Zur Konstellation vor der Wahl
Im Deutschlandradio Kultur hatte ich am 7.8. gesagt, dass ich zum ersten Mal verstünde, wenn Leute nicht zur Wahl gingen. Dieses Verständnis hat einige NachDenkSeiten-Leser irritiert. Ich werte dies als Anstoß klarzustellen, wie ich die Konstellation vor der Bundestagswahl am 22.9. sehe und was noch bliebe, um einen politischen Wechsel einzuleiten. Albrecht Müller.
- Wahrscheinliche Wahlergebnisse und wahrscheinliche Koalitionen. Rot-Grün ist als Möglichkeit nicht dabei.
„Mit Peer Steinbrück wird es keine Alternative zu Schwarz-Gelb geben. Dabei hätte unser Volk eine Alternative zu Angela Merkel und Schwarz-Gelb verdient.“ Das konnten Sie am 1. Oktober 2012, also vor über zehn Monaten auf den NachDenkSeiten lesen. Am 1. Januar 2013 beschworen wir die SPD-Spitze, Steinbrück aus dem Verkehr zu ziehen. Am 22. April 2013 rechneten wir auf der Basis der neuesten Umfragen noch einmal vor, warum der Traum von der Rot-Grünen-Mehrheit mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Illusion bleiben wird. Wir warnten davor, nicht aus Lust am Versagen, sondern aus Sorge um das kommende Desaster und weil wir einfach die verfügbaren Daten analysierten und die Elemente erfolgreicher Wahlkämpfe mit dem verglichen, was die SPD und Rot-Grün mit Steinbrück und auch thematisch zu bieten haben.
Zwischenbemerkung: Wir wissen, dass Umfragen mit Vorsicht zu genießen sind. Dieser Vorbehalt gilt immer noch. Z.B. zu Umfrageergebnissen für kleinere Parteien: Bei der FDP z.B. muss man davon ausgehen, dass ihre Chancen, bei Wahlen über 5% zu kommen in den letzten Jahren bei Umfragen regelmäßig unterschätzt wurden. Wie die Chancen der Piraten einzuschätzen sind, über die 5% zu kommen? Eher unwahrscheinlich. Sie pendeln bei den neuesten Umfragen von sieben Instituten zwischen 2 und 4%.
Andere Medien haben seltsam lange die Illusion genährt, für Rot-Grün gäbe es eine Chance. Anfang August endlich kam auch das Zentralorgan der neoliberalen Ideologie für die gehobenen Stände, SpiegelOnline, zum Ergebnis: Rot-Grün schafft es nicht. Diese Option ist in einer Analyse von Roland Nelles vom 7. August unter der Überschrift „Drei Szenarien für den Wahlausgang – Das kommt auf Deutschland zu“ schon gar nicht mehr enthalten.
Es gibt nach dieser Analyse nur noch drei Koalitionsmöglichkeiten und alle mit Angela Merkel als Kanzlerin, also alle ohne einen wirklichen politischen Wechsel:
- Fortsetzung Schwarz-Gelb
- Die große Koalition
- Schwarz-Grün
- Eine gefährliche Konstellation für die SPD: Bandwaggon
Nach den neuesten Umfragen erreicht Rot-Grün im Schnitt zwischen 37 und 38%. Bis zum 22.9. – also in knapp 5 Wochen – noch einen Zuwachs von mindestens 9 Punkten zu erreichen, ist illusionär. Die SPD pendelt zwischen 23 % und 26 %. Wenn jetzt von einem größeren Kreis von Menschen und vor allem auch von Sympathisanten und Anhängern der SPD erkannt wird, dass die SPD-Führung ihre Anhänger bisher einer Illusion hinterher hat laufen lassen, dann führt dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Abwärtsspirale. Sie wird beschleunigt dadurch, dass unpolitische Wechselwähler sich in einer solchen Situation auf die Seite der Stärkeren schlagen. Man nennt das einen „Bandwaggon-“ oder „Go-with-the-Winner“-Effekt.
Die SPD und Steinbrück versuchen in diesen Tagen, diesem Effekt mit neuen Offensiven entgegen zu arbeiten. Das wird nach meiner Erfahrung nicht funktionieren – auch deshalb nicht, weil gleichzeitig von einigen Sozialdemokraten gerade eine Kampagne pro Agenda 2010 angezettelt wird und insgesamt wie etwa bei der Klage von Müntefering über den Wahlkampf (siehe z.B. hier) schon zu erkennen ist, dass die Schuldzuweisung für die Wahlniederlage mindestens so aktiv betrieben wird wie die neuen Offensiven. Das wird bei aufgeschlossenen Sozialdemokraten, die als Multiplikatoren im Wahlkampf gebraucht würden, eher zur Resignation führen.
Wenn nichts geschieht, dann wird nach meiner Einschätzung die SPD weiter abnehmen und ungefähr beim Ergebnis von 2009 landen. Das waren 23 %. Eine solche allen geschürten Erwartungen widersprechende Wahlniederlage wird vermutlich nicht nur für den Spitzenkandidaten Steinbrück, dessen Förderer bei der Schuldzuweisung besonders aktiv sind, sondern vor allem für den Parteivorsitzenden Gabriel gefährlich werden. Gabriel jedenfalls und alle, die es mit der SPD gut meinen, haben alle Gründe, die Koalitionsstrategie zu überdenken. Es muss endlich eine Machtoption her.
