Ziviler Ungehorsam

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Ziviler Ungehorsam – so lesen wir bei den Kennern der Materie (Arendt 1986) – unterbricht die Routinen und Automatismen des staatlichen Machthandelns von unten, wenn wesentliche Teile des Volkes ihre Anliegen nicht mehr angemessen repräsentiert sehen. Was dem staatlichen Handeln der Operationsmodus von Krise und Ausnahmezustand ist: Selbstermächtigung zu ungewöhnlichen und normalrechtlich nicht gedeckten Maßnahmen angesichts einer „Krise“, eben das ist ziviler Ungehorsam für das Volk, dem Souverän demokratischer Staaten. Der liberale Philosoph John Stuart Mill warnt im 19. Jahrhundert, die Fähigkeit zur kooperativen Verfolgung gemeinsamer Ziele sei ein äußerst gefährliches Mittel der niederen Klassen geworden. Es steht zu vermuten, dass die neoliberalen Meisterdenker der Gegenwart das immer noch ganz ähnlich sehen.
Von Anna-Lena Dießelmann & Clemens Knobloch[*].

  1. Versetzen wir uns in die Lage eines künftigen Historikers, der die publizistischen Quellen der Gegenwart im fünften Jahr der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise sichtet. Während es vor 10 Jahren keinen öffentlichen Zweifel an den tadellos demokratischen Verhältnissen im Lande gab, hat die Postdemokratie-Diagnose (Crouch 2008, in wechselnder Radikalität vorgetragen) mittlerweile den publizistischen Mainstream geflutet. Dass Lobbyisten die Strippen ziehen und die Anwaltskanzleien des Kapitals bei der Formulierung von Gesetzen, die ihre Klientele betreffen, mehr als nur eine Hand im Spiel haben, ist überall zu lesen. Dass das Vertrauen der Wähler nichts wert ist, wenn das Vertrauen der Märkte fehlt, gilt mittlerweile beinahe für normal. Dass Großinvestoren ohne öffentliche Kontrolle (von der Elbphilharmonie über das Bonner Kongresszentrum bis zum Berliner Flughafen) beinahe unbegrenzt über die Steuermittel verfügen, die der Steuerzahler den öffentlichen Händen für gemeinsame Angelegenheiten zur Verfügung stellt, ist fast eine Petitesse gegen die Privatisierungs- und Sozialabbau-Auflagen, welche die Vertreter „der Märkte“ Ländern auferlegen, die ihr Vertrauen verloren haben. Eine beispiellose (und natürlich staatlich administrierte) Umverteilung von unten nach oben sorgt zudem weltweit dafür, dass die Kapitalseite zu den Steuertöpfen, die sie sich aneignet, nur ganz unwesentlich beiträgt. Laut Wehler (2013) machen in Deutschland Lohn-, Umsatz- und Verbrauchssteuer 80% des staatlichen Aufkommens, die Unternehmens- und Gewinnsteuern 12%.

    Zwei Prämissen, die axiomatisch für den politischen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte waren, scheinen sich plötzlich in Rauch aufgelöst zu haben: Einmal der Satz, dass die Staatslegitimität der modernen Massendemokratien auf marktkompensatorischer Umverteilung und Abmilderung der Marktfolgen beruht (durch Besteuerung der Kapitalseite und staatliche Finanzierung von Gleichheitschancen für die 95% der Bevölkerung ohne Marktmacht). Und weiterhin der Satz, dass jede Bedrohung demokratischer Grundrechte von innen nach den Erfahrungen von 1933 zu massivem Widerstand aus der Bevölkerung führen würde.

    Stattdessen spricht die Kanzlerin unverhohlen von „marktkonformer Demokratie“, während die einstweilen zu den Zentralbanken gewechselten Funktionäre von Goldman Sachs europaweit „Maßnahmen“ verordnen, die den Regierungen helfen sollen, das Vertrauen der Märkte wiederzugewinnen. Die Staaten finden zusehends Wohlgefallen an ihrem neuen Operationsmodus „multiple Krise“. Dieser Modus nämlich erlaubt es ihnen, kleinliche Einwände des Souveräns zu ignorieren und sich auf das Kerngeschäft der Machtsicherung zu begrenzen, auf innere und äußere „Sicherheit“. Wer da wogegen gesichert wird, fragt ohnehin keiner mehr. Was zählt der Ruf nach Demokratie, wenn alle Horizonte von drohender Denormalisierung umstellt sind?

