) – vielleicht einen größeren unmittelbaren Einfluss auf die öffentliche Debatte als jede andere wirtschaftswissenschaftliche Untersuchung zuvor. Reinhart/Rogoff hatten festgestellt, dass eine Staatsschuldenquote, die den Schwellenwert von 90 Prozent überschreite, das Wachstum signifikant verringere. Obgleich die beiden Autoren schon frühzeitig hinsichtlich ihrer Methodik und ihrer Schlussfolgerungen kritisiert wurden (z. B. von Wray/Nersisyarn 2011), diente ihre Studie lange als Legitimation einer harschen Austeritätspolitik, bis sich herausstellte, dass die behauptete 90-Prozent-Schwelle schlicht das Ergebnis von Rechenfehlern war.

    Aber nicht nur Ökonomen berufen sich auf die „ricardianische Äquivalenz“, auch viele Politiker haben sich die Argumentation zu eigen gemacht, manche von ihnen vielleicht, ohne zu wissen, auf welchen Prämissen sie basiert. So erklärte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem letzten EU-Gipfel in Brüssel Ende Juni dieses Jahres: „Wachstum und Haushaltskonsolidierung sind keine Gegensätze, im Gegenteil, sie bedingen einander.“ Politiker anderer Länder teilen diese Auffassung, beispielsweise in Großbritannien, wo Premierminister David Cameron und Schatzkanzler George Osborne mehrfach verkündeten, dass die britische Wirtschaft eine „expansive Fiskalkontraktion“ (expansionary fiscal contraction) erreichen könnte: Wenn man die öffentlichen Ausgaben kürze, komme es zu mehr privaten Ausgaben.[2] Ähnlich äußerte sich Christine Lagarde, damalige Ministerin für Wirtschaft und Finanzen in Frankreich und jetzt geschäftsführende Direktorin des IWF: „Wenn wir nicht das öffentliche Defizit reduzieren, wird nicht das Wachstum begünstigt. Warum? Weil die Menschen sich Sorgen machen über das öffentliche Defizit. Wenn sie sich darüber Sorgen machen, fangen sie an zu sparen. Wenn sie zuviel sparen, konsumieren sie nicht. Wenn sie nicht konsumieren, steigt die Arbeitslosigkeit und die Produktion sinkt. Deshalb müssen wir diesen Kreislauf vom Defizit her attackieren“ (Lagarde 2010; Übersetzung G. G.).

    Im Folgenden soll Barros Version der ricardianischen Äquivalenz einer theoretischen Prüfung unterzogen werden. Welche Annahmen müssen gelten, damit sich Barros Schlussfolgerungen logisch widerspruchsfrei ableiten lassen? Bei der Beantwortung dieser Frage bleibt unberücksichtigt, ob die Argumentation Barros überhaupt eine realistische Darstellung der Funktionsweise eines modernen Geldsystems ist (dies ist nicht der Fall, vgl. z. B. Mitchell 2009). Das heißt, es wird allein die Plausibilität der zugrundeliegenden Modellannahmen untersucht. Sollte irgendeine dieser äußerst restriktiven Annahmen nicht zutreffen, lassen sich auch die darauf basierenden Ergebnisse nicht aufrechterhalten.

    Insgesamt müssen vier Annahmen erfüllt sein (dazu auch Mitchell 2011):

    Erstens wird unterstellt, dass alle Bürger aus der gegenwärtigen Entwicklung der Staatsausgaben präzise abschätzen können, wie hoch ihre Steuerbelastung in der Zukunft, also beispielsweise in zehn oder zwanzig Jahren, sein wird. Und nicht nur das: Jedes Individuum ist imstande, aus seiner zukünftigen Steuerbelastung abzuleiten, wie viel es in der Gegenwart konsumiert oder spart. Alle Menschen sind in der Lage, ihre gesamten Einkommen und zu zahlenden Steuern über ihr gesamtes Leben hinweg einzuschätzen, wenn sie in jeder Zeitperiode ihre Konsumentscheidungen treffen. Es dürfte unmittelbar einleuchten, dass diese Vorstellung abwegig ist: Natürlich kennt niemand sein Gesamteinkommen in der Zukunft.

    Zweitens müssen die Kapitalmärkte „perfekt“ sein. Jeder Haushalt kann jederzeit soviel Kredit aufnehmen oder sparen, wie er möchte – und zwar zu einem festen Zinssatz, der zu jedem Zeitpunkt für alle gleich ist. Anders ausgedrückt: Es besteht für alle Individuen ein vollkommen gleicher Zugang zu Finanzmitteln. Zweifellos kann diese Annahme nicht für alle Individuen und Zeiträume gelten. Haushalte haben Liquiditätsbeschränkungen und können nicht jederzeit und in jedem Umfang Geld leihen und anlegen, wie es ihnen gefällt.

    Drittens muss die zukünftige Entwicklung der Staatsausgaben feststehen und den privaten Haushalten bzw. den Individuen, die annahmegemäß über perfekte Voraussicht verfügen (zu einer umfassenden Kritik daran vgl. Minsky 1995, S. 10ff), bekannt sein. Auch diese Prämisse ist komplett realitätsfern, da natürlich niemand perfekte Voraussicht hat und genau weiß, wieviel welche Regierung in zehn oder fünfzehn Jahren ausgeben wird.

