„Demokratie-Verdruss“ oder unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie bei uns?
In verschiedenen Medien finden sich Meldungen und Kommentare über den angeblichen Demokratie-Verdruss der Deutschen, insbesondere im Osten, den der Deutschlandtrend von Infratest dimap (veröffentlicht am 3.11.) festgestellt habe. Die Aufregung ist groß. Das fordert geradezu heraus zu einer Kommentierung. Denn erstens steckt in Meldungen über einen angeblichen Demokratie-Verdruss eine beachtliche Neigung zur Manipulation oder einfach nur unendlich viel Leichtfertigkeit bei der Interpretation. Zweitens: Dass man sich über die Unzufriedenheit der Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie wundert, wundert mich. Die Unzufriedenheit ist leicht zu erklären. Manche üblichen Erklärungsversuche übersehen nahe liegende Ursachen. Albrecht Müller.
Zu erstens: Manipulierende Interpretation
Spiegel-Online überschreibt einen Artikel mit „Demokratie-Verdruss“ und macht ein Spiegel-Online-Forum auf mit der Frage „Demokratie ein Auslaufmodell?“ Über einem Spiegel-Essay von Franz Walter steht sogar „Staatsverdruss“. Er liest aus der Infratest dimap-Umfrage heraus: „Das Volk will von der wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaft der Neuzeit nichts mehr wissen.“ Ein Auslaufmodell!?
Diese Interpretation ist schon ganz schön leichtfertig. Ein Blick in die Veröffentlichung von Infratest dimap genügt. Dort heißt es: „Jeder Zweite mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden.“ (Darauf weist übrigens zurecht auch Hans Jochen Vogel in einem weiteren Spiegel Online-Interview hin.)
Die Frage von Infratest dimap lautete: „Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert alles in allem sehr zufrieden/zufrieden?“
An dieser Fragestellung und auch an dem interpretierenden Text des Umfrageinstituts ist nichts zu kritisieren. Es war eindeutig nach der Art und Weise des Funktionierens der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland gefragt worden. Damit, wie sie bei uns tatsächlich funktioniert, sind 46% im Westen und 68% im Osten nicht zufrieden. Dass darunter auch solche sind, die mit dem demokratischen System insgesamt nicht einverstanden sind, will ich nicht bestreiten. Aber die Zahlen sagen darüber nichts.
Zu zweitens: Dass man sich über die Unzufriedenheit der Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie wundert, das wundert mich nun wirklich. Die Unzufriedenheit ist leicht zu erklären:
- Beginnen wir mit dem Osten. Den Menschen ist versprochen worden, dass der Beitritt zur bundesrepublikanischen Demokratie ihnen mehr Glück und „blühende Landschaften“ (Kohl) bringt. Mehr als ein Fünftel von ihnen sind aber heute arbeitslos und sehen keine berufliche Perspektive mehr. Ihre Familien, Dörfer und Städte leiden unter der Abwanderung von jungen Leuten und gerade der beruflich Qualifizierteren und sie alle – auch im Westen – unter der zunehmenden Ungerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Und darunter, dass für sie wichtige staatliche Angebote wie Jugendzentren oder Fürsorgemaßnahmen heruntergefahren und ausgedünnt werden. Die gerade für die Schwächeren wichtigen öffentlichen Leistungen sind ein Opfer der Entstaatlichungs- und Privatisierungsideologie. Die schönen Reden der Politiker von „Freiheit“ und „Eigenverantwortung“ wirken auf immer mehr Menschen angesichts ihrer täglich erfahrbaren Perspektivlosigkeit wie Hohn.
- Viele Menschen erkennen, dass die herrschenden Kreise die Interessen der Großen bedienen und bei den Kleinen zulangen. Die Vermögenssteuer wurde gestrichen, die Gewinne der „Heuschrecken“ sind steuerfrei gestellt worden, die Spitzensteuersätze und die Unternehmenssteuern wurden gesenkt; im Gegenzug wird wurden Pendlerpauschale und Sparerfreibetrag beschnitten und es wird die Mehrwertsteuer, die gerade die niedrigen Einkommensbezieher am stärksten trifft, um drei Punkte erhöht.