    Und wo bleibt der Widerstand? Nun, solange unser Historiker allein die gedruckten publizistischen Quellen sichtet, wird er sich vor lauter Widerstand kaum retten können. Das gedruckte Wort ist so radikal wie selten zuvor. Da gibt es Anleitungen zum Widerstand (Welzer 2013) und dramatisch inszenierte Alternativen zwischen „Kapitalismus ohne Demokratie“ und „Demokratie ohne Kapitalismus“ (Streeck 2013). An Vorschlägen, wie die nach oben wegdelegierte Volkssouveränität an ihre ursprünglichen Inhaber zurück gelangen könnte, fehlt es keineswegs (Dahn 2013). Und manche Autoren fragen bang und hilflos: „Wo bleibt der Widerstand?“ (Wehler 2013: 55). Sollte nämlich unser Historiker (wie jeder gute Historiker) aber von den publizistischen Quellen in die Welt der wirklichen politischen Handlungen hinüberwechseln wollen, so fände er dort: nichts. Keine machtvollen Kundgebungen der Gewerkschaften, schon gar keine Aktion der politisch und ökonomisch Marginalisierten. Eine wirksame öffentliche Verteidigung demokratischer Prinzipien gegen ihre Usurpation durch das Bündnis von Staat und Finanzmarkt hat in Deutschland in den letzten Jahren nicht stattgefunden.

  2. Qui tacet consentire videtur (Wer schweigt, erweckt den Anschein zuzustimmen). Das ist ein ehrwürdiger römischer Rechtsgrundsatz. In der Mediendemokratie ist schweigen keine Option, es geht in jeder Minute um Aufmerksamkeitspolitik, um eine Nachricht, die ein möglichst großes Publikum erreicht und dessen Aufmerksamkeit bindet. Dass der Widerstand publizistisch allgegenwärtig, politisch aber inexistent ist, das darf man unter den gegebenen Verhältnissen erwarten. Man darf bloß beides nicht verwechseln.

    Die Mediendemokratie legt nämlich den Schluss nahe: Wenn alles gesagt werden kann, ist auch alles gut. Die Meinungsäußerung sieht auf den ersten Blick so aus, als sei sie schon die politische Aktion, die sie ankündigt und ersetzt. Aber sie ist es nicht. Alles Reden von Widerstand ist darum noch kein Widerstand. Der Graben zwischen öffentlicher Rede und politischer Aktion wird in der Mediendemokratie immer tiefer. Nie war der Weg zwischen publizistischen Aufrufen zum Widerstand und politisch widerständigem Handeln weiter. Wer schweigt, indem er nicht mehr zu den Wahlen geht, macht sich eher verdächtig, nicht zuzustimmen, als einer, der am folgenlosen Spiel der medialen Empörung teilnimmt.

    Zu den Grundsätzen einer wirklichen Demokratie gehört, was Hannah Arendt über das Verhältnis von Dissens und Konsens in einem freien Staat notiert: „jemand, der weiß, dass er widersprechen kann, weiß auch, dass er gewissermaßen zustimmt, wenn er nicht widerspricht“ (Arendt 1986: 147). Das jederzeit widersprechen können ist der Kern der Demokratie, nicht das Wahlritual. Wenn unsere Gazetten (was sie ja sehr gerne tun!) über Demonstrationen und zivilen Ungehorsam aus den Ländern der „unteren Normalitätsklassen“ berichten, welche die Kapitalraison als unfrei (gemeint ist da stets: unfrei bezüglich der unbegrenzten Verwertungsfreiheit des Kapitals) kodieren, dann setzen sie das ganz selbstverständlich voraus. Natürlich sind die Aktionen der russischen „Demokratiebewegung“ legitim und die der syrischen Opposition erst recht. Und wenn die türkische Opposition radikalen zivilen Ungehorsam praktiziert, dann sind die Journale auch dann begeistert, wenn Gesetze missachtet werden. Aber hierzulande?

    Der allgemein unterstellbare demokratische Konsens (so fährt Hannah Arendt fort) schließt ja nicht von selbst bestimmte Gesetze, deren aktuelle Auslegung oder gar eine bestimmte Politik ein, auch dann nicht, wenn sie durch Wahlen und parlamentarische Mehrheiten legitimiert sind. Der Skandal der deutschen Atompolitik besteht z.B. darin, dass auch 40 Jahre ziviler Ungehorsam die gewählten Partien und Politiker nicht dazu bringen konnten, ein Problem zu lösen, dass nach allen Regeln der politischen Verantwortung vorab hätte gelöst werden müssen: das der Endlagerung von Atommüll.