    Viertens besteht eine zeitlich unbegrenzte Sorge um die zukünftigen Generationen. Diese Annahme ist deshalb notwendig, weil sich aus der internen Logik des Modells keine Vorhersage ableiten lässt, zu welchem Zeitpunkt in der Zukunft die Steuererhöhungen zur Schuldenrückzahlung anfallen werden. Natürlich kann der Staat (der – anders als ein Unternehmen oder ein privater Haushalt – praktisch ewig bestehen bleibt) seine Schulden, statt sie zurückzuzahlen, auch immer nur wieder refinanzieren, d.h. alte Kredite durch neue ablösen. Die Erhöhung der Steuern, die angeblich erforderlich ist, um die Schulden des Staates zurückzuzahlen, könnte also in ferner Zukunft erfolgen, möglicherweise erst in hundert Jahren oder noch viel später. Ob aber tatsächlich eine relevante Zahl von Menschen heute ihre privaten Ausgaben verringert, um (vererbbare) Sicherheitsersparnisse für den Fall zu bilden, dass irgendwann in vielleicht einhundert oder zweihundert Jahren die Steuern angehoben werden, darf wohl bezweifelt werden.

    Das Fazit ist eindeutig: Die Theorie der ricardianischen Äquivalenz ist aufgrund ihrer abstrusen Annahmen und Unplausibilitäten theoretisch nicht haltbar. Dies gilt selbst dann, wenn man ihre weiteren Modellannahmen (beispielsweise die unzutreffende These, dass der Staat in irgendeiner zukünftigen Periode seine Steuern erhöhen muss, um seine schuldenfinanzierten Ausgaben der Vergangenheit zurückzuzahlen) vorbehaltlos akzeptiert.

    Interessanterweise hat die Theorie gleich ihren ersten großen „Praxistest“ nicht bestanden. Nachdem Barro seine Version der ricardianischen Äquivalenz präsentiert hatte, wurde in vielen empirischen Untersuchungen ihre „Vorhersagefähigkeit“ geprüft. Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als der US-Kongress im August 1981 umfangreiche Steuersenkungen beschloss, weil sich die USA in einer Rezession befanden. Die Steuerreduzierungen sollten zwischen 1982 und 1984 zum Einsatz kommen, um die aggregierte Nachfrage zu stimulieren. Die Anhänger Barros prognostizierten, dass – gemäß der Theorie der ricardianischen Äquivalenz – die Menschen nun befürchten würden, dass diese Steuersenkungen über eine entsprechende Ausweitung der staatlichen Finanzierungsdefizite finanziert werden. Folglich werde der Konsum nicht zunehmen und die Menschen würden mehr sparen, um für die wachsende zukünftige Steuerbelastung aufgrund des Anstiegs der öffentlichen Verschuldung vorzusorgen. Die Realität sah völlig anders aus: Die Sparquote der privaten Haushalte stieg keineswegs, sondern sank ganz im Gegenteil von 7,5 Prozent im Jahr 1981 auf durchschnittlich 5,7 Prozent in den Jahren 1982 bis 1984.

    In der Folgezeit gab es eine Vielzahl empirischer Studien, auch von konservativen Ökonomen, die keinerlei Belege für die Gültigkeit der Ricardo/Barro-These fanden (z. B. Feldstein 1986; Feldstein/Elmendorf 1987; Evans 1993; Stanley 1998; Niple 2006; Waqas/Awan 2011 und 2012). Das ist wenig überraschend: Konsumenten, die bei Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Hochstimmung geraten, weil sie nun keine späteren Steuererhöhungen wegen höherer Defizite mehr befürchten müssen; die deshalb aufhören, für zukünftig zu erwartende Steueranhebungen zu sparen und stattdessen anfangen, mehr Geld auszugeben, selbst wenn die Arbeitslosigkeit sprunghaft ansteigt und die Löhne gekürzt werden; Unternehmen, die hohe Staatsdefizite hassen und deshalb bei staatlichen Haushaltskürzungen freudig in neue Produktionsanlagen investieren, obgleich die vorhandenen Kapazitäten mehr als ausreichend sind, um die aktuelle Nachfrage zu befriedigen, und obwohl der Absatz einbricht – solche Wirtschaftsakteure dürften in der realen Welt wohl sehr selten vorkommen. Dass eine Theorie, die ein derartiges Verhalten unterstellt und die sich (natürlich) empirisch nicht bestätigen lässt, dennoch zur Handlungsanleitung für die Politik in Europa werden konnte, ist nicht nur in höchstem Maße verwunderlich, sondern schlicht unbegreiflich.

  2. Das deutsche Modell als Vorbild für den Euroraum?

    Seit Beginn der Eurokrise sind deutsche Politiker und Ökonomen nicht müde geworden, Deutschland als Vorbild für die gesamte Eurozone zu preisen. Die relativ gute wirtschaftliche Entwicklung hierzulande, die angeblich der Reformierung des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats im Zuge der Agenda 2010 geschuldet ist, hat die Vertreter dieser Auffassung in ihrer Meinung gestärkt. Die Euro-Krisenländer – so der Tenor – sollten nicht vor ähnlich schmerzhaften Reformen wie in Deutschland zurückschrecken, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern.

