Geschichte wiederholt sich als Tragödie und als Farce zugleich – Schon seit 1989 hätte die Bundesregierung über die Überwachung durch die NSA Bescheid wissen können
Im Februar 1989 brachte der Spiegel eine Titelgeschichte „Freund hört mit“. Die Überschrift des Artikels lautete damals: „NSA: Amerikas großes Ohr, Die National Security Agency, der aggressivste Nachrichtendienst, hört Freund und Feind ab“. Daraufhin hatte die Fraktion der Grünen im Bundestag eine Aktuelle Stunde zum Thema „Die Haltung der Bundesregierung zu Behauptungen in der Presse über das amerikanische NSA-System (Nationale Sicherheits-Agentur)“ beantragt. (Stenografischen Bericht der Sitzung des Deutschen Bundestags vom 24. Februar 1989, S. 9517 ff. [PDF – 1.1 MB]).
In dieser Debatte von damals begegnet man den gleichen Abwiegelungsstrategien der Politik gegenüber dem Überwachungswahn der Geheimdienste, wie wir sie jetzt, fast ein Viertel Jahrhundert später als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen wieder erleben müssen.
Geschichte wiederholt sich offenbar als Tragödie und als Farce zugleich.
Es ist eine Tragödie, wie die demokratischen Staaten und ihre Geheimdienste seit Jahrzehnten mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses, mit der informationellen Selbstbestimmung, dem Schutz der Privat- und Intimsphäre umgehen und statt ihren Bürgerinnen und Bürgern Schutz zu gewährleisten, diese unter Generalverdacht stellen.
Es ist zugleich eine Farce, wie die Politik mit den immer gleichen Ausreden die totale Überwachung rechtfertigt, jede Kritik daran an sich abprallen lässt und schon gar nichts gegen die Unterwanderung von Recht und Gesetz durch Geheimabkommen über die Tätigkeit von Geheimdiensten unternimmt.
Von Wolfgang Lieb
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In dem Spiegel-Artikel hieß es damals u.a.:
„Die abgeschirmten Anlagen sind Knotenpunkte eines unsichtbaren Netzes, das die Bundesrepublik und den gesamten Erdball umspannt. Amerikas geheimster Geheimdienst, die National Security Agency (NSA), lauscht weltweit und rund um die Uhr, ganz besonders in der Bundesrepublik.
Von alliierten Sonderrechten ermächtigt und durch Gesetze geschützt, von allzeit schussbereiten Sicherheitskräften bewacht, von kamerabestückten Stacheldrahtzäunen und elektronischen Schutzschilden umhüllt, hat sich die NSA zu einer Monsterorganisation entwickelt, die in einem politischen Vakuum weitgehend nach eigenem Gutdünken operiert.
Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat irgendeine Macht der Erde Vergleichbares zustande gebracht – Lauschangriffe rund um die Erde. Was Präsidenten oder Minister in Kabinettssitzungen reden, was in Königshäusern oder auf Vorstandsetagen gesprochen wird, ob Generale saufen oder Botschafter fremdgehen, alles auf Band: Die Vertraulichkeit des Wortes ist aufgehoben, die Privatsphäre verletzt …
Die US-Regierung gibt jährlich etliche Milliarden Dollar aus, um im gigantischen Gewimmel der elektromagnetischen Wellen kein Signal, keinen Befehl und kein Gespräch zu verpassen, das auch nur im Entferntesten die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika berühren könnte.“
Nine Eleven nur ein Vorwand für den Überwachungswahn
Im Kern wurde in dem Artikel schon 1989 beschrieben, was fast ein Viertel Jahrhundert danach durch die Enthüllungen von Edward Snowden erst wieder in die öffentliche Debatte gebracht worden ist.
Diese Veröffentlichung über die weltweiten Lauschangriffe der NSA lag 12 Jahre vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Daran mag man erkennen, dass die heute gängige Begründung für die totale Überwachung, nämlich 9/11 oder al-Quaida nur einen neuen und zusätzlichen Vorwand für den Überwachungswahn der Geheimdienste und ihrer jeweils für sie verantwortlichen und mit Milliarden finanzierenden Regierungen ist.
Es fehlte jeder politische Wille die Grundrechte zu gewährleisten
Man hätte – selbst wenn man dem Spiegel-Artikel – damals keinen Glauben geschenkt hat, dem dort aufgeworfenen Verdacht gegen die massenhaften Lauschangriffe der NSA also schon unter der Regierung Kohl nachgehen können, wenn man nur gewollt hätte.
Die damalige Abgeordnete der Grünen, Angelika Beer, beklagte schon damals „die Unfähigkeit der Bundesrepublik, ihren Bürgerinnen und Bürgern Schutz vor der Verletzung ihrer Grundrechte zu gewährleisten“. Es fehle am Willen der Bundesregierung, die Gewährleistung der Grundrechte auch nur zu versuchen. (S. 9517 des stenografischen Berichts).