    Die Praxis der massendemokratischen Parteien ist in diesen Dingen einfach: Im macht- und wirtschaftspolitischen Kerngeschäft demonstriert man Souveränität und „Führung“ und gibt keinen Zipfel der strategischen Entscheidungen aus der Hand, in den Feldern der Symbolpolitik reagiert man demonstrativ auf Außendruck, beschäftigt den Souverän und lässt ihn gerne wissen, dass er es ist. In Frankreich mobilisiert die Gleichgeschlechtlichenehe ein enormes Aktions- und Widerstandspotential, während der Krieg in Mali oder die Finanzkrise der Regierung dazu dienen, „Führung zu demonstrieren“. In den hoch moralisierten Themen, die der Altkanzler Schröder einst als „Gedöns“ verspottete, wird demonstrativ Demokratie gespielt. Dass Frauen in den Aufsichtsräten der großen Konzerne unterrepräsentiert sind, scheint viel wichtiger zu sein, als dass sie nach wie vor für gleiche Arbeit ein Drittel weniger Lohn bekommen.

    Zu keiner Zeit hat die Macht in der Massen- und Mediendemokratie zu fürchten, was gedacht und geschrieben wird. Sucht sie schon das zu unterbinden, steht es gewöhnlich schlecht um sie. Immer fürchten muss sie dagegen, was (im emphatischen Sinne des Wortes) getan wird, nicht von einzelnen, sondern im Namen eines Bevölkerungsanteils, der sich nicht mehr „repräsentiert“ fühlt. Es ist gemeinsames Handeln, durch das Macht begründet und gestürzt wird.

    Wo aber wären die sozialen Bewegungen, die so ziemlich alles erkämpft haben, was an sozialen und demokratischen Errungenschaften des Landes nennenswert ist, wenn sie auf die Waffen des zivilen Ungehorsams verzichtet hätten?

  3. Wäre es nicht besser, die Regierung löste das Volk auf und wählte sich ein neues? Fragt Brecht angesichts der Ereignisse am 17. Juni 1953 in der DDR. Die Deutungen dessen, was da geschah, schwanken bis heute zwischen „Volksaufstand“ und „Konterrevolution“. Gleich, wie man sich in dieser Opposition entscheidet, die Logik des zivilen Ungehorsams hat Brecht jedenfalls verstanden. Auch delegierte Macht bleibt immer in der Hand des Souveräns, der sie delegiert hat. Die Gewählten können sich nicht einfach neue Wähler suchen. Aber die Wähler haben immer das Recht, sich neue Repräsentanten zu suchen. Akte des zivilen Ungehorsams weisen stets auf diesen Umstand hin. Sie sind Erklärungen des Anspruchs auf Wiederaneignung delegierter Macht und Souveränität – durch den, der Souveränität delegieren, aber nicht aus der Hand geben darf.

    Es ist inzwischen ein offenes Geheimnis, dass die auf der Vorderbühne als alternativlos-siegreich gefeierte Demokratie hinter den Kulissen der glitzernden Konsumfassade bekämpft und gefürchtet wird. Die ideologischen Wortführer des neoliberalen Putsches haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie demokratische Staaten als Schranken der grenzenlosen Kapitalfreiheit ansehen. Im kleinen Kreis (und nicht nur da) gilt der demokratische Staat als konfiskatorisches Monster, das ausgehungert werden muss. Die Einsetzung und Beratung blutiger Diktaturen (von Hayek hat die wirtschaftspolitische Hand des Massenmörders Pinochet in Chile geführt) ist kein Betriebsunfall, sie hat Methode, und niemand sollte so naiv sein zu glauben, dass „die Märkte“ auch nur einen Zipfel der ihnen zugeschanzten (und zugefallenen) Macht kampflos aufgeben werden – bloß weil es parlamentarische Mehrheiten gegen ihre Vertreter gibt.