    Bundesbankpräsident Jens Weidmann vertrat im September 2011 in einer Rede vor dem „American Council on Germany“ in Washington die Ansicht, dass Deutschland haushaltspolitisch ein Vorbild für die anderen Staaten der Eurozone bleiben müsste (Handelsblatt, 26.9.2011). Auf einem CDU-Parteitag in Leipzig im November des gleichen Jahres verstieg sich Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) – mit Blick auf Beschlüsse nach dem Vorbild der deutschen Schuldenbremse in Ländern wie Frankreich oder Spanien – gar zu der Behauptung: „Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“ (stern, 15.11.2011). Ein Jahr später verkündete Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble bei der Einbringung des Haushaltsentwurfs für 2013: „Wir sind für viele europäische Staaten ein Vorbild“ (reuters.com, 11.9.2012). Und im März dieses Jahres verwies Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler, der zusammen mit Wolfgang Schäuble die Haushaltsplanung für 2014 vorstellte, auf das Prinzip „Führen durch Vorbild in Europa“ und ergänzte: „Die Welt beneidet uns um unsere Erfolge“ (n24, 13.3.2013).

    Die deutsche Regierung hat ihre Vorstellungen im sog. europäischen Fiskalpakt durchgesetzt, der das deutsche Modell auf die Eurozone überträgt. Im Fiskalpakt verpflichten sich die teilnehmenden EU-Unterzeichnerstaaten insbesondere, nationale Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild einzuführen, die bis zum 1. Januar 2014 in ihren jeweiligen Rechtsordnungen verankert werden müssen. Der Fiskalpakt fordert von den teilnehmenden EU-Ländern ausgeglichene Staatshaushalte.[3] Als „ausgeglichen“ gelten hierbei Haushalte, deren jährliches strukturelles Defizit höchstens 0,5 Prozent des nominalen BIP beträgt. Nur unter „außergewöhnlichen Umständen“ dürfen die Staaten von dieser Zielmarke oder dem Anpassungspfad dorthin abweichen. Darüber hinaus enthält der Fiskalpakt u. a. eine Verschärfung des im Stabilitätspakt vorgesehenen Defizitverfahrens.

    Gerade am Fiskalpakt lässt sich sehr gut aufzeigen, dass der Versuch, das deutsche Modell auf alle anderen Euroländer zu übertragen, aufgrund der Interdependenzen zwischen den volkswirtschaftlichen Sektoren zum Scheitern verurteilt ist. Dies soll im Folgenden anhand einiger einfacher Überlegungen zur volkswirtschaftlichen Saldenmechanik näher erläutert werden:

    Von der Ausgabenseite betrachtet, setzt sich das Bruttoinlandsprodukt (Y) eines Landes wie folgt zusammen:

    1. Y = C + I + G + (X – M),

      wobei C den privaten Konsum, I die privaten Investitionen, G die Staatsausgaben (einschließlich der staat­lichen Investitionen), M die Importe und X die Exporte (inclusive des Nettoeinkommens aus dem Ausland) bezeichnen. Von der Einnahmeseite her gilt:

    2. Y = C + S + T,

      wobei S für die Ersparnis und T für die Steuern steht. Gleichung (2) zeigt also, dass wir unser Einkommen konsumieren (C), sparen (S) oder damit Steuern zahlen (T). Die zwei Formeln für Y, also für das BIP, lassen sich gleichsetzen:

    3. C + S + T = C + I + G + (X – M)

      Formt man Gleichung (3) um, ergeben sich die Finanzierungssalden der drei volkswirtschaftlichen Sektoren Privatsektor (Haushalte und Unternehmen, S – I), Staat (T – G) und Ausland (M – X), die sich zu Null addieren [4]:

    4. (S – I) + (T – G) + (M – X) = 0

      Der Finanzierungssaldo des Auslands entspricht hierbei der Leistungsbilanz mit umgekehrtem Vorzeichen.

      Zur Veranschaulichung: Deutschland beispielsweise weist im Jahr 2012 einen positiven Finanzierungssaldo sowohl des Privatsektors (163 Mrd. Euro) als auch des Staates (4,2 Mrd. Euro) auf, dem ein negativer Finanzierungssaldo des Auslands (-167,2 Mrd. Euro) gegenübersteht. Das Minuszeichen beim Finanzierungssaldo des Auslands bedeutet einen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands. Die Summe der sektoralen Finanzierungssalden beträgt also Null: 163 + 4,2 – 167,2 = 0.