Die Argumente, mit denen abgewiegelt wird, waren und bleiben immer die gleichen
Interessant ist dabei, wie schon damals die Regierungsparteien und die SPD den im Spiegel beschriebenen Skandal abzuwiegeln versuchten.
Das Totschlagargument des Anti-Amerikanismus
Der Abgeordnete Karl Lamers von der CDU, sah in der Beantragung der Aktuellen Stunde und in den Ausführungen von Angelika Beer „eine eindeutige Spitze gegen die Vereinigten Staaten“. Auch damals wurde einfach unterstellt, dass die „Rechtsverhältnisse klar sind“ und dass „keine Erkenntnisse über Aktionen vorliegen, die deutsches Recht und Vereinbarungen mit den Alliierten verletzten“. Man müsse prüfen, „ob angesichts der außerordentlich erweiterten, wohl zutreffend beschriebenen technischen Möglichkeiten, die wenn ich es richtig sehe, vor zwei Jahrzehnten getroffenen Regelungen und Vereinbarungen veraltet sind und angepasst werden müssen.“ Es müsse „soweit wie möglich jeder Verdacht ausgeräumt werden.“ Damit sollte man es aber auch bewenden lassen, es gebe „weiß Gott wichtigere Fragen, auch wichtigere außenpolitische Fragen.“ „Das letzte, was wir dabei brauchen können, ist Misstrauen zwischen den Verbündeten, vor allem zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland.“
Auch das Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission Rolf Olderog (CDU) tat die Enthüllungen des Spiegels als „antiamerikanische Gruselgeschichte“ und als ein „Gebräu von Tatsachen, Halbwahrheiten und Phantasien“ ab. Der der US-Bündnispartner solle mit allen Tricks journalistischer Unfairness diffamiert werden.
Auch bei der derzeitigen Debatte warf Innenminister den Kritikern Antiamerikanismus vor („Diese Mischung aus Antiamerikanismus und Naivität geht mir gehörig auf den Senkel”) und die Medien kritisierten gar Merkel, sie bediene „antiamerikanische Populismen“.
Das Verschweigen von geheimen Abkommen und der Verweis auf die Parlamentarische Kontrollkommission
Der damalige SPD-Abgeordnete Hans de With verwies darauf, dass durch das im Rahmen der Notstandsverfassung 1968 eingeführte G-10-Gesetz die „alliierten Sicherheitsvorbehalte endgültig und restlos abgelöst“ worden seien. Man müsse bei der Bundesregierung auf Klarstellung drängen.
Der FDP-Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch verwies hingegen auf die „Verpflichtung zur Zusammenarbeit auch hinsichtlich der Sicherheit von Truppen, die im Rahmen des Truppenstatuts in der Bundesrepublik“ lägen. „Wenn im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit der Eindruck entsteht, dass das Überwachen eines Telefongesprächs notwendig ist, dann geschieht das ausschließlich gemäß den Regeln des G-10-Gesetzes.“ Gegebenenfalls müsse das NATO-Truppenstatut überarbeitet werden.
Die Angaben im Spiegel-Artikel würden in der Parlamentarischen Kontrollkommission überprüft und wenn es sich notwendig erweisen sollte, werde man auch handeln.
Bis heute ist keines der geheimen Abkommen bekannt, geschweige denn überprüft oder gar abgelöst. Die Überprüfungen der Parlamentarischen Kontrollkommission, so sie denn überhaupt stattgefunden haben sollten, haben zu keinerlei erkennbaren Ergebnissen geführt.
Die Regierung stellt sich unwissend und verweist auf die Geheimhaltungspflicht
Für die Regierung antwortete der Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer. Auch er verwies auf die „engsten Verbindungen“ zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten und auf die „feste Klammer“ des Nordatlantischen Bündnisses. Andererseits besitze „die Bundesrepublik Deutschland auf Grund der Pariser und Bonner Verträge seit 1955 die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten.“ In den Verträgen mit den USA sei die „Respektierung des deutschen Rechts ausdrücklich sichergestellt“. Auch im NATO-Truppenstatut heiße es:
„Eine Truppe und ihr ziviles Gefolge, ihr Mitglieder sowie deren Angehörige haben die Pflicht, das Recht des Aufnahmestaates zu achten und sich jeder mit dem Geiste dieses Abkommens nicht zu vereinbarenden Tätigkeit, insbesondere jeder politischen Tätigkeit im Aufnahmestaat zu enthalten.“
Der Bundesregierung sei kein Fall eigenmächtiger Abhörpraktiken durch die in Rede stehenden Geheimdienste der drei Länder bekannt. „Unter diesen Umständen sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit, mit den Verbündeten über eine Veränderung der völkerrechtlichen Grundlagen – Truppenstatut, Zusatzabkommen – in eine Erörterung einzutreten.“
Im Übrigen könne die Bundesregierung zu Presseberichten über angebliche nachrichtendienstliche Vorgänge nicht öffentlich Stellung nehmen.