    Mit viel Verständnis wurde in der FAZ neulich ein Büchlein besprochen, dessen Autor sich dafür aussprach, Staatsbediensteten und Transferempfängern das Wahlrecht zu entziehen, weil ihr Lebensunterhalt als staatliche „Bestechung“ und Stimmenkauf zu werten sei. Als die griechische Bevölkerung über die „Rettung“ ihres Landes (sprich: über eine fortdauernde Gewinngarantie für die Gläubiger des Landes) abstimmen sollte, galt das als unerhört, und der Urheber des Vorschlags verschwand schnell von der politischen Bühne. Die neuen Machthaber sind dabei, Brechts Vorschlag in die Tat umzusetzen: Sie wählen sich ein neues Volk, wie sie es brauchen. Es ist das (längst internationalisierte) Volk ihrer Gläubiger, ihm fühlen sie sich verpflichtet, ihm garantieren sie die Verzinsung seines privaten Reichtums, indem sie zugleich der Masse der Bevölkerung, dem verfassungsmäßigen Souverän, alle Mitwirkungsmöglichkeiten abschneiden. Alle Staatsschulden sind zugleich privater Reichtum. Und wenn die Gläubiger um ihren Reichtum (bzw. um dessen Verzinsung) fürchten, dann zögern die Staaten nicht lange mit der Enteignung des alten zugunsten des neuen Souveräns.

    Ein zusehends beliebtes Deutungsmuster (z.B. bei Streeck 2013) besagt, dass der „Schuldenstaat“ eingeklemmt und zerrissen sei zwischen den Loyalitätspflichten gegen den Souverän, gegen seine Bürger, und den Verpflichtungen gegenüber seinen Gläubigern, den berühmten Märkten. Das klingt gut und weckt womöglich sogar Mitgefühl mit dem armen Staat! Doch das ist nicht am Platz. Der demokratische Staat hat die wirtschaftlichen Verhältnisse so zu ordnen, dass sie seinen Bürgern zum Wohl gereichen – nicht den Märkten und ihren Finanzakteuren. Und wenn er diese zum Wohle der Bevölkerung entmachten muss, dann sollte er es besser tun. Keine Verfassung sieht besondere staatliche Loyalitätspflichten gegenüber Banken und Finanzmarktjongleuren vor.

    Dem Beobachter drängt sich freilich der Eindruck auf, die freundschaftlichen Bande zwischen den Eliten der Politik und der Finanzwirtschaft seien eher noch enger geworden, seit die Letztere das Staatsmonster auszuhungern gedenkt. Offenbar haben die neoliberalen Finanz- und Politikeliten längst erkannt, dass sie in einem Boot sitzen, in einem Boot zudem, das durch jede Form von gelebter Demokratie und Partizipation rasch zum Kentern gebracht werden kann. In Island, dem wohl einzigen land, das seine Verhältnisse nach der Finanzkrise demokratisch in Ordnung gebracht hat (übrigens „angespornt“ durch massive und andauernde Akte des zivilen Ungehorsams), haben „die Märkte“ nichts mehr zu melden, und die politischen Eliten, die ihnen das Land ausgeliefert haben, sind ersetzt oder „bekehrt“.

  4. Diskursiv wirkt jede einvernehmlich diagnostizierte „Krise“ als Selbstermächtigung der Machtakteure. Wenn „Krise“ gespielt wird, sind immer auch unkonventionelle (sprich: undemokratische) Handlungen legitim. Krisen erfordern schnelles und entschlossenes Handeln. Mit jeder neuen Drehung der Krisenschraube können demokratische Standards weiter gesenkt werden. Der politische Operationsmodus „Krise“ ermöglicht die ratenweise Einführung des Ausnahmezustandes, per Salamitaktik gewissermaßen. Wie vollkommen der Krisenzustand mittlerweile von Finanzmarktakteuren definiert wird, ist unschwer an den hektischen Staatsaktionen zu erkennen, die es auslöst, wenn Moody´s (oder eine andere große Ratingagentur) hüstelt. Und wenn die Bevölkerung aufmuckt: Für den Ausbau der „Sicherheitskräfte“ hat auch der Schuldenstaat immer noch hinreichend Mittel. Nur massiver ziviler Ungehorsam kann das Pingpongspiel zwischen Staaten und Märkten unterbrechen.