      Dem Defizit eines Sektors steht folglich immer ein gleich großer Überschuss der beiden anderen Sektoren zusammen gegenüber. Wichtig ist, dass dies nicht irgendeine umstrittene Wirtschaftstheorie ist, sondern eine volkswirtschaftliche Identität, also ein rein logischer Zusammenhang, der zu jeder Zeit in jedem Land gilt. Die sektoralen Finanzierungssalden lassen sich auch in Prozent des BIP ausdrücken. Nehmen wir als Beispiel Frankreich: Dort verzeichnet im Jahr 2012 der Staat ein Defizit von 4,9 Prozent des BIP, der private Sektor einen Überschuss von 3,1 Prozent des BIP und somit beträgt das Leistungsbilanzdefizit Frankreichs 1,8 Prozent des BIP (das Ausland weist einen Überschuss von 1,8 Prozent der französischen Wirtschaftskraft gegenüber Frankreich auf): –4,9 + 3,1 + 1,8 = 0.

      Gleichung (4) lässt sich wie folgt umstellen:

    5. (S – I) = (G – T) + (X – M)

      Wenn die linke Seite der Gleichung positiv ist, d.h. der Privatsektor eines Landes insgesamt einen Finanzierungsüberschuss (Einnahmenüberschuss) erzielt (S > I), muss auch die Summe aus dem Finanzierungssaldo des Staatssektors und der Leistungsbilanz des Landes – also die rechte Seite der Gleichung – positiv (und gleich der linken Seite) sein.

    Aus diesen Überlegungen wird deutlich, warum der von Deutschland durchgesetzte Fiskalpakt, der die teilnehmenden EU-Länder zu ausgeglichenen Staatshaushalten verpflichtet, nicht funktionieren kann. Denn wenn Länder wie Deutschland dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse verzeichnen und diese auch nicht aufgeben wollen, müssen andere Länder notwendigerweise Leistungsbilanzdefizite aufweisen, denn in der Summe addieren sich Überschüsse und Defizite weltweit auf null. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, war die Leistungsbilanz der Eurozone als Ganzes seit dem Jahr 2000 zumeist nahezu ausgeglichen; lediglich im letzten Jahr (2012) ergab sich ein gewachsener Überschuss.

    Innerhalb der Währungsunion dagegen sind gravierende Ungleichgewichte entstanden, die sich erst seit 2009 spürbar abgeschwächt haben. Insbesondere Deutschland, aber auch die Niederlande und Österreich verzeichnen dabei anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse, denen permanente Leistungsbilanzdefizite von Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland und Italien entgegenstehen.

    Tabelle 1:

    Leistungsbilanzsalden [PDF – 212 KB]

    * Prognose und vorläufige Werte

    Quelle: Wirtschaftskammer Österreich, Mai 2013

    Mit seinen dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüssen, die zu einem erheblichen Teil auf Leistungsbilanzdefiziten anderer EWU-Länder basieren, verschafft sich Deutschland große Vorteile, was die Einführung der im Fiskalpakt festgelegten nationalen Schuldenbremsen betrifft. Für Deutschland ist die Realisierung eines ausgeglichenen Staatsbudgets vergleichsweise einfach. Wie aus Gleichung (5) hervorgeht, erlaubt ein Leistungsbilanzüberschuss (X – M > 0) dem Staatssektor eines Landes, einen ausgeglichenen Haushalt (G – T = 0) oder sogar einen Haushaltsüberschuss (G – T < 0) zu erzielen und trotzdem dem Privatsektor als Ganzes zu sparen (S – I > 0).[5]

    Anders sieht es bei den EWU-Südländern aus, die Leistungsbilanzdefizite verzeichnen. Bei einem Leistungsbilanzdefizit (X – M < 0) können in einem Land niemals der Staat und der Privatsektor gleichzeitig Einnahmenüberschüsse erzielen. Versuchen die Leistungsbilanzdefizitländer, ausgeglichene Staatshaushalte zu realisieren (oder gar Budgetüberschüsse), so ist dies nur dann möglich, wenn ihre Privatsektoren Ausgabenüberschüsse (S – I < 0) in Kauf nehmen (und damit eine steigende Verschuldung anhäufen). Oder etwas genauer: Ein Land mit einem Leistungsbilanzdefizit kann nur dann einen ausgeglichenen Staatshaushalt aufweisen, wenn es ein Defizit des heimischen Privatsektors akzeptiert, das in seiner Höhe exakt dem Leistungsbilanzdefizit entspricht.[6]

    Das Problem mit einer solchen Konstellation ist, dass sie sich zwar einige Jahre aufrechterhalten lässt, aber niemals nachhaltig sein kann. Wird nämlich das Wachstum des BIP durch eine Expansion der privaten Schulden getrieben (d. h. verschuldet sich der Privatsektor immer mehr), so stößt dieser Prozess irgendwann an eine Grenze: Erreicht die Höhe des Schuldendienstes einen bestimmten Prozentsatz der Einkommen, ist der Verschuldungsspielraum des Privatsektors ausgeschöpft, da die Einkommen den Schuldendienst begrenzen. Private Haushalte und Unternehmen werden dann beginnen, ihre Bilanzen umzustrukturieren, um das Entstehen einer prekären Finanzlage zu verhindern. Als Folge verlangsamt sich die aggregierte Nachfrage aus der Schuldenexpansion und die Wirtschaft gerät ins Stocken (Mitchell/Muysken 2008, S. 222).