Auch heute verhält sich die Bundesregierung zu den Snowden-Enthüllungen wie die drei weisen Affen: Sie stellt sich blind, taub, und stumm. (Siehe dazu: Die Demokratie nur noch ein Spielball der Geheimdienste?)
Totale Überwachung, ein Fluch der Technik
Der SPD-Abgeordnete Wim Nöbel und auch andere Redner sahen das Problem als eine Frage „der Beherrschbarkeit dieser Technik“.
Auch im Jahre 2013 wird so getan, als sei die Totalerfassung von Daten eben ein Fluch der Technik, der über uns gekommen ist und vor der sich jeder selbst schützen müsse.
Der „Terrorismus“ als Begründung hat die „Gefahr aus dem Osten“ ersetzt
Wir finden in der damaligen Debatte also nahezu alle Argumente, Ausflüchte und Abwiegelungen wieder, die wir auch in der jüngsten politischen Behandlung des Ausspähskandals antreffen. Mit Ausnahme des Hinweises auf die Gefahr durch „Terrorismus“, aber statt dieser Drohkulisse diente damals (1989, also kurz vor dem Fall der Mauer) die „Gefahr aus dem Osten“.
Ein Viertel Jahrhundert ist nichts unternommen worden
Den letzten Satz in dieser Debatte sprach der SPD-Abgeordnete Helmuth Becker (Nienberge), laut Protokoll unter dem Beifall der SPD, der CDU/CSU und der FDP: „Es besteht kein Grund zu besonderer Aufregung“.
Und weil kein Grund zur Aufregung gesehen wurde, konnte sich die Bundesregierung zurücklehnen und darauf setzen, dass die Debatte über dieses Thema wieder einschlief. Denn keine der großen Parteien hatte ein Interesse daran, das wach zu halten. Erst Edward Snowden hat 24 Jahre später die Politik und die Medien wieder aufgeweckt.
Unternommen worden ist seither nichts. Das einzige was sich verändert hat, ist die Tatsache, dass durch neue technische Möglichkeiten, die Abhörpraktiken noch weiter vorangetrieben und perfektioniert worden sind.
Man mag an der Tabuisierung der Geheimdienstaktivitäten und der geheimen Abkommen auch erkennen, wie lächerlich die Schwarze-Peter-Spiele sind, die die Parteien jetzt wieder einmal betreiben, wobei Regierung und Opposition sich jeweils gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe schieben will. Die Grünen haben sich zwar 1989 noch gewehrt, aber da waren sie noch weit weg davon, jemals auf einer Regierungsbank sitzen zu dürfen. Aber auch das hat sich inzwischen geändert.
Und die einzige Partei die bisher nicht in die geheimen Abkommen über die Tätigkeit von alliierten Geheimdiensten eingebunden war, nämlich die LINKE, kann nicht gegen das Allparteienbündnis von CDU/CSU/FDP/SPD/Grüne ankämpfen, weil sie von allen sofort mit Stasi-Vorwürfen überschüttet würde. Die Heuchelei, die sich dabei zeigt – westliche Überwachung ist grundsätzlich gut, östliche Überwachung ist grundsätzlich böse – wird nicht einmal bemerkt.
Geschichte wiederholt sich als Tragödie und als Farce
Die Bundesregierung tut immer noch so, als habe sie keine Ahnung und sie gibt Absichtserklärungen ab, die Dinge aufklären zu wollen. Die abwiegelnden Argumente der Politiker und der Journalisten sind nahezu die gleichen wie seit Jahrzehnten.
In einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger sagte Merkel: „Geschichte wiederholt sich nicht und wenn, dann nur als Farce.“ Sie hätte besser das vollständige Zitat von Karl Marx nennen sollen: Geschichte wiederholt sich: „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“.
Die Überwachungsskandale und der politische Umgang damit bieten jedoch eine andere Geschichtsinterpretation an, nämlich dass sich Geschichte zugleich als Farce und auch noch als Tragödie wiederholen kann.
Als Tragödie nämlich, wie die demokratischen Staaten und ihre Geheimdienste mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses, mit der informationellen Selbstbestimmung, dem Schutz der Privat- und Intimsphäre umgehen und ihren Bürgerinnen und Bürger, statt ihnen Schutz zu gewährleisten, diese unter einen dauerhaften Generalverdacht stellen. Es scheint eine Tendenz aller Regierungsformen zu geben, zur Stabilisierung ihrer Macht, sich zu einem Überwachungsstaat zu entwickeln.
Als Farce scheint sich die Geschichte aber auch zugleich zu wiederholen, wenn man beobachten muss, wie die Politik mit den immer gleichen Ausreden die totale Überwachung rechtfertigt, jede Kritik daran an sich abprallen lässt und schon gar nichts gegen die Unterwanderung von Recht und Gesetz durch Geheimabkommen und Geheimdienste unternimmt.