    Das Recht auf zivilen Ungehorsam wird nicht gewährt. Man muss es sich nehmen. Und nur wenn man es sich nimmt, gibt es eine Chance, die expansive Selbstermächtigung des Staates zu begrenzen, die jeden Vorfall verwendet, um die Pflöcke der „Sicherheit“ immer noch ein Stückchen weiter vorne einzuschlagen. Die massive Kriminalisierung von antifaschistischen Demonstranten in Sachsen und die flächendeckende Abhörung von Millionen Mobiltelefonen während einer Anti-NPD-Demonstration in Dresden geben einen Vorgeschmack darauf, dass bereits die Wahrnehmung elementarer Verfassungsrechte kriminalisiert werden kann. Die Geheimdienstskandale der letzten Wochen zeigen, dass niemand vor dem durchgeknallten Sicherheitsstaat sicher ist. Der Sicherheitsstaat schützt das Demonstrationsrecht nur, solange er selbst es ist, der zum „Aufstand der Anständigen“ bläst.

    Die multiple Krise, welche unseren immer noch weitgehend „normalen“ Alltag blickdicht umstellt, lehrt einmal mehr die pragmatische Plastizität und Dehnbarkeit politischer Wertbegriffe. Der spanische Staat hat es zuwege gebracht, einen Streik der Fluglotsen zum Anlass zu nehmen, den Staatsnotstand zu erklären, weil mit der Reise- und Bewegungsfreiheit der Bevölkerung ein Grundrecht tangiert sei: das Grundrecht auf Reise- und Bewegungsfreiheit. Nach dieser Logik wäre beinahe jeder Streik und jede Demonstration verfassungswidrig. Ein zusehends beliebtes Spiel der Behörden besteht in der stereotypen Wiederholung der „Sorge“, politische Manifestationen könnten die „Sicherheit“ der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigen oder gefährden. Die somit gebotene massive Polizeipräsenz bestätigt diesen Eindruck gerne, und damit schließt sich der Kreis.

    Wer die wortradikale politische Publizistik der multiplen Krise sichtet, der wird den Eindruck nicht los, dass es vornehmlich die Brandstifter sind, die augenblicklich am lautesten nach der Feuerwehr rufen. Wolfgang Streck (2013), der uns vor die Alternative „Kapitalismus ohne Demokratie“ oder „Demokratie ohne Kapitalismus“ stellt und der die Unvereinbarkeit von demokratischen Prozeduren und Finanzmarktkapitalismus konstatiert, ist, um es vorsichtig zu formulieren, an der „Entfesselung“ der Finanzmärkte unter der Regierung Schröder nicht ganz unbeteiligt gewesen. Frank Schirrmachers (2013) kulturkritische Erzählung von den kriegerischen Finanzmarktalgorithmen, die dabei sind, uns nach ihrem Ebenbild zu formen, wirft ebenfalls die Frage auf, ob seine Zeitung, die FAZ, in dieser Sache auf dem Gas oder auf der Bremse gestanden hat. Nach der massenmedialen Meinungs- und Aufmerksamkeitslogik ist die Sache klar: Die hegemoniale Publizistik tut alles, um die Deutungsmacht auch des oppositionellen Geschehens in den eigenen Händen zu halten. Nur medial unkontrollierte Gegenöffentlichkeit ist ein möglicher Kristallisationskern für veritable Gegenmacht und für politisches Handeln. Solange die mediale Deutungsmaschine unverzagt weiter läuft, ist mit Gegenmacht nicht zu rechnen. Erst wenn die Meinungsmaschinen zu stottern beginnen, wenn ihre Routinen und Automatismen unterbrochen werden, wird es politisch interessant. Und unterbrochen werden sie durch massenhafte Akte des zivilen Ungehorsams.

    Ziviler Ungehorsam entsteht, wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, dass entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offen stehen bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder dass im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft.

    (Arendt 1986: 136)

    Entweder ist die allgegenwärtige Postdemokratie-Diagnose blühender Unsinn oder es ist vollkommen unverständlich, dass niemand gegen die marktkonforme Schrumpfdemokratie mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams zu Felde zieht. Wenn die Diagnose stimmt, ist ziviler Ungehorsam weit mehr als eine exotische Option. Es ist dann nämlich der Artikel 20 des Grundgesetzes, der in den Blick rückt. Auch das Demokratieprinzip gehört zu den so geschützten Grundrechten. Exemplarische Regelverletzungen, öffentlich begangen mit dem Ziel, die Recht- und Verfassungsmäßigkeit politischer Entscheidungen und Aktionen zu überprüfen – das ist der harte Kern des zivilen Ungehorsams. Historiker sollten wissen, dass so gut wie alle Errungenschaften der Demokratie (vom Streikrecht über das Wahlrecht bis zur rechtlichen Gleichstellung der Schwarzen in den USA) nicht von Parlamenten gewährt, sondern durch zivilen Ungehorsam erkämpft worden sind.

