Rezension: Stefan Selke, Schamland – Sozialpolitik nach Gutsherrenart
Das Attribut „nach Gutsherrenart“ wird häufig gebraucht, um auszudrücken, dass es sich um gehobene, deftige ländliche Küche handelt, die eben den Gaumen eines „Gutsherren“ besonders erfreuen könnte. Gutsherren werden gern romantisch verklärt, vergessen wird dabei, dass sie in selbstherrlicher Manier über ihre Untergebenen entscheiden konnten. Die im Dienste eines Gutsherren stehenden Mägde und Knechte hatten kaum eigene Rechte, wurden meist nur gering entlohnt und oft nur mit Naturalien abgespeist. Mit der Agenda 2010 hat sich Deutschland vom Anspruch eines Wohlfahrtstaates mit einem eigenständigen Recht auf (monetärem) Schutz gegen soziale Risiken weitgehend verabschiedet und eine Bedürftigenhilfe nach Gutsherrenart eingeführt. Parallel zu diesem Rückbau des Sozialstaates hat sich eine regelrechte Armutsökonomie entwickelt.
Der Soziologiprofessor an der Hochschule Furtwangen mit dem Lehrgebiet “Gesellschaftlicher Wandel” Stefan Selke, hat ein äußerst informatives Buch mit dem Titel „Schamland – Die Armut mitten unter uns“ über die „Vertafelung“ der Gesellschaft geschrieben. Von Christine Wicht.
Im Rahmen seiner Feldforschungen beschäftigt sich der Autor seit 2006 mit der modernen Armenspeisung. Selke möchte mit seinem Buch eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie es sich aus Sicht Armutsbetroffener anfühlt, seit vielen Jahren Teil dieses Versorgungssystems zu sein und darüber, wie durch Tafeln und ähnliche Angebote die Abspaltung der Gesellschaft in Arm und Reich fortgeschrieben wird (Schamland, S. 11). Er ist dafür quer durch Deutschland gereist, hat Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern besucht und mit Betroffenen und ehrenamtlichen Helfern in vielen Bundesländern gesprochen.
Für Selke entsteht hier ein „Sozialstaat im Sozialstaat“, denn während das Versprechen auf wohlfahrtsstaatliche Hilfe erodiert, werden zeitgleich freiwillige Helfer vom Staat aktiviert, um ein privates Wohltätigkeitssystem zu etablieren. (S. 244). Selbstverständlich, so Selke, gelte auch hier die Logik von Angebot und Nachfrage. Auch Wohlfahrtsverbände wie Caritas, AWO, Diakonie profitierten von der Armutsökonomie, denn sie könnten so eine bislang schwer zugängliche Klientel an ihre bisherigen Betreuungsangebote binden, also etwa an die Sozial-, Sucht- oder Schuldenberatung (S. 203). Selke nennt als Beispiel die sogenannten HartzIV-Kochbücher, in welchen 2-Euro-Gerichte für „sparsame Genießer“ angeboten werden. Die Berliner Tafel publizierte ein Kochbuch mit prominenter Unterstützung von Alfred Biolek und Ursula von der Leyen, die als Schirmherrin bei einer Tafelveranstaltung betonte, wie wichtig das Engagement gerade von Unternehmen für eine starke Bürgergesellschaft sei: „Ich bin davon überzeugt, dass unser Land menschlicher, ideenreicher und sogar effektiver wird, wenn sich die Zivilgesellschaft und auch die Unternehmen engagieren”. Für ihr sogenanntes „Bildungspaket“ bemühte Ministerin von der Leyen folgendes Zitat von Goethe: “Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen.” Von der Leyen zeigte sich überzeugt davon, dass nun jeder Stein der Hartz-Reform an seinem Platz sei: “Mit dem Bildungspaket haben wir etwas Schönes gebaut.” Für die Betroffenen muss sich dieser Satz wie Hohn angehört haben.
Letztendlich sollen solche Aktionen den Tafelnutzern aufzeigen, wie man sich im Elend einrichtet.