- Einzige Chance zum Wechsel: Rot-Grün-Rot
Manchmal hat man im politischen Leben nur die Wahl zwischen einer schlechten und einer weniger schlechten, jedenfalls einer nicht eindeutig guten Perspektive. In dieser Situation befindet sich die SPD-Führung. Die schlechte Perspektive ist die nahezu sichere vernichtende Niederlage. Die nicht eindeutig gute, jedenfalls schwierige Perspektive ist die Perspektive Rot-Grün-Rot.
Die Zusammenarbeit mit der Linkspartei ist vielfältig diffamiert. Die SPD Führung selbst hat an der Ausgrenzung mitgewirkt. Sie hat nichts getan gegen die Stigmatisierung der Linken und damit ihrer eigenen Machtperspektive am meisten geschadet. Und vor allem der Hoffnung auf die Umsetzung ihres Wahlprogramms die Glaubwürdigkeit genommen. Die Aufnahme der Option einer „linken“ Mehrheit in die Wahlstrategie für den 22. September böte wenigstens die Chance, den eigenen Anhängern und den potentiellen Wählern und Wählerinnen eine, wenn auch kleine, Chance zum Machtwechsel zu bieten.
Ob die SPD-Führung allerdings zu dieser Einsicht noch fähig ist, ist mehr als fraglich. Sie war ja auch im Blick auf die bisherige Strategie mit der Illusion Rot-Grün nahezu komplett beratungsresistent.
- Für die meisten, den politischen Wechsel Wünschenden ein klarer Fall: Die Linkspartei
Angesichts der bisherigen Koalitionsstrategie von SPD und Grünen und angesichts der Aussichtslosigkeit von Rot-Grün, die Wahl zu gewinnen und dann auch eine andere Politik als Merkel und ihre Regierung zu machen, bleibt den Kritikern der neoliberalen Ideologie und auch den Kritikern von Militäreinsätzen nur die Entscheidung für eine wie auch immer geartete Kooperation mit der Linkspartei. Die LINKE hat große Chancen, über die 5 % zu kommen. Sie zu stärken und gezielt für sie zu werben macht Sinn selbst dann, wenn sich die SPD-Führung nicht dazu entschließen kann, sich öffentlich für eine Koalition mit der Linkspartei auszusprechen.
- Die Entwicklung innerhalb der Linkspartei zwingt kritische Beobachter allerdings auch zur kritischen Prüfung
Die Linkspartei hat bei der letzten Bundestagswahl 2009 11,9 % der Stimmen erreicht. Heute schwanken die Umfrageergebnisse zwischen 7 % und 8 %. Das gute Ergebnis von 2009 war das Ergebnis eines relativ breiten und vielfältigen Bündnisses von Ost und West, von Gewerkschaftern und Intellektuellen, von Gysi und Lafontaine, von Bartsch und Wagenknecht, von Kipping und Riexinger, usw. Aus einer einigermaßen kooperativen und erfolgreichen Vielfalt ist inzwischen eine teilweise einfallslose Intrige geworden. Die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger bemühen sich um Integration. Aber unter der Decke wird mit harten Bandagen gekämpft. Offensichtlich legen es die Freunde um Dietmar Bartsch sogar darauf an, die Ergebnisse im Westen zu drücken, um ihre eigene Machtposition in der Partei und insbesondere in der künftigen Bundestagsfraktion zu stärken. Das ist schlimm und schade zugleich. Denn auch die Linkspartei braucht die skizzierte Vielfalt
Das klingt alles nicht sehr schön, sollte aber angesichts der Gesamtkonstellation Kritiker der Merkelschen Politik nicht davon abhalten, die Linkspartei zu wählen und insbesondere im Westen – mit Ausnahme des Saarlandes – und gezielt selektiv im Osten für sie zu werben.
Die hier skizzierten Beobachtungen waren der Hintergrund dafür, dass ich im Interview für DeutschlandradioKultur davon sprach, ich könne verstehen, wenn Menschen nicht wählen gehen. Was sollte ein bisheriger Wähler der Linkspartei zum Beispiel im Saarland angesichts der dortigen Intrigen anderes tun? Oder was sollte ein bisheriger Wähler der Linkspartei, der z.B. die Arbeit Wolfgang Neskovics im Bundestag und für die Linkspartei wegen seiner fachlichen Qualifikation schätzt, in Brandenburg wählen, nachdem die dortige Linkspartei nicht einmal den kleinen Vorteil erkannt hat, einen solchen Fachmann in ihren Reihen zu haben, und ihn nicht mehr aufgestellt hat.
Aufgrund meiner Äußerung im DeutschlandRadio gab es einige Mails, die grundsätzlich kritisch gegenüber der Empfehlung waren, sich bei der kommenden Bundestagswahl zu enthalten. In den Mails zum Thema war auch die Empfehlung enthalten, ungültige Stimmen abzugeben. So oder so, die Wahlenthaltung oder die Abgabe von ungültigen Stimmzetteln würden nur dann Sinn machen, wenn man in einer großen Kampagne deutlich machen könnte, warum die Wahlbeteiligung sinkt bzw. warum so viele ungültige Stimmen abgegeben werden, nämlich um damit dagegen zu protestieren, dass uns keine Chance zum politischen Wechsel geboten wird. Aber eine solche Aufklärungskampagne wird bis zum Wahltermin nicht mehr möglich sein. Deshalb ziehe ich die in einem Life-Interview eingeworfene Erwägung, sich der Stimme zu enthalten zurück.