  5. Dass es sich beim Recht auf zivilen Ungehorsam um eine Art Gewissensprivileg des einzelnen Bürgers (analog etwa dem Recht auf Verweigerung des Kriegsdiensts) handele, hat Hannah Arendt (1986) bereits ausführlich und schlüssig widerlegt. Das Gewissen ist privat, ihm geht es einzig um das „Heil“ des Selbst, der zivile Ungehorsam verweist ganz im Gegensatz dazu auf den öffentlichen und politischen Charakter eines Problems. Ziviler Ungehorsam zielt gegen die klandestine Aktion, die Absprache im Hinterzimmer, die Verlegung folgenreicher Entscheidungen in informelle und demokratisch nicht legitimierte Zirkel, die Drapierung interessierter Machtentscheidungen als „Sachzwänge“, kurz: gegen alles, was die Demokratie zur Postdemokratie macht, aber offenbar die lethargische Öffentlichkeit viel weniger aufregt, weil sie es für „normal“ nimmt. Diese Diskrepanz wird durch zivilen Ungehorsam skandalisiert. Je mehr die faktische Ausübung der Macht sich in postdemokratische Räume zurückzieht, desto mehr wird ziviler Ungehorsam zum „Leuchtturm der Demokratie“ (Peter Grottian).

    Rabulistisch ist die These, im Wort „Ungehorsam“ liege ein Nicht-Tun, eine Verweigerung und ergo eine Festlegung auf passiven Widerstand. Ein politischer Begriff bedeutet niemals das, was er im Sprachsystem bedeutet. Eine Veranstaltung stören, den öffentlichen Raum in Anspruch nehmen, eine Straße blockieren, all das sind Aktionen, die nicht an sich ziviler Ungehorsam „sind“, die aber zum zivilen Ungehorsam werden durch den politischen Konflikt, auf den sie die Aufmerksamkeit lenken. Die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist aus konsequentialistischer Sicht – welche sich für die Bewertung von Aktionen des zivilen Ungehorsams eignet – obsolet. Tun und Unterlassen werden als bewusste Handlungen in politischen Aktionen miteinander verschmolzen, das Unterlassen kann mächtiger wirken als eine aktive Handlung.

    Die organisierte Verhinderung von Zwangsräumungen, die sich nicht nur in Spanien ausbreitet, wo die Krise in der Hauptsache ein finanzkapitalistisch überhitzter Bauboom ist, mag als Beispiel dienen. Da nimmt das geltende „Recht“ Abertausenden die Wohnungen weg, für die sie bereits beträchtliche Zahlungen geleistet haben. Die Wohnungen gehen an die Banken, die sie nicht brauchen, die aber sowohl den Boom als auch die Krise zu verantworten haben. Und die zudem mit den Milliarden der Steuerzahler ständig „gerettet“ werden wollen. Dieses Ensemble von bauboombedingten gigantischen Leerständen, permanenten Zwangsräumungen von Bürgern, die ihre Hypothekenzinsen nicht mehr bezahlen können, und staatlicher Bereicherung des Bankensektors aus der Steuerkasse dürfte mit einigem Recht die Frage aufwerfen, wen eigentlich die Regierung repräsentiert. Wir kennen kaum jemanden, der die aktive Verhinderung von solchen Zwangsräumen verwerflich fände, obwohl sie rechtswidrig sind.

    Das Ziel des Zivilen Ungehorsams muss demnach nicht darin bestehen, auf ein bestehendes Recht hinzuweisen und es einzufordern, sondern kann auch die Rechtslage in Frage stellen – oder gar den Hintergrund aufzeigen, vor dem das Regieren mit ungerechten Gesetzen erst möglich ist. Ziviler Ungehorsam hat eben auch die Aufgabe, Skandale öffentlich zu machen, wenn die Massenmedien es vorziehen, das Publikum anderweitig zu unterhalten. Und was den politischen Erfolg betrifft: die spanische Regierung hat bereits zaghaft begonnen, das Zwangsräumungsrecht zu revidieren. Glaubt irgendjemand, das hätte sie auch von sich aus und ohne den massiven zivilen Ungehorsam getan? Und wer bitte soll bekannt machen, dass die Deutsche Bank als größter slum lord in Los Angeles mit Wohnungsspekulation, Zwangsräumungen und Verfallenlassen ganzer Straßenzüge nicht wenige der von Ackermann stolz präsentierten Milliarden „erwirtschaftet“ hat?