Selke beschreibt das unternehmerische Kalkül des Engagements von Firmen für die Tafelbewegung. Sicher könnten die Gewinne nicht immer in Euro beziffert werden, für den Soziologen sind es oft auch nur symbolische Gewinne, so wenn etwa eine Firma ihre Angestellten für einen „social day“ zu einer Tafel schickt. Selke bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass die Tafelnutzer für einen Tag von Managern umgeben sind, die dann „einen tollen Eindruck davon bekommen, was in der eigenen Nachbarschaft alles nicht in Ordnung ist (S. 204). Eine Bank schickte beispielsweise ihre Angestellten zu einem „Volonteering“, um deren soziale Kompetenz zu verbessern. Einige Mitarbeiter hätten diesen sozialen Einsatz sogar genutzt, um den auf die Tafel Angewiesenen angepasste Rentenverträge (Armen-Riester) anzubieten. Selke fasst zusammen, dass sich dann, wenn reale Wirtschafts- und Sozialpolitik durch private Freiland-Simulationen ersetzt werde, wir in einer Gesellschaft des Spektakels angekommen seien, in der sich Fühlen, Denken und Handeln nur noch an der Oberfläche abspielt (S. 205). Wenig Einfühlungsvermögen zeige z.B. die Idee eine Werbeagentur, die im Auftrag der Tafel leere Wasserflaschen in Frankfurter Mülltonnen versteckte, um Tafelnutzer zu erreichen. Die Flaschen waren mit Tafelwerbung etikettiert und enthielten folgendem Text: „Gegen Abgabe dieser Flasche erhalten Sie eine Tüte mit Lebensmitteln“ (S. 210). In einem Interview mit Cicero Online erzählt Selke von der Singener Tafel, die eine eigene Nudelproduktion aufgezogen hat. Da werden Ein-Euro-Jobber mit staatlichen Subventionen beschäftigt, die Nudeln für Arme produzieren.
In der Tafelarbeit spiegelten sich Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft wider: Konkurrenzdruck und Stress, Fokussierung auf Leistungsfähigkeit und die Fixierung auf einen Warenfetisch, auf den alle Ängste projiziert werden (S. 21).
Für Selke sind die Tafeln eine gefährliche Entwicklung, denn die Angebote der Armutsökonomie würden inzwischen auch von Politikkonzepten vereinnahmt, die in ihrer Zielsetzung nicht die Armutsüberwindung und die Stärkung sozialer Gerechtigkeit im Sinn hätten. Wirtschaftsunternehmen betrieben mit ihrem Engagement eine Art Social Washing, indem sie durch die Unterstützung der Tafeln ihr soziales Image aufmöbelten (S. 202). (Siehe dazu auch „Die Reputation der Tafeln wird von Unternehmen zur Imagepflege und zur Gewinnsteigerung missbraucht“.)
Für Selke sind die vor 20 Jahren entstandenen Tafeln Vorläufer einer langfristigen gesellschaftlichen Entwicklung, die sich schleichend vor unseren Augen abspiele. (S. 245). Es handele sich dabei um zentrale Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit sowie einem zivilisierten Menschenbild, die auf dem Prüfstand stünden (S. 11). Armut und Reichtum seien nicht nur Fakten, die auf Zahlen basierten. Als Lebensgefühl und Existenzform seien sie nur unzureichend abbildbar. Doch das eigene Leben sei kein Zahlenspiel. Menschen würden ihren Alltag nicht damit verbringen, sich wie Nationalstaaten in Ranglisten einzuordnen. Armut und Reichtum seien vor allem auch emotionale Zustände, die auf subjektiven Wahrnehmungen basierten (S. 22).