- Demokratie heißt Volksherrschaft, aber auf die Wünsche der Mehrheit des Volkes nach einer gerechten und solidarischen Gestaltung unseres Landes wird kaum noch Rücksicht genommen. Die Mehrheit der Deutschen ist nach wie vor für solidarische, sozialstaatliche Lösungen bei der Absicherung der Risiken des Älterwerdens, des Krankwerdens, des Arbeitsloswerdens. Das hat sogar die von McKinsey getragene Umfrage „Perspektive Deutschland“ ergeben. Aber die sog. „Reformen“ gehen gerade in die entgegengesetzte Richtung, nämlich auf Verlagerung der allgemeinen Lebensrisiken in die private Absicherung. Nicht Solidarität sondern Eigenverantwortung steht auf der Agenda. Die Eliten machen Propaganda für Privatvorsorge und die Politik begleitet diese Stimmungsmache mit entsprechenden Entscheidungen – ohne Rücksicht auf die Interessen der Mehrheit, aber mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen, die hinter diesen Eliten stecken – im konkreten Fall etwa der Altersvorsorge den Interessen der Finanzwirtschaft, also der Banken und der Versicherungskonzerne. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist ein typischer Fall. Das ist sachlich überhaupt nicht zu begreifen – wer wüsste denn heute, wie hoch die Erwerbsbeteiligung in 10, 20 oder gar 30 Jahren ist – die Erhöhung wurde nur beschlossen, um die Menschen mit einer gesetzlichen Rentenversicherung weiter zu verunsichern und der Versicherungswirtschaft ein Verkaufsargument mehr für eine private Vorsorge in die Hand zu geben.
Unsere Eliten zerstören schon seit Jahren mit Propaganda und mit vielfältigen politischen Entscheidungen das Vertrauen in die gesetzliche Rente und damit das Vertrauen in eine wichtige gesellschaftliche Einrichtung.
Unsere Eliten haben mit Hartz IV nicht nur die von Arbeitslosigkeit schon Betroffenen nach einem Jahr dem Schutz der Arbeitslosenversicherung entzogen, sie haben auch jenen Millionen Menschen, die noch Arbeit haben, das Vertrauen geraubt, wenigstens einen finanziellen Schutz gegen Arbeitslosigkeit zu haben und nicht schon nach einem Jahr in Armut zu fallen. Alle diese Entscheidungen sind gegen die Interessen und über die Köpfe der Betroffenen hinweg getroffen worden – im Gegenteil man hat sie sogar als Faulenzer oder gar „Schmarotzer“ (Clement) beschimpft. Und da wundert man sich noch, dass die Mehrheit der der Betroffenen und Verunsicherten zu zweifeln beginnt, ob bei uns das Volk bzw. die Mehrheit des Volkes genug zu sagen hat. - Dass auf die Wünsche der Mehrheit keine Rücksicht genommen wird, das wurde von unseren Top-Eliten auch schon freimütig erklärt und angekündigt. So berichtete der „Stern“ unter dem Titel „Revolution von oben“ über die Hintergründe der Gründung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ durch die Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie. Ihr Präsident Kannengießer hatte damals offen erklärt, die Arbeitgeber von Gesamtmetall hätten in einer Umfrage 1999 festgestellt, dass das, was die Bevölkerung wolle, und das, was die Führungskräfte in der Wirtschaft für notwendig hielten, himmelweit auseinander klaffe, und dass Gesamtmetall deshalb die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ gegründet habe. Diese Organisation zur Gehirnwäsche des störrischen Volkes macht seit dem Jahr 2000, zunächst ausgestattet mit 100 Millionen DM für die ersten fünf Jahre, und dann kräftig finanziell draufgelegt weiter und vermehrt Propaganda für die Ideologie und die Interessen der Oberschicht. Soll und kann Demokratie so „funktionieren“?
Wir haben in den NachDenkSeiten schon am 4. Februar 2004 den Beitrag des „Stern“ dokumentiert
Eine Beschreibung und Bewertung dieser Vorgänge finden Sie auch in meinem Buch „Die Reformlüge“, insbesondere auf den Seiten 65 ff. - Viele Menschen erkennen und erleben, dass mächtige und einflussreiche Interessengruppen immer mehr und auf vielfältige Weise die öffentliche Meinung in ihrem Sinne beeinflussen: über Werbung, über Lobbygruppen, über Publicrelations Agenturen, über eigens dafür gegründete und bezahlte „Bürger“-Initiativen und PR-Organisationen. Die Mehrheit der Menschen beginnt zu begreifen, dass wer ausreichend viel Geld hat, auch die politischen Entscheidungen in seinem Sinne beeinflussen kann. Und natürlich weiß die Mehrheit, da sie nicht über die finanziellen Mittel und Beziehungen verfügt, um auch nur eine im Ansatz ebenbürdige Propaganda wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zu machen. Wir haben es inzwischen mit einem Geflecht des organisierten Einflusses zu tun. Die große Mehrheit unseres Volkes hat diesen Einfluss nicht. Sie ist Opfer der täglichen Meinungsbeeinflussung bis hin zum Brainwashing.