    Mit einiger Zwangsläufigkeit schließt sich an Aufrufe zum zivilen Ungehorsam der Vorwurf der rechtswidrigen Gewaltbefürwortung an. Zuletzt hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen einige Hundert Unterzeichner des Papiers eröffnet, das anlässlich eines weiteren Atommülltransports nach Gorleben im Jahr 2010 dazu aufrief, die Gleise auf der Transportstrecke zu „schottern“. Gegenwärtig laufen noch etliche Prozesse. Auch das ist ein Spielzug im krisenmodusbedingten Pingpong zwischen Bürgerbewegungen und staatlichen Sicherheitsapparaten. In diesem Spiel agiert die Exekutive eskalierend, einschüchternd, und die Rechtsprechung dämpfend.

    Erfahrungsgemäß ist die Angst vor Ermittlungsverfahren und Verurteilungen die höchste Hürde, die potentiell „ungehorsame“ Bürger überwinden müssen. Das ist auch kein Wunder, da das Internet zwar den gläsernen Bürger, nicht aber den gläsernen Staat installiert hat, so dass Ermittlungsverfahren, Anklagen und Verurteilungen auch in Angelegenheiten, welche die politischen Freiheiten betreffen, leicht zum bürgerlichen und beruflichen Tod der „Delinquenten“ führen können. Beziehungsweise bei jungen Leuten dazu, dass ihnen der Eintritt ins bürgerliche Berufsleben gar nicht erst eröffnet wird.

    Das jedenfalls sind die Befürchtungen, mit denen zu rechnen ist. Sie nehmen den Platz ein, den die Angst vor dem Berufsverbot für die letzte Generation hatte. Überdeutlich ist ja, dass es eines politischen Berufsverbots heute gar nicht mehr bedarf, wenn mit einem Mausklick zu ermitteln ist, welche Aufrufe man unterschrieben und wo jemand sich in der Vergangenheit politisch exponiert hat. Es sind aber durchaus merkwürdige Konsequenzen, die aus dieser Konstellation gezogen werden. Einmal heißt es, Organisationen wie attac (oder gar Parteien wie die Linke) dürften nicht zu Aktionen des zivilen Ungehorsams aufrufen, weil sie damit ihre Mitglieder und Anhänger unverantwortlicherweise zu Rechtsbrechern machen könnten.

    Das Gegenteil ist der Fall. Wenn solche Organisationen zum zivilen Ungehorsam aufrufen, sorgen sie dafür, dass Individuen, die dem Aufruf folgen, nicht so leicht als „Rechtsbrecher auf eigene Rechnung“ abgestempelt werden können. Dass jeder für sich selbst entscheiden muss, ob er/sie an einer Aktion des zivilen Ungehorsams teilnimmt, bleibt davon völlig unberührt und versteht sich von selbst. Für seine Handlungen ist man immer verantwortlich, und dass man nicht immer genau weiß, was aus den eigenen Handlungen folgt, gehört nicht nur im zivilen Ungehorsam zum Leben.

    Es braucht keine Prophetie, um vorherzusagen, dass sich im Umfeld der diesjährigen bloccupy-Aktionen (ganz ebenso wie schon im letzen Jahr) der Streit um den zivilen Ungehorsam erneut entzünden und hoffentlich intensivieren wird.

Literatur

  • Arendt, Hannah (1986 [1970]): „Ziviler Ungehorsam“. In: Zur Zeit. Politische Essays. Berlin: Rotbuch. S. 119-160 (zuerst 1970 im New Yorker).
  • Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Dahn, Daniela (2013): Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt. Reinbek: Rowohlt.
  • Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
  • Wehler, Hans-Ulrich (2013): „Die Explosion der Ungleichheit“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2013, S. 47-56.
  • Welzer, Harald (2013): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt/M.: Fischer.

[«*] M.A. Anna-Lena Dießelmann ist Lecturer im Fachbereich Germanistik an der Universität Siegen
Clemens Knobloch lehrt Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte u.a. Öffentliche und politische Kommunikation

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