Viele Tafelnutzer fühlten sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und vom Staat verlassen. Diese Gefühle hätten massive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein der betroffenen Bürgerinnen und Bürger und damit letztendlich auch auf seelische und körperliche Gesundheit. Selke spricht von sozialen Desintegrationsprozessen auf der kollektiven Ebene und erhöhtem psychischen Druck auf der Ebene des einzelnen Individuums (S. 35). In Gesprächen erfuhr der Forscher von Bürgern, dass sie sich fühlten „wie Dreck“, wie in der „untersten Schublade“ und dass sie sich schämten Essen von der Tafeln zu holen, weil sie damit in der Gesellschaft stigmatisiert würden. Es sei die Angst vor der Geringschätzung durch andere (S. 40). Dieses Gefühl sei eng verknüpft mit den Medienberichten, in welchen Hartz IV-Empfänger als faul, ungebildet, wählerisch und bequem abgestempelt werden. Der Autor sieht darin eine statusreproduzierende Funktion erfüllt, denn durch Beschämungsmechanismen sicherten sich die Bessergestellten ihren angestammten Platz innerhalb der Gesellschaft und durch Scham grenzten sich die Ohnmächtigen selbst immer weiter aus. Dadurch verfestigten sich soziale Klüfte im Sinne derer, die (noch) etwas zu verlieren haben (S. 45). Selke berichtet von Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Erwerbsunfähigkeit oder Unfällen in die Armut gerutscht sind. Es habe nichts mit Faulheit oder Dummheit zu tun, meist seien es Schicksalsschläge, die die Menschen in diese ausweglose Lage gebracht hätten. Sie befänden sich in einer Einbahnstraße, der Weg zurück in die Gesellschaft sei nahezu unmöglich.
Wie quälend ist die Lage dessen, der inmitten von Armut in Wohlstand lebt (Tolstoi)
Manche Leute würden „containern“, d.h. sie suchten abends in Containern der Supermärkte nach Lebensmitteln. Selbst Studenten nutzten die Tafeln, um über die Runden zu kommen, während dies allerdings nach dem Studium Hoffnung auf eine Anstellung und ein selbstbestimmtes Leben hätten, hätten die meisten anderen die Hoffnung längst aufgegeben, weil das System nur noch nach unten durchlässig sei. Selke beschreibt eine Situation an einer Berliner Verkehrsampel, wie man sie bisher eigentlich nur aus Entwicklungsländern kannte: Jugendliche putzen den Autofahrern blitzschnell die Scheiben (S. 79). Es sei ein Symbol für Armut mitten unter uns, ein weiteres deutliches Armutszeichen seien die Sozialkaufhäuser und Restemärkte.
Der Autor besuchte auch Suppenküchen. Aus einer Rockerkneipe werde z.B. tagsüber eine Suppenküche. Frauen kochten ehrenamtlich Essen. Es werde eine Suppe ausgeteilt, bei der sich die Nutzer dieser Suppenküche nicht darauf einigen konnten, ob es nun eine Erbsen-, Linsen- oder Gulaschsuppe sei (S. 92). Für manche Nutzer sei die Suppenküche der einzige soziale Treffpunkt, ein wenig Kontakt zur Außenwelt. Eine Gesprächspartnerin erzählte dem Autor, dass sie versucht habe, sich nützlich zu machen, doch die besseren Jobs dürften nur die Ehrenamtlichen machen. Wenn Schluss ist, kommt sie zum Putzen und räumt die Suppenküche auf (S. 94). Ein Gesprächspartner berichtet, dass er 60 Jahre alt ist, Zeitungen austrage, weil das Geld nicht reiche und sich eigentlich nur noch darauf freue, „in der Kiste“ zu liegen (94). Die Gespräche unter den Suppenküchennutzern blieben meist nur an der Oberfläche, es entwickelten sich nur selten Freundschaften. Es sei eine Mischung aus Abgrenzung vor den anderen Armen und aus der Hoffnung wieder aus der Situation rauszukommen. Solidarität komme nicht auf. Manche Tafelnutzer müssten sogar den einen Euro für die Lebensmittelhilfe anschreiben lassen, weil sie schlichtweg keinen Euro mehr hätten. Manche Nutzer berichten davon, dass das Nahrungsangebot manchmal äußerst knapp sei. Eine Frau hätte sogar das Brötchen in Scheiben geschnitten, weil es dann länger reiche (S. 112).
Auch bei der Tiertafel erfolgt eine Bedürftigkeitsprüfung, HartzIV-Bescheid, Personalausweis und Hund müssten vorgezeigt werden. Bei Tiertafeln kommen die Nutzer leichter ins Gespräch, nämlich über das Haustier. Der entscheidende Unterschied sei wohl, dass man sich nicht so minderwertig vorkommt, wenn man um das Fressen für das Haustier bitten muss, als wenn man für Lebensmittel für sich selbst anstehen würde (S. 105).