    Zu welchen Folgen ein Wachstumspfad, der auf einer steigenden Verschuldung des privaten Sektors beruht, führen kann, lässt sich am Beispiel Spaniens studieren: Dort hatte sich mit dem Beginn der Währungsunion eine Immobilienblase entwickelt, die mit einer hohen privaten Verschuldung einherging. Als die Immobilienblase in den Jahren 2007/2008 platzte, brach die inländische Nachfrage ein, das lange Zeit verdeckte Problem der Leistungsbilanzdefizite des Landes trat offen zutage und die spanische Volkswirtschaft stürzte in eine Bilanzrezession. Danach musste der hochverschuldete Privatsektor Spaniens (Haushalte und Unternehmen incl. der Banken) mit allen Mitteln versuchen, seine Schulden abzubauen, was wiederum ein entsprechend hohes Defizit der öffentlichen Haushalte erforderte (dazu ausführlicher hier).

    Das Fazit: Deutschland ist keineswegs ein Vorbild für Europa, dem die anderen Euroländer nacheifern müssen, um wirtschaftlich zu gesunden. Deutschland ist nicht Teil der Lösung des Problems, sondern Teil des Problems. Mit seinem Lohndumping konkurrierte Deutschland die anderen Euroländer nieder und erzielte anhaltende Leistungsbilanzüberschüsse, denen spiegelbildlich Defizite der südlichen Euroländer gegenüberstanden. Deutschland trieb damit die südlichen Euro-Partnerländer in eine wachsende Verschuldung – und zwar entweder deren Privatsektor oder deren Staatssektor oder beide.[7] Eine solche Konstellation kann kein Schuldnerland der Eurozone dauerhaft durchhalten.[8]

    Wollte Deutschland tatsächlich Vorbild für den Euroraum sein, müsste es sich ganz anders verhalten. Deutschland müsste dann innerhalb der EWU mit gutem Beispiel bei der Umkehr der Lohnstückkostenpfade und damit beim Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte vorangehen, indem es stärker steigende gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten zuließe als die anderen EWU-Länder. Würden dann die südeuropäischen Länder unterdurchschnittliche Lohnstückkostenzuwächse akzeptieren, könnte damit nach einer Reihe von Jahren ein Gleichstand bei den Preisen erreicht und damit die Eurokrise entschärft werden.

    Wichtig ist, dass die beschriebene Korrektur der Fehlentwicklungen im Euroraum nicht durch eine allgemeine Lohnsenkung in den Krisenländern erfolgen dürfte (siehe dazu auch Abschnitt 3), da dies die Gefahr einer europaweiten Deflation heraufbeschwören würde [9] (vgl. auch Flassbeck/Lapavitsas 2013, S. 24f).

    Sollen die EWU-Schuldnerländer ihre Verschuldungsposition abbauen, ist allerdings noch mehr erforderlich: Für ein Schuldnerland ist eine Nettotilgung seiner Auslandsschulden nur dann möglich, wenn es einen Leistungsbilanzüberschuss aufweist. Also müssen andere Länder, vorzugsweise vorherige Überschussländer wie Deutschland, Leistungsbilanzdefizite verzeichen. Will das Gläubigerland Deutschland also Vorbild in Europa sein, darf es nicht – wie dies im Moment geschieht – mit allen Kräften seine Leistungsbilanzüberschüsse verteidigen, sondern muss bereit sein, eine Umwandlung seiner Überschuss- in eine Defizitposition hinzunehmen. Dass Deutschland von einer solchen wirklichen Vorbildrolle meilenweit entfernt ist, braucht hier nicht näher zu erläutert werden; man denke nur an die Begeisterung, mit der in den deutschen Medien alljährlich die Exportüberschüsse Deutschlands gefeiert werden.

  3. Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des Euroraums?

    Viele (vor allem deutsche) Politiker und Ökonomen sehen eine entscheidende Ursache der Probleme in der zu geringen Wettbewerbsfähigkeit des Euroraums insgesamt. So schreibt etwa Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Cicero: „Zu hohe Staatsverschuldung und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit sind die Ursachen der Krise in Europa“ (Schäuble 2013). Hier müsse entsprechend angesetzt werden, um die ökonomische Lage in der Eurozone zu verbessern. So forderte etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 24. Januar 2013 einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ in Europa, „in dem die Nationalstaaten Abkommen und Verträge mit der EU-Kommission schließen, in denen sie sich jeweils verpflichten, Elemente der Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, die in diesen Ländern noch nicht dem notwendigen Stand der Wettbewerbsfähigkeit entsprechen.“

    Tatsächlich scheint die Austeritätspolitik den Euro-Krisenländern bei der Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu helfen. Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, dass sich die Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den EWU-Ländern seit dem Jahr 2009 deutlich verringert haben. Für die Befürworter der Austeritätspolitik ist dies der Beweis für die Richtigkeit ihrer Maßnahmen: Werden in den Krisenländern die Staatsausgaben gekürzt und die Löhne gesenkt – so die Argumentation -, erhöht sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder und ihre Exporte steigen, während gleichzeitig ihre Importe zurückgehen. Folglich verbessern sich die Leistungsbilanzen der Krisenländer.