- Viele Menschen erkennen auch, wie sehr wichtige politische Entscheidungen von mächtigen und finanzstarken Interessen bestimmt werden und wie sehr auch hochgestellte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit diesen Interessen verflochten sind – die vielen Aufsichtsratsmandate und Zuwendungen an viele Abgeordneten oder der Wechsel abgehalfterter Politiker als „Berater“ oder als Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der einschlägigen Wirtschaft sind da nur die sichtbare Spitze des Eisberges. Sie erleben bei den immer zahlreicher werdenden Fällen von Privatisierung öffentlichen Eigentums (Wohnungen, Bahn, Wasser), dass sich dort Gruppen von meist inaktiven aber auch aktiven Politikern, Wissenschaftlern und auch Medienvertreter tummeln und „absahnen“. Es bleibt doch nicht immer verborgen, dass viele Privatisierungsentscheidungen zum Beispiel nicht fallen, weil das Ergebnis nach Privatisierung besser wäre als vorher, sondern weil Gruppen von Anwälten, Beratungsunternehmen, Publicrelations Agenturen und Einzelpersonen daran massenhaft Geld verdienen. Es bleibt auch nicht verborgen, dass viele weniger Begüterte dann über höhere Gebühren für die Wasserwerke zum Beispiel oder über höhere Mieten die Kosten der Privatisierung bezahlen.
- Es bleibt doch nicht auf Dauer verborgen, dass die „demokratische“ Macht in der Bundesrepublik, dass auch staatliche Macht von privaten Personen und Einrichtungen usurpiert wird. Bestes Beispiel dafür sind die Bertelsmann-Stiftung und die von ihr kontrollierten Unternehmen vor allem im Mediensektor. Obwohl, nach allem was wir wissen, eine große Mehrheit der Bevölkerung Studiengebühren für falsch hält, entscheiden nicht die Familien mit Kindern, die ihre Kinder studieren lassen wollen, ob ihre Kinder demnächst Studiengebühren zahlen sollen. Darüber haben im Wesentlichen die Bertelsmänner und konkret ihr Ableger CHE, entschieden.
Gerade erschien eine gute Übersicht über diese Einflussnahme auf die Hochschulpolitik. Sie wird wesentlich von Bertelsmann gesteuert. Die Parteien, allen voran die CDU, und die Regierungen geben sich dafür her.
Ist es angesichts dieser Fremdbestimmung, ja angesichts der Systemveränderung von oben und der Unterwanderung und Aushöhlung der Volksherrschaft (alias Demokratie) verwunderlich, dass jeder zweite mit diesem „Funktionieren der Demokratie“ unzufrieden ist? Man kann dieses Ergebnis auch so interpretieren: die Mehrheit unseres Volkes beginnt aufzuwachen und aufzugehren, nicht gegen die Demokratie, sondern dagegen, wie die Demokratie bei uns „funktioniert“. Die Menschen haben erkannt, dass mit ihnen unter dem Deckmantel der Demokratie ein falsches Spiel gespielt wird.
Offensichtlich immer mehr (durchaus demokratisch gesinnte) Menschen beginnen zu zweifeln. Zweifeln zu können, kritisch fragen zu können, ist aber gerade eine wichtige Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. So gesehen können die Umfrageergebnisse auch zuversichtlich stimmen, wenn daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen würden.
Wichtig wäre dafür etwa, dass auch immer mehr Journalisten wieder das Zweifeln, das Hinterfragen von Interessen und deren Propaganda lernten, und dass die Medienunternehmer dies zuließen und die ihnen vom Grundgesetz garantierte Medienfreiheit ernst nähmen und sich wieder auf ihre Rolle als Faktoren und Medium der öffentlichen Meinung, d.h. der Meinung aller Bürgerinnen und Bürger besännen. Aber schon allein daran muss man zweifeln, ja verzweifeln, wenn man hört, dass der von den Italienern abgewählte, reichste Mann Italiens und mehrfach wegen Korruption angeklagte und überführte Silvio Berlusconi möglicherweise nach der SAT1Prosieben-Gruppe greift. Solche Vorgänge, einschließlich der gesamten Konzentration im Medienbereich und der Volksverdummung durch die elektronischen Medien, sind um vieles besorgniserregender für das „Funktionieren der Demokratie“ als das Ergebnis der Umfrage von Infratest dimap, das eher die Verzweiflung der Mehrheit an unserer Demokratie widerspiegelt als den „Verdruss“ am demokratischen Staatswesen. Wie wir aber aus unserer Geschichte wissen, kann Verzweiflung leicht in Verdruss umschlagen und zu einer Abkehr „von der wichtigsten gesellschaftlichen Errungenschaft der Neuzeit“ (Franz Walter) führen.
Diejenigen, die solche Warnsignale nicht ernst nehmen und jetzt die Meinungsumfrage nutzen, um die Mehrheit des Volkes als undemokratisch zu beschimpfen, tragen zu zunehmendem Verdruss beim Volk bei.