Tafeln lindern Armut, aber sie bekämpfen sie nicht
Für Selke sind die Tafeln zwar ein logistisches Erfolgsmodell, weil sie es schaffen Lebensmittel von A nach B zu transportieren. Aber trotz (oder wegen?) dieser Erfolge werde konsequent übersehen, dass Tafeln selbst zu einem Symbol des sozialen Abstiegs geworden seien, das den gesellschaftlichen Misserfolg derjenigen schonungslos offenlegt, die beschönigend „Kunden“ genannt würden (S. 69).
Tafeln rühmten sich ihrer Logistikleistungen und gewönnen dafür sogar Preise. Der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. etwa habe den Nachhaltigkeitspreis „Ecocare 2011“ für herausragende Nachhaltigkeitskonzepte von Lebensmittelhandel und -industrie sowie von Zulieferern und Dienstleistern der Branche erhalten. Oftmals müsse man den Eindruck gewinnen, dass das eigentliche Leitbild der Ausbau der logistische Infrastruktur sei, deren Erfolgsmaßstab sei, möglichst viele Lebensmittel schnell und sicher verteilen zu können (S. 199).
Für Selke ist die HartzIV-Ökonomie ein Hilfssystem für Millionen, eine Parallelwirtschaft, auf die breite Bevölkerungsgruppen dauerhaft angewiesen sind. Es sei der zivilgesellschaftliche Versuch, die seit Jahren nicht mehr eingelöste Teilhabegarantie des Staates zu kompensieren (S. 200). Tafeln ersetzten hoheitliche Leistungen der Daseinsvorsorge oder überlagerten diese zumindest teilweise. Tafeln linderten zwar Armut, aber sie bekämpften diese nicht. Eine riesige Zahl von Menschen, die aufgrund von Krankheit und Behinderung oder aus Scham nicht zur Tafel gehen könnten oder abgeschieden lebten, würden im Übrigen aus dem privaten Ersatzversorgungskonzept komplett herausfallen.
Es gehe nicht darum, dass Lebensmittel weggeschmissen werden, wenn es die Tafeln nicht gäbe, sondern es gehe einerseits um Überproduktion und Überangebot und um ein menschenwürdiges Leben für jedes Mitglied unserer Gesellschaft und um eine Politik, die Armut vorbeugt oder bekämpft und nicht befördert.
In Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 steht:
“Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.”
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist keine verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts, sondern sie hat nur Bekenntnischarakter. Es liegt deshalb vor allem in der Verantwortung der Bürger sich dafür einzusetzen, dass soziale Errungenschaften nicht auf dem Altar der neoliberalen Philosophie geopfert werden. Mit den so genannten „Reformen“ der letzten 20 Jahre hat das Bekenntnis der UN-Menschenrechtserklärung in Deutschland einen Rückschlag erlitten und die Agenda-Politik hat offensichtlich zu einer bis dahin nicht bekannten massiven Verarmung in Deutschland geführt. Der so oft gepriesene „Trickle-down-Effekt“, demzufolge die unteren Schichten der Bevölkerung vom Wohlstand der Reichen profitieren sollen, wenn es den Reichen nur gut genug gehe, ist gerade nicht eingetreten. Die Bedürftigen bekommen n u r das, was über die Tischkante nach unten fällt, das ist nicht nur arrogant und selbstherrlich sondern auch zynisch und menschenunwürdig – eben nach Gutsherrenart.
Stefan Selke stellt an den Anfang seines Buches ein Zitat von Oscar Wilde:
„Sie (die Armen) fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch, seitens der Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. Warum sollten sie (die Armen) für die Brosamen dankbar sein, die vom Tische des reichen Mannes fallen? Sie sollten mit an der Tafel sitzen und fangen an, es zu wissen“
Stefan Selke, Schamland – Die Armut mitten unter uns, 288 Seiten, Econ-Verlag, 18 Euro