    Diese Argumentation greift jedoch viel zu kurz. Richtig ist, dass die Austeritätspolitik in den südlichen Krisenländern zu sinkenden Importen geführt hat. Das aber kann auch allein auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass die Importausgaben eine Funktion des inländischen Einkommenswachstums sind, das in den Krisenländern massiv eingebrochen ist; es muss also nicht bedeuten, dass in diesen Ländern die einheimischen Güter im Vergleich zu den ausländischen Konkurrenzprodukten preislich wettbewerbsfähiger geworden sind (und die Inländer deshalb verstärkt inländische statt ausländischer Güter nachfragen).

    Ob es den südlichen Krisenländern wirklich gelungen ist, ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit signifikant zu verbessern (und damit ihre Exporte zu erhöhen), muss nach einer Untersuchung von Mitchell (2013) stark bezweifelt werden. Der Autor geht dieser Frage anhand der BIZ-Indizes der effektiven Wechselkurse nach, die monatlich von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) veröffentlicht werden (dazu ausführlicher Klau/Fung 2006). Der nominale effektive Wechselkurs einer Währung ist ein Index, der aus einem gewichteten Durchschnitt von bilateralen Wechselkursen errechnet wird. Wenn man den nominalen effektiven Wechselkurs um eine Messgröße für relative Preise resp. Kosten bereinigt, erhält man den realen effektiven Wechselkurs (REER). In den Veränderungen des REER finden also Entwicklungen der nominalen Wechselkurse und das Inflationsgefälle gegenüber den Handelspartnern Berücksichtigung. Reale effektive Wechselkurse liefern damit eine Messgröße der internationalen Wettbewerbsfähigkeit: Steigt der REER, kann daraus gefolgert werden, dass das Land international weniger wettbewerbsfähig geworden ist, sinkt der REER, gilt das Umgekehrte.

    Mitchell betrachtet die Veränderungen der realen effektiven Wechselkurse (sog. „enge Indizes“ für 27 Volkswirtschaften) von Januar 2008 (=100) bis April 2013 – und zwar für Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien und die Eurozone insgesamt. Nach Beginn der Krise sind die realen effektiven Wechselkurse der untersuchten Länder tendenziell gefallen, für die Eurozone insgesamt auf einen Indexwert von 91,9 und für Deutschland auf 93,5 im April 2013. Bei den Krisenländern des Euroraums ist jedoch im gleichen Zeitraum nur im Fall Irlands der reale effektive Wechselkurs deutlich gesunken (auf 88,7), während die realen effektiven Wechselkurse der anderen Euro-Krisenländer in der Austeritätsperiode nur geringfügig zurückgegangen (Indexwerte für Portugal und Italien jeweils 98,2 und für Spanien 99,3) oder sogar gestiegen sind (Griechenland: 101,6) [10]. Offensichtlich haben es also die südlichen Krisenländer bislang nicht geschafft, ihre Wettbewerbsfähigkeit wesentlich zu erhöhen. Der Abbau der Leistungsbilanzdefizite dieser Länder in den letzten Jahren dürfte daher nicht primär einer deutlichen Exportverbesserung, sondern in erster Linie den krisenbedingt gesunkenen Importen geschuldet sein. Der Importrückgang einer einbrechenden Volkswirtschaft führt jedoch nicht zu einer dauerhaften Verbesserung der Handelssituation, da bei jedem wieder aufkommenden Wachstum das Importproblem erneut auftaucht, solange die inländischen Preise nicht deutlich gefallen sind.

    Nehmen wir dennoch einmal an, es gelänge den EWU-Südländern tatsächlich (zunächst), mit Lohnkürzungen ihre Wettbewerbsfähigkeit substanziell zu verbessern. Dies wirft die Frage auf, zu wessen Lasten dies geht oder gehen sollte. Denn Wettbewerbsfähigkeit ist ja ein relatives Konzept, bei dem der eine gewinnt, was der andere verliert. Die gelegentlich geäußerte Ansicht, alle Euroländer müssten im Handel untereinander ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern, scheitert an den Gesetzen der Logik. Sie kommt der Forderung gleich, alle Vereine der Fußball-Bundesliga müssten „wettbewerbsfähiger“ werden, so dass in der Abschlusstabelle der kommenden Bundesliga-Saison jeder Verein gegenüber der abgelaufenen Saison um mindestens einen Tabellenplatz nach oben rückt.

    Da innerhalb der EWU weder Deutschland noch die anderen Überschussländer eine erkennbare Bereitschaft zeigen, ihre Exportüberschüsse aufzugeben, bleibt als einzige Möglichkeit, dass die Europäische Währungsunion als Ganzes gegenüber dem Rest der Welt wettbewerbsfähiger wird, d. h. dauerhaft Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der übrigen Welt erzielt. Wenn aber ein so großer Wirtschaftsblock wie die EWU seine Wettbewerbsfähigkeit signifikant erhöht, wer soll dann an Konkurrenzfähigkeit einbüßen? Der Versuch der EWU insgesamt, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnsenkungen zu steigern, würde irgendwann die Handelspartner zwingen, mit einer Abwertung ihrer Währungen gegenüber dem Euro oder mit Handelsschranken auf die veränderte Lage im Außenhandel zu reagieren.

    Aber selbst wenn dies eine Zeit lang nicht geschähe, wäre die Strategie, durch Lohnsenkungen konkurrenzstärker zu werden, für die südlichen Euro-Krisenländer keine Option. Denn die Wirkung einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit hängt entscheidend vom relativen Gewicht des Außenhandels und der Binnenwirtschaft in einem Land ab. Da in den südlichen EWU-Ländern der Binnenmarkt quantitativ viel bedeutsamer ist als der Außenhandel (die Exportquoten erreichen dort nur eine Größenordnung von etwa 25 Prozent), übertreffen die negativen Auswirkungen einer Lohnkürzung auf die Binnennachfrage bei weitem die positiven Exporteffekte. Ein anderer Punkt kommt hinzu: Der Versuch eines Landes, durch Lohnsenkungen die für die gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden Lohnstückkosten zu verringern, führt häufig – als Reaktion auf den lohnbedingten Nachfrageausfall und die verstärkte Rezessionsphase – zu einem Rückgang der Unternehmensinvestitionen, der dann wieder das zukünftige Produktivitätswachstum negativ beeinflusst. Es ist deshalb noch nicht einmal sicher, ob die Lohnsenkungsstrategie langfristig tatsächlich zu der angestrebten deutlichen Reduzierung der Lohnstückkosten führt.

  4. Fazit

    Welche Begründung man auch immer für die harte Austeritätspolitik in Europa heranzieht – sie ist nicht stichhaltig. Es ist daher auch wenig überraschend, dass die erhofften Erfolge ausgeblieben sind. Stattdessen ist die Wirtschaftsleistung in den südlichen Euroländern massiv eingebrochen und die Arbeitslosigkeit stark gestiegen. Die Krise gefährdet auch den Bankensektor in den südeuropäischen Ländern, der mit immer höheren Kreditausfallquoten zu kämpfen hat (Lindner 2013). Verlieren die Banken an Eigenkapital, gefährdet dies ihre Solvenz, gehen sie pleite, müssen sie durch staatliche Neuverschuldung rekapitalisiert werden, um einen kompletten Einbruch der Kreditversorgung zu verhindern. Damit aber steigen wiederum die Schulden der betroffenenen Euro-Staaten, deren Solvenz abermals verschlechtert wird.

    Aus diesem Krisenkomplex gibt es nur einen Ausweg: Die sofortige Beendigung der Austeritätspolitik und eine fundamentale Änderung der Wirtschaftspolitik im Euroraum. Leider ist im Moment nicht erkennbar, woher angesichts der politischen Konstellationen in der Eurozone eine solche Kehrtwende kommen soll. Solange in der EWU die Fiskalpolitik ideologisch blockiert bleibt und eine koordinierte Lohnpolitik nicht einmal im Ansatz stattfindet, ist keine Krisenlösung in Sicht. Gerade deshalb ist es m. E. dringend notwendig, eine „konstruktive Euro-Exit-Debatte“ zu führen, d. h. sich mit der Frage zu befassen, ob nicht – gerade im Interesse der südlichen Euroländer – eine Auflösung der Währungsunion angestrebt werden sollte und wie diese gegebenenfalls möglichst friktionsarm umgesetzt werden könnte.

Literatur


[«1] Für die Durchsicht dieses Beitrags und wertvolle Hinweise möchte ich mich sehr herzlich bei Graham Wrightson, Centre of Full Employment and Equity, Universität Newcastle (Australien), bedanken.

[«2] Osborne begründet diese Auffassung mit einer ricardianischen Äquivalenz „light“: „Modern economics understands the importance of expectations and confidence. Businesses and individuals look to the future, and while they are not the perfectly rational creatures assumed by the theory of Ricardian equivalence, uncertainty over the future paths of tax rates and government spending does play an important role in their behaviour. This is particularly true when it comes to consumer spending and business investment […] a credible fiscal consolidation plan will have a positive impact through greater certainty and confidence about the future” (Osborne 2010).

[«3] Neben den Ländern des Euroraums nehmen noch weitere EU-Staaten am Fiskalpakt teil. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich jedoch auf die EWU-Länder.

[«4] Anders als viele Mainstream-Ökonomen heute und damals hatte der US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky die saldenmechanische Identität, die besagt, dass den Veränderungen der finanziellen Aktiva insgesamt eine gleich große Veränderung der finanziellen Passiva gegenüberstehen muss, stets im Blick: „A fundamental proposition in economics is that the sum of realized financial surpluses (+) and deficits (–) over all units must equal zero. This follows from the simple point that every time some unit pays money for the purchase of current output, some other unit receives money. Because the different sectors of the economy (e.g., households, business firms, government, and financial institutions) are consolidations of elementary units, this proposition also holds for the various aggregations. If the federal government spends $73.4 billion more than it collects in taxes, as it did in 1975, then the sum of the surpluses and deficits over all other sectors equals $73.4 billion surplus” (Minsky 1986, S. 26f).

[«5] Dabei spart der Privatsektor als Ganzes immer dann, wenn der Leistungsbilanzüberschuss größer als der staatliche Haushaltsüberschuss ist. Unter „Sparen“ ist hier die Geldvermögensbildung als Differenz zwischen den Einnahmen in einer Zeitperiode und den Ausgaben in derselben Zeitperiode zu verstehen. Gibt ein Sektor (oder Wirtschaftssubjekt) in einer Periode weniger aus, als er einnimmt, so erzielt er einen Einnahmenüberschuss, d. h. er „spart“. Dieser Ein­nah­menüberschuss erhöht dann entweder den schon vorhandenen Geldvermögensbestand oder er ermöglicht es, den Schuldenstand zu reduzieren.

[«6] Dies könnte die Frage aufwerfen, was geschieht, wenn in einem Land mit einem Leistungsbilanzdefizit der Staat und der Privatsektor das Unmögliche versuchen und beide gleichzeitig Einnahmenüberschüsse anstreben. Nehmen wir an, der Staat beginnt also, seine Ausgaben zu kürzen, während auch der Privatsektor als Ganzes zu sparen versucht (und deshalb seine Ausgaben reduziert). Die Folge ist dann, dass die aggregierte Nachfrage und mit ihr der Output und das Volkseinkommen fallen. Das sinkende Einkommen aber verringert nicht nur die Sparfähigkeit des Privatsektors, sondern verschlechtert auch über die automatischen Stabilisatoren den staatlichen Finanzierungssaldo. Gleichzeitig verbessert sich die Leistungsbilanz, da die Importe des Landes zurückgehen (die Importausgaben sind eine Funktion des inländischen Einkommenswachstums). Am Ende werden durch die Einkommensanpassungen die Finanzierungssalden des Staates, des Privatsektors und des Auslands wieder in Einklang gebracht, aber insgesamt bei einem niedrigeren BIP.

[«7] Dies lässt sich vielleicht noch einfacher erkennen, wenn man Gleichung (4) noch einmal umstellt:
(6) (X – M) = (S – I) + (T – G)
Die Summe aus dem Defizit oder dem Überschuss des Privatsektors einerseits und dem staatlichen Haushaltsdefizit oder –überschuss andererseits ergibt die Leistungsbilanz eines Landes. Gibt eine Volkswirtschaft in der Summe von privatem Sektor und öffentlichem Sektor in einem Jahr mehr aus, als sie einnimmt (verbraucht sie folglich mehr, als sie produziert), so verzeichnet sie ein Leistungsbilanzdefizit (X – M < 0) und verschuldet sich gegenüber dem Ausland.

[«8] Dies liegt beim Staatssektor keineswegs allein an den Vorgaben des Stabilitätspakts (Obergrenze für die jährlichen Haushaltsdefizite von 3 Prozent, Schuldenstand von maximal 60 Prozent des BIP). Anders als etwa die USA, Japan oder Großbritannien, die jeweils über eine eigene, souveräne Währung verfügen und die daher keinerlei Solvenzrisiko aufweisen, haben die einzelnen Staaten der Eurozone ihre Währungssouveränität aufgegeben (der Euro ist für sie eine Fremdwährung) und unterliegen damit einem Solvenzrisiko. Eine umfangreiche staatliche Kreditaufnahme eines Eurolandes kann deshalb zu Unsicherheiten über seine zukünftige Zahlungsfähigkeit, in der Folge zu spekulativen Attacken, einem Preisverfall der Staatsanleihen des Landes und damit zu Finanzierungsproblemen des Staates führen.

[«9] Die von einer Deflation ausgehenden Risiken werden häufig unterschätzt. Tatsächlich sind Deflationen weit gefährlicher als Inflationen, da sich die reale Schuldenlast insbesondere der Unternehmen mit der Deflationsrate erhöht. Bei unveränderten nominalen Verbindlichkeiten – sie können nicht kurzfristig gesenkt werden, da die Schuldenbestände der Unternehmen über viele Jahre aufgebaut werden und Kreditverträge mehr oder weniger lange Laufzeiten aufweisen – sehen sich die Unternehmen mit sinkenden nominalen Umsatzerlösen konfrontiert. Werden einzelne Unternehmen deshalb zahlungsunfähig, können Kreditketten reißen und schließlich zu der Gefahr eines kumulativen Zusammenbruchs von Unternehmen führen, wodurch auch wieder das Bankensystem gefährdet wird.
Schlimmer noch: Bei der Erwartung weiter sinkender Preise geht die Investitionsnachfrage zurück (da bei fallenden Absatzpreisen die Kalkulationsgrundlage für Sachinvestoren so unsicher ist, dass sie Investitionsprojekte verzögern) und auch die Konsumenten verschieben Käufe auf die Zukunft, so dass die aggregierte Nachfrage massiv einbricht. Minsky (1984, S. 6) bezeichnet eine Deflation daher zu Recht als „the path to disaster“.

[«10] Eine Aktualisierung der von Michell vorgelegten Daten (Indexwerte für Juni 2013 statt – wie bei Mitchell – für April 2013 mit unverändert Januar 2008 = 100) führt zu geringfügig abweichenden Werten, an den grundlegenden Ergebnissen ändert sich jedoch nichts.

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